Wir alle Universalisten - Predigt zu Mk, 3, 31-35 von Frank Nico Jaeger
3,31-3,35

Ich kenne einen, der ist Universalist. Er heißt Sven und hat in seinem Leben schon fast alles gemacht. Sven war Bestatter, Kurierfahrer, und Rettungssanitäter. Auf den bunten Strauß an Tätigkeiten angesprochen würde Sven sagen, ich tue, was dran ist, was dem Leben dient und dabei lächeln. Sven hat in seinem Leben viel ausprobiert und festgestellt, dass er gerne mit Menschen zu tun hat. Für ihn stand früh fest, ein Job an einem Schreibtisch ist nichts für ihn. Und so hat Sven sich auf seinen Weg gemacht und sich Aufgaben gesucht, die ihn mit anderen Menschen zusammenbringen. Aufgaben, in denen er anderen helfen, ihnen zur Seite stehen kann. 

Kennengelernt habe ich Sven an einem unentschiedenen Morgen, an dem man nach dem Sommer wieder eine Jacke braucht, wenn man rausgeht. An so einem Morgen sitzen 13 Menschen im Stuhlkreis in einem Gemeindehaus. An einer Puppe werden wir gleich die Herzdruckmassage üben. Ganz so, als sei sie ein Mensch. Wir werden lernen, einen Druckverband anzulegen und Pflaster zu kleben. Einen Tag üben wir lebensrettende Basics ein. Für alle Fälle. 

13 Menschen an einem Morgen dazwischen. Zwischen Terminen und dem Alltag. Zwischen morgens die Kinder fertig machen für die Schule und dem Geburtstag der Schwiegermutter am Abend. Dazwischen treffen wir uns und lernen neu, wie man Menschen rettet. 

Einen ganzen Tag haben wir eingeplant, weil wir anderen Menschen helfen wollen können, wenn es darauf ankommt. 

Und in den Pausen erzählt Sven, unser Anleiter, von schwierigen Einsätzen im RTW. Von Situationen auf des Messers Schneide und kuriosen Erlebnissen. Er berichtet vom Scheitern und von Erfolgen. Er erzählt vom Adrenalin und von der Leere, die nach manchem Einsatz als einzige zurückbleibt. 

Warum er Rettungssanitäter geworden ist, fragt eine. 

„Mich fasziniert der Gedanke, dass es Menschen gibt, die anderen Menschen zu Hilfe eilen.“, sagt der Profi. Ein großer Gedanke. Menschen zu Hilfe eilen. Ganz egal zu wem. Ganz egal, welche Haarfarbe oder wie viele Sommersprossen ein Mensch im Gesicht hat. Ganz egal, ob der Mensch dick ist oder dünn. Klug oder doof. Klein oder groß. Es gibt Menschen, die denken außerhalb der Box. Es gibt Menschen, die weiterdenken. Es gibt Menschen, deren Sorgen nicht nur auf die eigene Familie begrenzt ist. Haben solche Leute ein größeres Herz? „Nein!“, sagt Sven. „ich bin davon überzeugt, dass es auf jeden ankommt, wenn es darauf ankommt.“ 

Ich sammle solche Sätze und es gibt einige, die mich zeitlebens geprägt haben. Einen dieser Sätze hat meine Mutter gesprochen. Immer wieder hat sie, wenn meine Schwester und ich uns gestritten haben, uns daran erinnert: „Ihr seid doch Geschwister!“ Dieser Satz lag im Erziehungsregal auf Augenhöhe und verfehlte nie seine Wirkung. Wenn wir am Ende immer noch Geschwister waren, durfte ich nicht an den Haaren meiner Schwester ziehen und sie durfte mir nicht in den Bauch treten. 

Blut ist dicker als Wasser, sagt der Volksmund. Noch so ein Satz. Und selbstverständlich hat Familie einen besonderen Wert. Sie ist bestenfalls Schutzraum. Aber sie ist eben nicht die einzige Form, die Zusammenleben möglich macht oder Sicherheit schenkt. Familie geht auch anders. 

