Erinnern und Leben - Predigt über Lk 6, 27-38 von Prof. Dr. Roland Rosenstock
6,27-38

I. Erinnern

 

Wussten Sie, dass es in unserer Stadt einst einen jüdischen Friedhof gab? 

Jahrelang bin ich auf der Landstraße stadtauswärts vorbeigefahren – an dem Ort, wo jüdische Familien ihre Toten bestatteten. Bis 1938 war hier – inmitten von Kornfeldern gelegen – eine Mauer aus Backsteinen zu sehen und ein Tor mit zwei Flügeln.

1866 wurde dieser Friedhof angelegt, damit die Verstorbenen in Frieden ruhen und auf die Auferstehung warten konnten. Die jüdische Gemeinde zählte damals rund 120 Mitglieder. 

Im Mai habe ich zum ersten Mal mit Schülern das „Haus der Ewigkeit“ besucht – so wird ein Friedhof im Judentum genannt. Das Gelände ist heute nur schwer zu finden, es liegt versteckt in einem Industriegebiet. 

Wie ein Mahnmal steht dort das Gerippe einer alten Werbetafel. Vom Radweg aus erkennt man nur noch einen maroden Zaun und zwischen Büschen, Bäumen und Gräsern die verfallene Baracke einer ehemaligen Sanitärfirma. Wir betreten das Gelände über den Parkplatz eines Baustoffhandels. Ein „Lost Place“, überwuchert von Wildwuchs und Müll. 

Die Jugendlichen konnten zunächst kaum glauben, dass hier einmal eine Begräbnisstätte war. Sie waren betroffen von dem Abfall, den Bürger unserer Stadt hier entsorgten. Nichts erinnerte mehr daran, dass dieser Ort einst ein Zentrum jüdischen Lebens war.

Gemeinsam betrachteten wir alte Sterbeanzeigen, die Ulrich Möbius vom Arbeitskreis „Kirche und Judentum“ für uns recherchiert hat. Die jungen Leute sind sehr aufmerksam und still. Sie hören Worte aus dem Talmud: „Ein Mensch ist erst vergessen, wenn sein Name vergessen ist.“ 

Mit Straßenkreide zeichneten sie die Umrisse von Grabsteinen und schreiben Namen darauf. Jeder und jede gestaltet einen Stein der Erinnerung. Ein wenig stolz zeigen sie uns ihre sorgfältig gezeichneten Grabsteine und lesen dazu kurze vorbereitete Lebensbeschreibungen vor. 

Wir konnten diesen vergessenen Ort nun mit Namen verbinden: Jehuda Brandwein, Theodor und Sophie Cohn, Else und Israel Gimpel, Michael und Mina Heimann ... .

Ich war berührt von ihrem Engagement. Einen Moment lang gaben sie dem zerstörten jüdischen Friedhof ein Stück Würde zurück. Zwar hat der Regen der folgenden Tage die Kreidebilder fortgespült, aber die kleinen Steine liegen noch immer dort – für jene, die sie suchen.

Beim Abschied stellten die Jugendlichen eine Frage, die mich nicht loslässt: 

Wie kann es sein, dass niemand ein Interesse daran zeigt, diesen Ort zu bewahren? Was bleibt von Geschichten, wenn sie niemand mehr erzählt?

 

II. Leben

 

Noch mehr berührt hat mich die Geschichte, die ich später hörte: Im August des letzten Jahres kehrte die Urenkelin von Jehuda Brandwein nach Greifswald zurück, um am Grab ihres Urgroßvaters ein Gebet für die Toten Ihrer Familie zu sprechen. Was hat sie wohl gefühlt, als sie dieses verlassene Areal sah? 

Ich lese in den Quellen: Die jüdische Gemeinde wurde 1939 aufgelöst, der Friedhof zwangsweise verkauft. Und 1940 wurden die letzten deutschen Juden aus Greifswald in das besetzte Polen deportiert, das Gelände mit Kasernen für die Luftwaffe überbaut. 

Auf alten Luftbildern von 1953 sieht man noch drei Grabsteine – Reste dessen, was übrig blieb. Und mit den Grabsteinen verschwanden auch die Erinnerungen an Familien, die hier ihre letzte Ruhe fanden.

