„Lange haben wir das Lauschen verlernt!“ (Nelly Sachs) - Predigt über Dtn 6, 4-9 von Anne-Kathrin Kruse
6,4-9

„Lange haben wir das Lauschen verlernt!“ (Nelly Sachs)



Höre, Israel! Adonaj ist unser Gott, einzig und allein Adonaj ist Gott.
So liebe denn Adonaj, Gott für dich, mit Herz und Verstand, 
mit jedem Atemzug, mit aller Kraft. 
Die Worte, die ich dir heute gebiete, sollen dir am Herzen liegen. 
So lehre sie deinen Kindern und sprich davon, 
ob du nun zu Hause oder unterwegs bist, 
wenn du dich hinlegst und wenn du aufstehst. 
Du sollst sie dir zum Zeichen auf deine Hand binden, 
und sie sollen dir ein Schmuckstück zwischen deinen Augen sein. 
Schreibe sie auf die Türpfosten deines Hauses und auf deine Tore.

 

Lange haben wir das Lauschen verlernt!

 

Eine lange Schlange hat sich vor dem Signiertisch von Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen gebildet. Alle wollen eine Widmung in das eben erstandene Buch „Zuhören. Die Kunst, sich der Welt zu öffnen“ haben. "Was soll ich denn schreiben?“ fragt er eine ältere Dame. „Für Ruth oder Melanie, für Ihre beste Freundin?“ „Für meinen Mann, damit er mir endlich zuhört!“ ist ihre Antwort. Was für eine Lebensgeschichte mag sich hinter diesem verzweifelten Wunsch verbergen …ohne das Zuhören gibt es keine Begegnung und keinen Austausch, keine konstruktive Auseinandersetzung, 
keine Liebe.

 

Hören – wirklich Zu-hören ist eine Kunst.
Nicht umsonst hat uns Gott einen Mund, aber zwei Ohren eingepflanzt.
Offenbar ist ihm das Hören wichtiger als das Reden.
Den Mund kann ich schließen,
die Ohren nicht.
Sie werden im Alter nicht kleiner, 
im Gegenteil, sie wachsen noch!
Dennoch können wir das Lauschen verlernen,
werden die „Ohren des Herzens“ taub, 
die leisen Zwischentöne bleiben ungehört.
Ich höre weg.
Stopfe mir die Ohren zu
und führe Selbstgespräche.
Zuhören, Lauschen,

sich mit Herz und Verstand für den Anderen öffnen -
dazu braucht vor allem eines: 
den eigenen inneren Redeschwall stoppen und still werden.

 

Höre, Israel

 

„Höre!“ so beginnt der heutige Predigttext.
שּׁמע  ישּׂראָל יי׳ אַלּוֹהּ׳נּוּ יי׳ אָחד‎  
Höre, Israel! Adonaj ist unser Gott, einzig und allein Adonaj ist Gott.
Diese Worte sind nicht irgendwelche Worte. 
Sie sind das Herzstück des Judentums: 
Auch Juden und Jüdinnen, 
die sich nicht für besonders religiös halten, 
kennen diese Worte, das Sch’ma Jisrael, auswendig, 
by heart, im Herzen.
Als tägliches Morgengebet und Abendgebet wird es gesprochen, 
konzentriert und mit geschlossenen Augen.
Kinder lernen mit dem Höre, Israel 
ihr erstes hebräisches Gebet.
Es ist das letzte Gebet der Sterbenden.
Am Grab ruft man es ihnen nach.
Mit dem Höre Israel! auf den Lippen 
sind jüdische Märtyrer für ihren Glauben gestorben.
In den Gaskammern ist es erklungen.

 

Verkaufen dürfen wir nicht unser Ohr

 

Das Herzstück des jüdischen Glaubens am Herzenstag der Reformation!
Schon ihr Name sagt es: 
die Kirchen der Reformation haben den Anspruch, 
sich ständig zu erneuern.
Umzukehren zu ihrem Ursprung.
Eine der anspruchsvollsten und radikalsten Reformen ist immer noch,
dass wir evangelische Christen unsere jüdischen Wurzeln neu entdecken.
So wie es mein theologischer Lehrer zuspitzte: 
„Wenn die Kirche mit ihrem Latein am Ende ist, 
muss sie endlich Hebräisch lernen.“
(Frank Crüsemann, Vortrag bei der KLAK-Delegiertenversammlung, Berlin-Schwanenwerder 21.1.2012. in:   Reformatorische Impulse aus der Hebräischen Bibel - AG jüdisch und christlich .aufgerufen am 03.10.2025)


