(12) Schwellen-Momente - Predigt über Lk 4, 16-30 von Stephanie Hecke
4,16-30

Die Schwelle ins Elternhaus gleicht einem magischen Ort. Egal wie alt wir sind – sie weckt Erinnerungen an vergangene Zeiten: An die Melodie von „Der Mond ist aufgegangen“, den Duft von frischgebackenem Apfelkuchen. Oder auch an Tränen und die Stille des Abends. 


Es macht etwas mit uns, zurückzukehren. Die Schwelle zu übertreten, hinein in Räume und Gerüche, die längst vergessene Gefühle in uns wachrufen. Die Schwelle führt uns dorthin, wo wir herkommen. Sie bleibt – auch wenn wir erwachsen werden. 

Aber eines verändert sich: Wir können unser Verhältnis zu diesen Räumen und Menschen, zu diesen Erinnerungen reflektieren. Vielleicht können wir sogar – durch neue Perspektiven, die das Leben uns geschenkt hat – eine neue Haltung einnehmen. 

Der Evangelist Lukas erzählt uns auch von solch einer Schwelle. Jesus kehrt zurück in seine Heimatstadt, nachdem er zuvor im Land umhergezogen war, Menschen heilte, Gemeinschaft schenkte, durch seine Worte und Taten Gottes Liebe erfahrbar machte. Aus diesem Erzählabschnitt stammt das geflügelte Wort „Der Prophet gilt nichts im eigenen Land“


Der Weg zurück nach Nazareth ist für Jesus eine Schwellensituation. Eine, die ihn definiert und festlegt, die ihm sagt, wer er sein darf und wer nicht. 

16 Und er kam nach Nazareth, wo er aufgewachsen war, und ging nach seiner Gewohnheit am Sabbat in die Synagoge und stand auf, um zu lesen. 

17 Da wurde ihm das Buch des Propheten Jesaja gereicht. Und als er das Buch auftat, fand er die Stelle, wo geschrieben steht: 

18 »Der Geist des Herrn ist auf mir, weil er mich gesalbt hat und gesandt, zu verkündigen das Evangelium den Armen, zu predigen den Gefangenen, dass sie frei sein sollen, und den Blinden, dass sie sehen sollen, und die Zerschlagenen zu entlassen in die Freiheit 

19 und zu verkündigen das Gnadenjahr des Herrn.« 

20 Und als er das Buch zutat, gab er’s dem Diener und setzte sich. Und aller Augen in der Synagoge sahen auf ihn. 

21 Und er fing an, zu ihnen zu reden: Heute ist dieses Wort der Schrift erfüllt vor euren Ohren. 

22 Und sie gaben alle Zeugnis von ihm und wunderten sich über die Worte der Gnade, die aus seinem Munde kamen, und sprachen: Ist das nicht Josefs Sohn? 

23 Und er sprach zu ihnen: Ihr werdet mir freilich dies Sprichwort sagen: Arzt, hilf dir selber! Denn wie große Dinge haben wir gehört, die in Kapernaum geschehen sind! Tu so auch hier in deiner Vaterstadt! 

24 Er sprach aber: Wahrlich, ich sage euch: Kein Prophet ist willkommen in seinem Vaterland. 

25 Aber wahrhaftig, ich sage euch: Es waren viele Witwen in Israel zur Zeit des Elia, als der Himmel verschlossen war drei Jahre und sechs Monate und eine große Hungersnot herrschte im ganzen Lande, 

26 und zu keiner von ihnen wurde Elia gesandt als allein nach Sarepta im Gebiet von Sidon zu einer Witwe. 

27 Und viele Aussätzige waren in Israel zur Zeit des Propheten Elisa, und keiner von ihnen wurde rein als allein Naaman, der Syrer. 

28 Und alle, die in der Synagoge waren, wurden von Zorn erfüllt, als sie das hörten. 

29 Und sie standen auf und stießen ihn zur Stadt hinaus und führten ihn an den Abhang des Berges, auf dem ihre Stadt gebaut war, um ihn hinabzustürzen. 

30 Aber er ging mitten durch sie hinweg.  

                                                                                                                 (Lukas 4,16-30)

Die Konfrontation mit dem Anspruch auf Wahrheit polarisiert. Sie fordert heraus, sie führt zum Streit – und sie endet im Versuch, Jesus zu töten. Für die Menschen in der Synagoge müssen seine Worte wie eine bodenlose Anmaßung, mehr noch, ja wie eine Gotteslästerung geklungen haben. 
Größer als Elia und Elisa? Größere Wunder als die ehrwürdigen Propheten? Zorn braust auf, die gespannte Stille verwandelt sich in Lärm: Raus mit ihm aus unserer Mitte! 

Da ist sie also wieder, die Schwelle. Jesus hat nicht nur die Schwelle zu seiner Heimat übertreten, sondern auch die Schwelle der Erwartungen, der religiösen Tradition. In den Augen und Ohren der Zuhörenden geht er über die Schwelle des Sagbaren hinaus. Was für eine Provokation! Hat er keinen Respekt vor den Propheten? Wie kann er sich nur über sie stellen? 

