Der Streik der Harfen und traurige Lieder, die Mut zum Widerstand geben.
Neulich war es wieder passiert: ich hatte einen Ohrwurm. Nur weil ein Song erwähnt wurde, hing er in meinen Ohren. Ich bekam ihn nicht weg, obwohl ich ihn überhaupt nicht laut gehört hatte. Wer ihn kennt: „At the rivers of Babylon ….“ So stark ist Musik. Und es gibt Momente, da kommt mir einfach ein bestimmtes Lied in den Sinn, weil es meine momentane Stimmung ausdrückt. Und manchmal singe ich Lieder vor mich hin, in Situationen, die doch etwas unheimlich sind, so wie damals als Kind. Das mache ich manchmal im Hafen zwischen riesigen Kränen und den gigantischen Schiffen.
Eine Welt ohne Musik? Die kann ich mir nicht vorstellen. Und das, obwohl ich nicht mal besonders musikalisch bin. Aber ohne Musik zu hören, ohne Lieder zum Mitsingen oder Tanzen – oder einfach vor mich hinzusingen oder zu pfeifen? Da würde sehr viel fehlen in der Welt.
Musik kann so viel: Gefühle ausdrücken, Freude, Trauer, Fragen, Zweifel… sie kann Menschen verbinden, beim Lernen unterstützen, oder wie die Shanties, die alten Seemannslieder den Rhythmus zur Arbeit vorgeben. Und sie hilft auch, den Glauben auszudrücken. Musik kann viel. Das heißt aber auch: Musik hat Macht. Sie kann im Supermarkt unbewusst Emotionen wecken, sie kann nicht nur Mut zu Zusammenhalt und Widerstand geben, sie kann auch zu Hass aufstacheln oder Menschen lächerlich machen.
Das alles kann Musik schon seit tausenden von Jahren. Dies zeigen sehr alte Texte, auch die Psalmen der Bibel waren wohl ursprünglich Lieder.
Der Ohrwurm, den ich eben erwähnte, kam mir ins Ohr, als ich einen Psalm las, der wohl gut 2500 Jahre alt ist und entstand, als das Volk Israel im Exil in Babylonien war. Ein großer Teil des Volkes war dorthin verschleppt worden, in das Zweistromland an den beiden Flüssen Euphrat und Tigris. Heute ist dort der Irak.
Dort entstanden diese Worte:
An den Wassern zu Babel saßen wir und weinten,
wenn wir an Zion gedachten.
Unsere Harfen hängten wir
an die Weiden dort im Lande.
Denn die uns gefangen hielten,
hießen uns dort singen und in unserm Heulen fröhlich sein:
»Singet uns ein Lied von Zion!«
Wie könnten wir des HERRN Lied singen
in fremdem Lande?
Vergesse ich dich, Jerusalem,
so verdorre meine Rechte.
Meine Zunge soll an meinem Gaumen kleben,
wenn ich deiner nicht gedenke, wenn ich nicht lasse Jerusalem
meine höchste Freude sein. (Psalm 137,1-6)
Auch wenn sich das vielleicht ungewöhnlich anhört: Das ist ein Streik-Lied! Die nach Babylon verschleppten erzählen mit dem Lied, dass sie ihre Musikinstrumente an die Bäume hängten, weil die Harfen Musikinstrumente für Lieder der Freude ist und ihnen nicht danach zu Mute ist. Sie sitzen am Fluss und weinen. Sie weinen, weil sie in der Fremde an ihre Heimat denken. Und da kommen diejenigen, die sie dort gefangen halten und sagen „Singt uns ein Lied von Zion!“ - Ich kann mir vorstellen, dass sie vorher gehört hatten, wie ihre Gefangenen im fremden Lande Lieder von ihrer Heimat gesungen haben. Und das war so schön. Dann sollen sie doch mal. Nein, danach war ihnen aber nicht! Und außerdem waren es Lieder, die mit ihrem Glauben an Gott zu tun haben – die können sie nicht einfach so singen, wenn es nicht zum Anlass passt.