Denn die judenfeindlichen Züge der reformatorischen Lehre haben ihre Wirkung bis in die heutigen Tage kaum eingebüßt. Der christliche Glaube wurde gegen das vermeintlich selbstgerechte Tun im Judentum ausgespielt,
Das Judentum musste als finstere Folie herhalten, gegenüber der das Christentum umso strahlender erscheinen konnte. Christliche Predigten riefen zu Diskriminierung und Verfolgung von Jüdinnen und Juden auf. Auf Luthers Forderung in seiner Schrift „Von den Juden und ihren Lügen“, man solle die Juden vertreiben und ihre Synagogen niederbrennen, haben sich Christen in der Nazizeit nur allzu gern berufen. Vielen gilt das Alte Testament bis heute 
als Schrift eines gewalttätigen, rachsüchtigen Gottes, obwohl es vom sich erbarmenden Gott erzählt, der stets auf der Seite der Schwachen steht. Selbst der Mythos, die Juden hätten Jesus ans Kreuz gebracht, geistert noch umher. Bilder von heuchlerischen, geldgierigen,  einfach unsympathischen Juden schwirren in den Köpfen und haben sich seit dem Überfall der Hamas am 7. Oktober 2023 noch vermehrt.

 

In Wahrheit haben Christen ihre Ohren verkauft.
Nicht dem zugehört,
was Juden zu sagen haben,
was der Jude Jesus zu sagen hat.
Sie haben sich selbst reden gehört.
Statt nur das zu hören, was meine Erwartungen bestätigt –
will ich lernen zuzuhören.
Statt zu belehren, will ich mich öffnen.
Auf die Fremdheit und Schönheit,
vielleicht auch das Irritierende der jüdischen Glaubenswelt einlassen.
Ohne zu bewerten und in Schubladen zu packen.
Und dabei das Risiko eingehen,
dass meine eigenen Glaubensüberzeugungen infrage gestellt werden.

 

Presst, o presst an der Zerstörung Tag 
An die Erde das lauschende Ohr

 

Was höre ich, wenn ich am Reformationstag zuhöre?
Ich höre Worte, die nicht mir gelten.
Hier schlägt das Herz Israels – auch das Herz Gottes.
Als wenn man einem Liebespaar zuhört, 
wie es miteinander spricht, vielmehr flüstert.
Und das unbestimmte Gefühl kommt auf,
dass es ungehörig ist, diesen intimen Augenblick zu stören.

 

Höre Israel, Adonai ist der Einziggeliebte!
Schlüsselworte zum Glauben- und Leben lernen.
Mit „Adonaj“ wird der unaussprechliche Gottesname umschrieben.
Denn „geheiligt werde sein Name“.
Die ganze Welt umfasst er mit seiner Gegenwart –
Und zugleich ist er immer in Hör-Weite zu Israel. 
Durchlässig für sein Wort.
Nichts kann sie trennen.
Nicht im Leben und nicht im Sterben,
nicht im Ein- und nicht im Ausatmen.
Ihr und unser Ein und Alles!

 

So liebe denn Adonaj, mit Herz und Verstand, 
mit jedem Atemzug, mit aller Kraft. 
Gott will nicht ohne seine Geschöpfe, die Menschen sein.
Weil er sie liebt .
Bedingungslos und vollkommen.
Weil er dieses kleine und unbedeutende Volk liebt, 
wie seinen Augapfel.
Eben weil es so klein ist.
Weil er eine Schwäche für die Schwachen hat.
So hofft er wieder geliebt zu werden.
Wie können Jüdinnen und Juden, 
wie können wir Gottes Liebe erwidern?
Liebe entsteht im Staunen.
Wenn ich sehe und höre und darüber staunen kann,
was Gott schon alles für mich getan hat –
da entsteht Liebe.
Eine gute Übung, morgens und abends und zwischendurch,
auch und gerade, wenn es nicht gut läuft.
Liebe ist, sich an Gottes Willen halten.
Liebe ist immer ganz –mit Haut und Haar,
mit Leib und Seele und aller Kraft.
Liebe deinen, deine Nächste.
Habe die Fremden lieb, denn du warst selbst einmal fremd.
Das Gebot, das am häufigsten in der Bibel vorkommt 
und auch für uns Christen gilt.