Wenn ich heute einen Blick in die Tageszeitung werfe, in den sozialen Medien scrolle oder Gespräche in der Bahn mitverfolge, stoße ich auch dort auf Schwellen – ausgesprochene, umkämpfte, subtile Schwellen. An vielen Orten unserer Gesellschaft verlaufen heute solche Schwellen: an politischen Grenzen, in Familien, zwischen Generationen oder religiösen Weltanschauungen. 


Ein Beispiel dafür ist das Thema Migration und die Debatten, die wir als Gesellschaft darüber führen: über Geflüchtete verschiedener Kategorien, über „berechtigte“ Kriegsflüchtlinge und vermeintlich „unberechtigte“ Wirtschaftsflüchtlinge. Über Aufnahmekapazitäten, über die Unterscheidung zwischen „wir“ und „die“, über Verteilungskämpfe. 


Und ich denke: Auch hier hat das Bild der Schwelle eine große Bedeutung. Eine Schwelle markiert zwei Seiten – so, wie es auch in unserer Gesellschaft unterschiedliche Haltungen gibt.

Da sind die, die sagen: Wir schaffen das! Wir wollen und brauchen Migration. Das Problem ist nicht, dass Menschen zu uns kommen, sondern dass wir zu wenig Integration ermöglichen. Und da sind die, die sagen: Wir haben uns überfordert. Jetzt muss Stopp sein. Beide Perspektiven driften zunehmend auseinander. Verständigung, das gemeinsame Suchen nach einem guten Weg, wird schwieriger.  

Wie finden wir daraus einen Ausweg? Gerade dann, wenn wir uns schon lange für eine Seite engagieren – für Rettungsschiffe im Mittelmeer spenden, Geflüchteten Deutschunterricht geben, Türen und Herzen in der Nachbarschaft öffnen? 

Vielleicht kann das Bild der Schwelle ein Kompass sein, um neue Wege zueinander zu finden. Was mir daran gefällt: Die Schwelle existiert nur, weil es zwei Seiten gibt. Es gibt nicht die eine richtige Seite. Beide Seiten eröffnen eigene Sichtweisen. Je nachdem, wo wir auf der Schwelle stehen, eröffnen sich unterschiedliche Perspektiven – die geprägt sind von Lebenserfahrungen und Lebensgeschichte. Im Bild gesprochen: Unterschiedliche Lebensgeschichten, Erfahrungen und Gefühle prägen, wie wir an Schwellen-Themen herangehen. 

Gehen wir noch einmal zurück zu Jesus in der Synagoge. Er steht an der Schwelle seiner Herkunft. Und er steht an der Schwelle seiner Identität. Er offenbart, wer er ist: Der Gesalbte, der Erwartete, der Heilsbringer. Damit überschreitet er die Grenzen des Gewohnten und er mutet den Menschen um ihn herum viel zu. Er wusste wohl, dass seine Botschaft nicht überall auf offene Ohren stoßen wird. Er verwirft die Tradition nicht, aber er erweitert sie, erfüllt sie – so, wie Christinnen und Christen später bekennen werden, dass in ihm Gottes Verheißung vollendet ist: Er offenbart sich als der, der Leben schenkt. Der Licht ins Dunkel bringt, Freude den Betrübten, Gemeinschaft den Ausgeschlossenen, Heilung den Kranken, Brot den Hungrigen, neue Perspektiven den Blinden. Er offenbart sich als der, der alles neu macht. 

In Jesu Vorbild wünsche ich mir heute Menschen, die Schwellen überqueren – in der Kirche, unter uns Christinnen und Christen, in der Gesellschaft. 
Ich wünsche mir, dass wir die Schwellen in unserer Zeit achtsam wahrnehmen, ohne vor ihnen zurückzuschrecken. Dass wir Respekt vor der jeweils anderen Seite haben – weil dort Menschen stehen, mit Herz, Seele und einer Lebensgeschichte wie du und ich. Diese andere Meinung und Haltung müssen wir nicht teilen, auch nicht für gut heißen. Aber die unbedingte Achtung vor dem Menschen selbst ist der einzige Weg, damit Schwellen nicht zu Mauern werden. 

Ich wünsche mir in diesen Tagen Menschen, die Schwellen überqueren. Menschen, die mit Worten und Haltung neugierig und offen sind und bleiben, die andere Perspektive zu hören und zu sehen – ohne die eigene Haltung und die eigenen Werte aufzugeben, sondern gerade durch diese Begegnung mit anderen an ihnen festzuhalten. 

Ermutigt von der Erzählung Jesu halte ich daran fest:


Es gibt einen, 

der Zorn in Fürsorge verwandelt, 

Hass in Liebe, 

Streit in Versöhnung; 

einen, 

der die Armen speist, 

die Kranken heilt, 

die Trauernden tröstet; 

einen, 

bei dem es keinen Aufnahmestopp gibt. 
 

Wie Jesus damals mitten durch die aufgebrachte Menge hindurchging, so geht er auch heute mit uns auf dem Weg hin zu Verständigung und Versöhnung.

Mit dieser Haltung will ich den Schwellen meines Lebens und unserer Gesellschaft begegnen. Segen für deine Schwellen-Momente!    Amen.