Höre Israel zu! - Predigt zu Mk 12, 28-34 von Anne-Kathrin Kruse
12,28-34

Auf wackligen Beinen

 

Auf wackligen Beinen stehen wir vor Gott 
an diesem Israelsonntag 2025.
Nein – der Name dieses Sonntags 
hat ursprünglich nichts mit dem Staat Israel zu tun.
Und doch können wir kaum absehen 
von der Katastrophe seit dem 7. Oktober 2023
in Israel, auf der Westbank und dann im Gazastreifen.
Die Bilder von den Opfern der Hamas in Israel sind unerträglich.
Und das Leiden hört nicht auf.
Die Bilder der Steinwüsten zerstörter Häuser in Gaza,
gehen tief ins Herz und lassen keine Ruhe.
Und das Leiden hört nicht auf.
Es gibt keine Gewissheiten.
Alles wankt.
Der Frieden in der Welt wankt.
Das Miteinander der Menschen wankt.
Die eigenen Beine bringen uns aus dem Gleichgewicht.
Auch die, die meinen, sie könnten aus sicherer Entfernung 
über „die Guten“ und „die Bösen“ urteilen,
haben keinen festen Grund unter den Füßen.
Wir sehnen uns nach Frieden.
Und wissen nicht, wie er kommen kann.

 

Blick in den Abgrund

 

Um das Gottesvolk der Jüdinnen und Juden geht es heute. 
Darum, dass wir uns an die tiefen jüdischen Wurzeln 
unseres christlichen Glaubens erinnern.
Judentum und Christentum – fast wie Schwestern – 
so nahe sind sich die beiden.
Unser christlicher Glaube an den einen Gott Israels, 
an den Juden Jesus, 
die Bibel, von Juden verfasst, das Alte wie das Neue Testament,
unser Gottesdienst – 
all das verdanken wir dem Judentum.

 

Zugleich geht ein tiefer Riss durch unsere gemeinsame Geschichte.
Wer immer wieder über Steine stolpert – 
kleine Messingschilder im Gehweg zum Gedenken –
mit Namen und der Bemerkung „ermordet“,
wer einmal das Wasser des Schwedt-Sees in Ravensbrück
in der Sonne blinken sieht, 
in den die SS-Mannschaften die Asche gekippt haben, 
der schaut in den Abgrund christlicher Judenfeindschaft.
Dem schwanken wahrscheinlich nicht nur die Beine.
Da werden die Knie weich, das Gleichgewicht versagt
angesichts dieses monströsen Verbrechens,
das letztlich nicht zu begreifen ist.
Und es hört nicht auf.
Jüdinnen und Juden heute sind in Deutschland nicht sicher 
vor Anfeindungen und Bedrohungen.
Auch wenn sie Deutsche sind und niemals in Israel gelebt haben, 
auch wenn sie gar aus Protest Israel verlassen haben,
werden sie höchstpersönlich für das Handeln der israelischen Regierung
verantwortlich gemacht.
Jeder Israelsonntag hat es mit diesem Abgrund zu tun.

 

Auf einem Bein

 

Trotzdem gehören Christen und Juden zusammen.
Aber wie?


Und es trat zu ihm einer von den Schriftgelehrten.
Er hatte gehört, wie sie miteinander diskutierten, 
und hatte bemerkt, dass Jesus Fragen gut beantwortete. 
Er fragte ihn: „Welches ist das wichtigste Gebot von allen?“ 
Jesus antwortete ihm: „Das wichtigste Gebot ist: Höre, Israel! 
Der EWIGE, unser Gott, ist der Herr allein; 
so liebe den Herrn, deinen Gott, von ganzem Herzen und Verstand, 
mit jedem Atemzug, mit aller Kraft, 
und du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. 
Kein anderes Gebot ist größer als diese zwei.“

 

Dies ist kein christlich-jüdisches Gespräch.
Hier sprechen zwei jüdische Gelehrte miteinander, 
die sich in ihrer Heiligen Schrift, der Tora, bestens auskennen.
Ähnlich der Geschichte, 
als jemand zum großen Gelehrten Hillel kommt
und ihn bittet, ihn die ganze Tora zu lehren, 
während er auf einem Bein steht.
„Worauf kommt es an im Leben? 
Kannst du all die Geschichten und Gebote 
in einem Satz zusammenfassen?
Bitte sag’s mir, kurz und bündig, so knapp, 
solange ich auf einem Bein stehen kann!“
Hillels geduldige Antwort: „Was dir verhasst ist, 
das tue auch deinem Nächsten nicht. 
Das ist die ganze Tora, alles andere ist Auslegung. 
Geh und lerne!“

Auch der Gesprächspartner Jesu kommt gleich zur Sache.
„Was ist das höchste, das wichtigste Gebot?“
Eine echte Frage, keine Fangfrage, 
kein Versuch, Jesus irgendwie auf’s Glatteis zu führen.
Was antwortet Jesus?
Er zitiert aus der Tora: Höre, Israel!
Das erste Wort des wichtigsten Gebotes heißt nicht Glaube!
Auch nicht Lern erstmal was!
Es beginnt mit dem Hören.