 

Im Original der Hebräischen Bibel 
sind zwei Buchstaben besonders hervorgehoben.
Zusammengelesen, bedeuten sie Zeuge sein.
Das jüdische Volk soll Zeuge für den Einen Gott und seine Liebe sein.
In diesen Tagen werden Jüdinnen und Juden
immer mehr zu Fremden und Ausgestoßenen gemacht.
Sind in Geschäften und Restaurants „unerwünscht“.
Werden auf der Straße beschimpft, beleidigt und angegriffen.
Künstler und Wissenschaftler werden ausgeladen –
einfach, weil sie jüdisch sind.
Es ist an uns, hier für unsere Nächsten als Zeugen Gottes einzustehen.
Dies schließt Kritik an der gegenwärtigen israelischen Regierung nicht aus – 
im Gegenteil.

 

Die Worte, die ich dir heute gebiete, sollen dir am Herzen liegen.
Was am Herzen liegt, geht an die Kinder weiter.
Gottes Wort wird ins Leben eingeschrieben, jetzt und für alle Zukunft.
Heute, auch heute am Reformationstag, sind diese Worte nicht überholt.
Zu-Hören - jeden Tag neu.

 

Du sollst sie dir zum Zeichen auf deine Hand binden,
und sie sollen dir ein Schmuckstück zwischen deinen Augen sein. 
Schreibe sie auf die Türpfosten deines Hauses und auf deine Tore.
Liebe braucht Zeichen.
Was Juden am Herzen liegt, das Höre Israel, 
binden sie zum Gebet um das linke Handgelenk
gegenüber dem Herzen - so, dass es den Gottesnamen ergibt.
Und in einem Kästchen auf die Stirn.
Herz und Kopf und Hand sind miteinander verbunden.
Glaube und Liebe und Tat sind unzertrennlich.
Worte Gottes – auf den Leib geschrieben.
An die Türrahmen befestigt, erinnern bei jedem Eintreten
zwei Finger mit einem Kuss vom Mund zum Kästchen
an diese wichtigsten Worte des Lebens, 
dass sie Raum finden in diesem Haus und im täglichen Leben.

 

Werdet ihr hören wie im Tode das Leben beginnt

 

„Wer zu schnell und zu direkt neutestamentlich sein und empfinden will, 
ist m. E. kein Christ“ schreibt Dietrich Bonhoeffer 1943 im Gefängnis in Berlin-Tegel. Kann es heute am Reformationstag sein, dass die Erinnerung an unsere eigene Geschichte als evangelische Christen über die Erinnerung des jüdischen Volkes geht? Das ist schwer erträglich – und zugleich eine große Chance!
 

Das Großartige, 
was das Höre Israel auch uns Christen sagt, 
ist das Gebot der Liebe.
Die Liebe hört zu, 
öffnet sich dem Gegenüber, 
weil aus ihm die Stimme Gottes spricht
und lebendig macht – 
auch dich und mich.

 

Amen.

Vier Fragen zur Predigtvorbereitung an Anne-Kathrin Kruse

1.         Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?

Den Kerntext des Judentums ausgerechnet am Reformationstag zu predigen – eine echte Herausforderung. Um Identität(en) geht es - und diese stehen jeweils auf dem Spiel. Es gilt, jenseits von Negierung und Vereinnahmung das Sch’ma Jisrael am Reformationstag als heiligen Text mitzuhören und sich von ihm erinnern zu lassen an unseren christlichen Auftrag, unsere Wurzeln zu entdecken und sich aus ihnen zu erneuern. Und dass alles vor dem Hintergrund der Folgen des Hamas-Terrors, des blindwütigen Tötens im Gazakrieg und der grassierenden Diskriminierung von Jüdinnen und Juden bei uns.

2.         Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?

Beflügelt hat mich ein Vortrag von Bernhard Pörksen, der auf sein Buch „Zuhören: Die Kunst, sich der Welt zu öffnen“ zurückgeht. Titel und Zwischenüberschriften der Predigt stammen aus dem Gedicht von Nelly Sachs. Vgl. Nelly Sachs, Lange haben wir das Lauschen verlernt!, in: Aris Fioretos (Hg.), Nelly Sachs Werke. Kommentierte Ausgabe in vier Bänden, Bd. 1 Gedichte 1940-1950 Berlin 2010, 17f.

3.  Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten? 

M.E. unterschätzen wir als Christen und als Kirche unseren Auftrag und unsere Möglichkeiten in der Zivilgesellschaft, gegen Hass und Hetze das Wort zu suchen in gewaltlosen Formen des Widerstandes und im Eintreten für Diffamierte und Verfolgte. Es beginnt damit, ihnen zuzuhören und sie ernst zu nehmen. Ihnen das Wort zu geben.

4.         Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung? 

Herzlichen Dank an meine Coach, die sich kurzfristig meiner Predigt angenommen hat, für ihren fremden Blick und wertvolle Hinweise!

Perikope
31.10.2025
6,4-9