Familie gedeiht gut, wenn sie aus Verbundenheit lebt. Und ich denke, aus Liebe heraus können Menschen fast alles geben. Menschen, die sich gerne haben, die aufeinander vertrauen, können zueinander sagen „Für dich würde ich alles riskieren.“ Eltern kranker Kinder können aus ernstgemeinter Überzeugung heraus sagen: „Ich würde mein Leben für mein Kind geben, damit es wieder gesund wird.“ So etwas kann nicht gefordert werden. So etwas ist nur möglich, weil es direkt aus dem Herzen der Beziehung kommt. Sven würde sagen, Familie muss nicht biologisch sein. Familie ist, was dem Leben dient. 

Einer, der das auch so sieht wie Sven ist Jesus. Auch Jesus ist ein Universalist. Einer, der daran glaubt, dass es auf jeden ankommt. Jesus hätte den Familiengedanken auch nicht so eng gezogen wie meine Mutter in ihrem verzweifelten Versuch, ihre Kinder nach einem Streit wieder auf die Spur zu bringen. 

Im Neuen Testament gibt es eine Geschichte, in der Jesus festhält, wer Familie ist. Wer dazu gehört. Seine Mutter und seine Geschwister stehen vor einem Haus, in dem er sich gerade aufhält und möchten ihn sprechen. Die Reaktion des Gottessohnes kommt harsch rüber: „Wer ist meine Mutter, und wer meine Brüder?“ 

Jesus ist ein Familien-Universalist. Alle Menschen sind seine Brüder, Schwestern, Mütter. Alle, die Gottes Willen tun, fasst er das zusammen. 

Blut ist dicker als Wasser? Im Jesus-Universum sind alle Familie, die nach der Maßgabe leben: Liebe ist mehr als Worte. Liebe, das sind Worte und Taten. Wer Bruder sagt, muss auch bereit sein für den anderen zum Nächsten zu werden. Sven nickt. 

Die Formen, in denen wir Familie leben sind vielfältiger geworden. Es gibt Patchwork- und Regenbogenfamilien und Alleinerziehende. Was geblieben ist, ist der Satz: Seine Familie sucht man sich nicht aus. Seine Geschwister schon gar nicht. Man streitet sich mit ihnen, manchmal sorgt man sich um sie. Mal liebt man sich, mal nicht. Sicher ist, man wird sie nicht los. Geschwister sein ist eine Aufgabe. Man ist zusammen auf dem Weg und das ist riskant. Auch wenn viele von uns Familie mit etwas positivem verbinden, Familie ist keine konfliktfreie Zone. 

Was Jesus hier anbietet, ist ein erweitertes Verständnis von Familie. Wer Familie ist, definiert er neu. Wer auf sein Wort hört und danach lebt, gehört dazu. Das ist eine verheißungsvolle Aussage. Das ist Zuspruch, der das allen zutraut. 

 

Zurück zu Sven. Letzten Freitag habe ich ihn zufällig wiedergetroffen. Ich habe meinen Wagen in die Waschstraße gefahren und plötzlich steht er vor mir und trägt Arbeitskleidung. Er hält einen Waschbesen in der Hand. Durch das heruntergelassene Fenster reden wir kurz. Er ist kein Rettungssanitäter mehr. Zu viele traurige Geschichten haben ihn in seinen Träumen verfolgt. Jetzt leitet er einen Autohof. Wie fühlst du dich, will ich noch schnell wissen. Sehr gut, sagt Sven. Ich kümmere mich jetzt um das Wohlergehen der Trucker und um Menschen, wie dich, die ein sauberes Auto haben möchten. Viel Stress, sagt er noch, aber schön. Es kommt immer noch auf mich an, nur die Zielgruppe hat sich verändert. 

Sven, der Menschen-Universalist, tut einfach was dem Leben dient. Jesus nickt. 

Amen. 

Perikope
14.09.2025
3,31-3,35