Es heißt Höre, Israel!  - 
und ist das Herzstück des jüdischen Glaubens.
Hier schlägt das Herz Israels – auch das Herz Gottes.
Als wenn man einem Liebespaar zuhört, 
wie es miteinander spricht, vielmehr flüstert.
Und das unbestimmte Gefühl kommt auf,
dass es ungehörig ist, diesen intimen Augenblick zu stören.
Wie magst Du, Jesus, diese Sätze gesprochen haben…?
Laut deklamierend –
oder eher flüsternd mit den Händen vor den Augen…?

 

Auf zwei Beinen 

 

Der EWIGE, unser Gott, ist der Herr allein.
Ganz Ohr sein für die eine Stimme Adonajs, Gottes,
die aus der Sklaverei ruft,
die das Glück der Gebote lehrt, 
den Glanz der Schöpfung besingt,
die das Herz fröhlich macht und die Traurigen tröstet.
So liebe den Herrn, deinen Gott, von ganzem Herzen und Verstand, 
mit jedem Atemzug, mit aller Kraft…
Wer Adonajs Stimme hört, bekommt Herzklopfen.
Sehnt sich nach dem Geliebten, einzig und allein,
seinen Willen zu tun und zu verstehen.
Spürt: ich bin gemeint!
Sie redet mich an, diese Stimme, segnet mich. 
Mich und mein ganzes Volk!
Wer von ihr beseelt ist, 
freut sich über alles Gute im Leben,
schüttet auch sein Herz aus, 
weint sich aus mit seiner Angst und Schuld
mit all den ungereimten Sehnsüchten, muss nichts zurückhalten…
Diese Stimme der Liebe gibt 
dem ganzen jüdisch religiösen Leben seinen Rhythmus.
Im Sitzen oder Gehen, Schlafen oder Aufstehen,
zum Morgengebet und am Abend, in jedem Gottesdienst.
Sie hat ihre Merkzeichen beim Gebet 
in einem kleinen Kästchen auf der Stirn,
in den Gebetsriemen am Arm gegenüber dem Herzen
und an den Türen jüdischer Häuser und Wohnungen.
Die große Liebe zu Gott macht nicht blind. 
Sie öffnet die Augen für den Sinn des Lebens
Kinder lernen im Höre, Israel! 
zum ersten Mal auf diese Stimme zu hören.
Es ist das letzte Gebet der Sterbenden.
Und am Grab ruft man es ihnen ein letztes Mal nach.
Mit dem Höre Israel! auf den Lippen starben jüdische Märtyrer 
für ihren Glauben.

 

Um unter Gottes höchstem Gebot durchs Leben zu gehen, 
kommt es nicht auf Schnelligkeit und Kürze an.
Ein Bein reicht nicht.
Es braucht beide Beine:
Untrennbar verbunden mit dem Höre, Israel! 
ist die Liebe zu den Menschen.
Auch keine Erfindung Jesu. 
Sie stammt ebenfalls aus der Tora, 
die Gott seinem Volk geschenkt hat.
Offenbar kann es sein Glück nicht für sich behalten, 
muss es weitergeben an Andere.
Liebe deinen Nächsten – wie dich selbst.
Oder wie es wörtlich heißt: denn er ist wie du –
Gottes Geschöpf mit der gleichen Würde.
Mit dem gleichen Anspruch auf ein Leben in Frieden und Sicherheit.

 

Nicht die großen Gefühle sind gefragt.
Nächstenliebe – das sind ganz unspektakuläre Liebeserweise:
wie beim barmherzigen Samariter der Blick für die Not,
der er nicht ausweichen kann.
Das Notwendige tun, die Wunden behandeln,  
Notfallseelsorge bis zur nächsten Herberge, 
den „Pflegesatz“ begleichen.
Handgriffe, die überall da gefragt sind, 
wo Menschen ausgeliefert sind:
das Naheliegende tun für die, 
die mir buchstäblich vor die Füße gelegt sind.