Heute erinnern nur die „Stolpersteine“ des Kölner Künstlers Gunter Demnig in der Innenstadt an die Vertriebenen und Ermordeten: Ein eingravierter Name, Geburts- und Todesdatum, ein kleines Denkmal. In der Brüggstraße 12 finden sich vier Steine mit dem Namen Futter. Auf dem einem steht kein Todesdatum sowie auf dem Stolperstein für seinen Bruder:

 

Hier wohnte 

Hans Futter 

Jg. 1923 

Kindertransport 1939 

England 

Überlebt

 

[Die Stimme des verstorbenen Hans Futter spricht:]

 

Mein Name ist Hans Werner Futter, geboren 1923 in Greifswald, Brüggstraße. Meine Eltern, Julius und Thea, führten ein Geschäft, wir waren eine ganz normale Familie. Mein Bruder Gert, meine Eltern, unser Leben in dieser Stadt.

 

Doch dann kam der 1. April 1933. Ich war zehn Jahre alt. Die NSDAP verteilte Handzettel: „Kauft nicht in jüdischen Warenhäusern!“ – auf einmal wurde Hass gesät und die deutsche Volksgemeinschaft beschworen. Doch bis der Hass sich ausbreitete, war unser Leben in Greifswald gut, Mitschüler und Lehrer der Knabenmittelschule standen zu uns. 

Mit dem neuen Rektor 1937 wurde Rassentrennung und Antisemitismus zum Programm. Wir wurden beleidigt, gedemütigt und geschlagen. Meine Eltern trafen eine schwere Entscheidung: Gert mit 16 und ich mit 14 sollten nach Berlin, dort wo nicht alle unsere Gesichter kannten, an die jüdische Lehrlingsschule. Für kurze Zeit waren wir sicher vor den Demütigungen und Schikanen, denen wir in Greifswald ausgesetzt waren. 

1939 wurden wir per Kindertransport evakuiert. Zwei Tage vor Kriegsbeginn erreichten wir England. Wir Söhne schafften es, aber meine Eltern blieben zurück, kamen in ein Konzentrationslager und wurden in Auschwitz ermordet. Das Leben ging weiter – aber wir bewahrten die letzten Fotos unserer Eltern auf. Ihre ernsten Gesichter, ihre Blicke – ich weiß nicht genau, wann die Bilder entstanden.

 

III. Zuhören

 

2006 kehrte ich nach Greifswald zurück. Ich wollte die Orte meiner Kindheit wiedersehen, traf alte Freunde, sah unser Wohnhaus und den Betsaal. 

Und ich trug mich ins Goldene Buch der Stadt ein – ohne Bitterkeit, ohne Hass. Das ist wichtig, dass Sie das verstehen: Ohne Hass, ohne Rache. 

Denn das, was meiner Familie widerfuhr, das hätte Grund genug zum Hass geben können. Aber ich habe nicht darauf bestanden, den Besitz meiner Eltern zurückzufordern. Das habe ich nie gewollt.

 

Doch jetzt, in dieser Zeit, in der Antisemitismus und verletzende Worte aus rechtsextremer oder antiisraelischer Motivation wieder erwachsen – im Internet, am Arbeitsplatz, im öffentlichen Raum, in Busse und Bahnen und wieder in den Schulen und sogar an unserer Universität, möchte ich heute etwas sagen: 

Ich höre neue Parolen. Andere Worte, derselbe Hass. Es ist leicht, Feindschaft zu erzeugen: Man braucht nur einen Namen, eine Herkunft, einen Glauben, um zu sagen: „Das ist nicht wie wir.“ Ich kenne diese Logik – ich weiß, wohin sie führt.

Darum frage ich: Was bedeutet es heute, Menschen zu lieben, die von anderen zu Feinden erklärt wurden? Mit Mut, mit Vernunft, gegen jedes Vorurteil. Ich habe leidvoll gelernt: Hass ist kein Ausweg. Hass zerstört, Hass tötet. Das habe ich gesehen und am eigenen Körper erlebt. Der Weg der Liebe – auch der schwierigen, auch der schmerzhaften – ist der Weg in die Zukunft. Er heilt. 

Wer denkt: „Ich kann das nicht, das ist zu schwer, jemanden zu lieben, der anders ist und mir Angst macht“, dem sage ich: Das verstehe ich. Es ist schwer. Es verlangt alles von uns. Aber: Es ist möglich und bewahrt uns vor der größten Katastrophe unserer Wertschätzung von uns selbst: Das wir uns nicht mehr wiedererkennen, dass wir eingestehen müssen: Der Hass hat von uns Besitz ergriffen und uns selbst zerstört.