Und wenn ich darüber nachdenke, denke ich an Menschen in der Fremde über all die Zeiten seit dem Exil in Babylonien bis heute. Wenn andere sagen: ihr habt doch so schöne Musik, macht doch mal. Ich denke an die Rhythmen der in die Sklaverei verschleppten in Brasilien und das „Let my people go“ der Sklaven in Nordamerika. Aber auch an die Orchester in den KZs.
Und an indigene Völker, deren Rechte missachtet werden, aber die dann doch gerne schöne Musik und Tänze aufführen dürfen. Und an Menschen auf der Flucht, die in düsteren Momenten, wo unterwegs alles ausweglos scheint, Lieder der Heimat singen – und dann auch wenn sie angekommen sind in der Fremde und denen oft ein kalter Wind entgegen weht: ihr seid hier nicht willkommen. Eins, was sie dann doch manchmal dürfen, ist ihre Musik zu spielen. Das tun sie dann auch, auch dann wenn ihnen eigentlich nicht danach zumute ist.
Für all diese Menschen über die Jahrtausende steht dieses Lied in der Bibel: An den Wassern zu Babel saßen wir und weinten. Und es erinnert an alle, denen es so geht und verleiht ihnen eine Stimme. Damit hilft dieses Lied, diese Stimmung auszudrücken und wird so als ein trauriges Lied zugleich ein Lied der Hoffnung und des Aushaltens, ja des Widerstands. Dann denke ich auch an die Maids, ja sie werden in Hong Kong noch Hausmädchen genannt. Ich sah sie dort am Sonntag im Zentrum der großen Stadt. Saßen zusammen und manche sangen ihre Musik.Ich denke an den Seemann von den Philippinen an Bord, der in der Fremden Welt an Bord irgendwo im Ozean voller Inbrunst zum Karaoke den alten Song singt: At the Rivers of Babylon… und dabei an die Wasser denkt auf denen er unterwegs ist – und an die Lieder der Heimat. Das war mein Ohrwurm… - wer es nicht kennt: in den 70ern war es ein Hit von Boney M.
Und diese Lieder, das von Boney M., das der Seemann singt, und das Lied aus Psalm 137 sind traurige Lieder voller Sehnsucht. Doch gerade so steckt auch Protest darin: ich finde mich nicht ab mit dem, wie es ist. Und Kraft steckt darin. Kraft zum Durchhalten und zum Hoffen. Damit sind es auch Lieder des Glaubens. Sie verbinden die, die sich in der Ferne traurig fühlen mit dem, was Kraft und Hoffnung gibt, und damit auch mit Gott.
Amen.
1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Da ich als Generalsekretär der Seemannsmission an vielen Orten weltweit predige, habe ich keine bestimmte Gemeinde vor Augen, stelle mir aber hierfür eine Gemeinde im Vorort einer Großstadt in Deutschland vor, wo Menschen unterschiedliche Erfahrungen damit haben, mal in der Fremde gewesen zu sein. An einem Sonntag im Spätsommer.
2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Der real vorhandene Ohrwurm (ich bin schon so alt) und die angesprochenen Begegnungen in Hongkong und dass ich beim Nachdenken über den Text im Flugzeug saß und wirklich gerade über das Zweistromland flog.
3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Dass ich über die Rolle von Musik in der Fremde für Exilierte, Fremde, Seeleute noch mal ganz neu nachdenken konnte und auch zu entdecken, dass es auch ein Protest sein kann, die Harfen in die Bäume zu hängen.
4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Ich habe selbst recht lange daran rumdenken, rumkauen, vor mich hin summen und dran feilen können – und freue mich dann über die positiv konstruktive Rückmeldung dazu. So könnte ich sie auch predigen – natürlich dann live auch wieder anders (würde ich mich trauen zu singen oder zu summen?).