 

Mit festen Knien

 

Zwei jüdische Gelehrte erinnern sich gegenseitig 
an das Herzstück ihres Glaubens.
Da herrscht ein ganz tiefes Einverständnis, das fraglos ist.
Jesus, der die Nähe des Gottesreiches ansagt 
und an die Grundlagen des jüdischen Glaubens erinnert, 
bescheinigt dem anderen Schriftgelehrten:
Du bist nicht fern vom Reich Gottes!
Mehr geht nicht!

 

Und was ist mit uns Christen?
Das wichtigste Gebot Höre, Israel! meint ja eben Israel und nicht uns.
Für uns Christen heißt das zuerst Höre Israel zu!
In Jüdinnen und Juden das Angesicht Gottes entdecken – 
sie sind genauso wie ich ein Ebenbild Gottes.
Du kannst nicht den Gott Israels, den Vater Jesu Christi, lieben,
und seinem Volk die Treue Gottes absprechen,
es missionieren wollen oder verfolgen.


Sich an die Seite der jüdischen Opfer zu stellen, 
bedeutet aber nicht, die palästinensischen Opfer zu verhöhnen.
Gott zu hören, heißt:
beide Seiten hören und zu ihrem Recht kommen lassen,
das Lagerdenken aufgeben
und sich an die Seite aller Opfer stellen,
nicht Recht haben müssen, 
Widersprüche zulassen,
denn Gegensätzliches kann beides wahr sein.
Doppelt solidarisch sein,
den Mut haben zuzugeben, 
Vieles im Nahen Osten nicht zu wissen und zu verstehen.
Es reicht auch, sich von dem Leid berühren zu lassen,
ohne gleich eine Meinung zu haben.
Der Versuchung widerstehen, 
sich durch Kritik an der israelischen Politik
von deutscher historischer Schuld zu entlasten.
All das ist anstrengend und kostet auch etwas.
Aber es trägt zum Frieden bei – 
wenigstens in der Debatte hier in Deutschland.

 

Noch immer stehen wir mit wackligen Beinen vor Gott.
Aber es gibt eine wunderbare Verheißung für Jüdinnen und Juden –
und durch Jesus Christus auch für uns:
Stärkt die müden Hände und macht fest die wankenden Knie!
Sagt den verzagten Herzen: Seid getrost, fürchtet euch nicht!
Seht, da ist euer Gott!
Der Weg zum Frieden ist weit.
Aber Du, Gott, gehst an unserer Seite
und stützt uns.

 

Amen.

Vier Fragen zur Predigtvorbereitung an Anne-Kathrin Kruse

1.          Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?

Leider liegt der Israelsonntag in den meisten Bundesländern in den Ferien. Dennoch birgt er die Chance, über das schwierige christlich-jüdische Verhältnis nachzudenken. Umso dringlicher ist das Nachdenken allerdings angesichts des wachsenden Antisemitismus auch und gerade unter Kirchenmitgliedern in Zeiten des Nahostkrieges geworden. 

Dazu bietet sich an, möglichst lokale Gedenkstättenarbeit einzubringen.

2.          Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?

Der Metapher „auf wackligen Füßen“ von Ann-Kathrin Hasselmann, Liturgievorschlag zum Israelsonntag 2025, Verlange Frieden für Israel, in: Aktion Sühnezeichen Friedensdienste e.V. (Hg.), Verlangt nach Frieden für Jerusalem,  www.asf-ev.de/veroeffentlichungen (Abruf am 26.7.2025) 16-21, verdanke ich meine Predigtidee. Sie hat mich auch in der Vorbereitung die Knie weich werden lassen.

3.          Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten? 

Angesichts der belastenden, in Teilen pauschalisierenden und spaltenden Form der Debatte zum Nahost-Konflikt sind mir das Zuhören, Nach- Fragen, das Eingeständnis, zu wenig zu wissen, v.a. aber die aktive Empathie wichtig geworden. Für das christlich-jüdische Verhältnis insgesamt gilt, sich nicht auf der Seite „der Guten“ zu wähnen, vielmehr immer neu das respektvolle Fragen, Differenzieren, lebenslange Lernen einzuüben.

4.          Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung? 

Ganz wichtig waren die Hinweise auf Insider-Wissen, das ich zu selbstverständlich vorausgesetzt habe und das es zu erläutern lohnt. Ganz herzlichen Dank an meine Coach für den wertvollen fremden Blick!

Perikope
24.08.2025
12,28-34