Als ich nach Greifswald kam, war Vergebung wichtig für mich. Versöhnung ist möglich. Man darf aus Trauer keinen Hass machen. Die Stolpersteine in der Brüggstraße erinnern an meine Familie. Sie zeigen ein Leben, das ausgelöscht wurde. Aber sie sind auch Erinnerung daran, dass Menschlichkeit bewahrt werden kann – gerade, wenn alles verroht, wie in diesen gottlosen Zeiten. Es ist möglich, sich zu erinnern – ohne Rache. Die Wahrheit sagen – ohne selbst Richter zu werden.  Das ist das, was ich Ihnen in dieser Kirche zurufen möchte: Menschen zu lieben, die von rassistischen Parteien oder Machthabern zu Feinden erklärt werden. Das ist nicht naiv. Das ist, nach der Tora und nach Jesu Gebot, weise. Es ist weise, weil es Leben ermöglicht und für Familien Zukunft erschafft, anstatt sie durch Gewalt auszulöschen.

 

IV. Barmherzigen

 

Lieber Herr Futter, ich danke Ihnen für ihre barmherzigen Worte. Sie dürfen gewiss sein: Wir, die heute hier versammelt sind, werden das Andenken Ihrer Familie in Würde bewahren. Niemand von uns wünscht sich, was Ihnen und Ihren Eltern widerfahren ist.

Ich höre Ihnen zu und lerne von Ihnen: „Und wie ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen – so tut ihnen auch.“ Das ist keine Sentimentalität, sondern das höchste Gebot – für Jesus, den Juden, für die lukanische Gemeinde und für uns. Die Goldene Regel ist das Wertvollste, was wir weitergeben können: Würde, Achtung, Liebe. Das ist die Botschaft der Überlebenden der Shoah – und sie wird heute noch dringlicher gebraucht als früher, da fast alle der Überlebenden der Shoah verstorben sind.

Alle Grabsteine, die von unserem jüdischen Friedhof zerstört oder weggeräumt wurden trugen in der ersten Zeile die gleichen hebräischen Buchstaben: 

„Hier ist begraben“. Auf Hebräisch: פהנטמן  (Po nitman) oder פה נטמה  (Po nitma). 

Und in der letzten Zeile: תהי נפשוצרורה בצרור החיים (Tehi nafsho zrura b’tsror ha-chajjim) – „Möge seine Seele eingebunden sein in das Bündel des Lebens“ (nach 1. Samuel 25,29).

Das ist mein Wunsch für Sie, Hans Futter, und für uns alle.

Was wir erinnern, ist nicht Vergangenheit allein – es ist eine dringende Frage an uns allen, wie wir in Zukunft leben wollen. 

Das Wort des Juden Jesu von der Liebe zu Menschen, die von anderen zu Feinden erklärt werden, verbindet sich mit den Geboten Leben zu achten und Frieden zu suchen.

Feindesliebe ist keine Sentimentalität. Sie bedeutet, dem Hass keinen Raum zu geben. Sie erinnert uns an die Würde eines jeden Menschen – auch dessen, der als Fremder und Feind in unserer Stadt diskreditiert wurde und wird. Vielleicht können Orte wie unser jüdischer Friedhof uns lehren: Vor Gott gibt es keine vergessenen Namen. Jeder Mensch, ob bekannt oder namenlos, bleibt eingebunden in das Reich Gottes, von dem Jesus spricht. Alle Seelen sind geborgen „im Bündel des Lebens“. Das ist der Weg, den die Feindesliebe weist. 

Amen.

 

Vier Fragen zur Predigtvorbereitung an Roland Rosenstock

1.         Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?

Der Gottesdienst ist Auftakt der Ökumenischen Friedensdekade. Die Gemeinde kommt zusammen, um an die Novemberpogrome von 1938 zu erinnern.

2.         Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?

Das Jugendprojekt der Greifswalder Altstadtgemeinden „Erinnern und Leben“ zum jüdischen Friedhof in Greifswald. 

3.         Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten? 

Das Hören auf die Stimmen der jüdischen Familien, die einmal in Greifswald gelebt haben.

4.         Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung? 

Mein Coach hat sich sehr wertschätzend verhalten. Das hat die Predigtarbeit besonders unterstützt. Er war fördernd und fordernd. Ich würde gern wieder mit ihm zusammenarbeiten.

Perikope
09.11.2025
6,27-38