‚mit morgenroten Flügeln‘ - Predigt über Jes 58, 6-11
Gedenktag des Hl. Martin (Beginn der vorweihnachtlichen Fastenzeit)
11. November 2025
‚Das aber ist ein Fasten, an dem ich Wohlgefallen habe: Lass los, die du mit Unrecht gebunden hast, lass ledig, auf die du das Joch gelegt hast. Gib frei, die du bedrückst, reiß jedes Joch weg. Brich dem Hungrigen dein Brot, und die im Elend ohne Obdach sind, führe ins Haus. Wenn du einen nackt siehst, so kleide ihn, und entzieh dich nicht deinem Fleisch und Blut. Dann wird dein Licht hervorbrechen wie die Morgenröte, und deine Heilung wird schnell voranschreiten, und deine Gerechtigkeit wird vor dir hergehen, und die Herrlichkeit des Herrn wird deinen Zug beschließen‘.
I
Stellen wir uns vor… in der Frühe das erste Licht im Osten. Noch zögernd erhellt es die Dunkelheit, bald aber legt es uns einen Mantel um und vertreibt die Kälte. Stellen wir uns vor… wir, ja, wir!‚ mit morgenroten Flügeln‘ (J.W. Goethe) lassen los, geben frei und erfahren im Verzicht auf Bemächtigung etwas Neues, ‚Reines‘, ‚Heilung‘.
II
Ich nenne sie Madeleine. Die Dame, die ich im Altenheim besuchte, feierte Geburtstag. Die Mitarbeiterinnen hatten sie ‚feingemacht‘. Sie trug eine weiße Bluse. Was für ein dezent-leuchtender, wärmender Anblick. Und: Was für ein Lebenslauf, von dem Madeleine ihrem Besucher erzählte. Von Krieg und Flucht. Von den Mühen des Einlebens im Ruhrgebiet. Vom frühen Tod des Ehemannes, von der Sorge um die Kinder und der Sorge der Kinder um die Mutter.
Alles schwere Themen, und doch war es, als hätten diese Erinnerungen einen geheimnisvollen, neuen Ort gefunden, wären gleichsam entrückt oder fromm gesprochen: In Gottes Hände gelegt worden. Gutgelaunt, soz. ‚im Herzen gereinigt‘ (Apg 15, 9), saß die Erzählerin vor mir, und ich spürte nachher wieder einmal mehr das Geschenk einer Begegnung, in der ‚die Weisheit die Torheit übertraf‘ (Koh 2,13), ja verschwinden ließ.
III
‚Fasten‘, fest werden, im Herzen rein werden‘: ‚Lass los … lass ledig die, auf die du das Joch gelegt hast‘ - das ist ein Fasten, das Gott ‚gefällt‘. In den Spuren von Madeleines Lebenserinnerungen bekommen diese energischen Rufe des Propheten eine besondere Nuance oder Klangfarbe. Jenseits der Rituale, der Vorschriften und Traditionen, des in Sack und Asche Gehens mit hängendem Kopf, jenseits all dieser Äußerlichkeiten und manchmal verkrampften Innerlichkeiten geht es ihm um eine Reinigung des ganzen Menschen, um einen Menschen, der frei wird für Gottes ‚Mitteilung‘ und gleichsam eine weiße Bluse tragen darf.
Lass los … gib frei, ‚die du bedrückst… brich mit den Hungrigen dein Brot, und die im Elend ohne Obdach sind, führe ins Haus‘, vieles ließ sich damals und lässt sich heute beim ersten Hören unter dieser Ermahnung versammeln. Gewiss sollte ein Reicher in Jerusalem an die Schuldsklaven in seinem Haushalt denken. Oder ein Gutsbesitzer an seine Tagelöhner. Wer zum Tempel ging, sah die Bettler und Hungernden, und heute wird jeder Hörer an die Menschen denken, die die Hamas in Geiselhaft hielt: ‚Bring them home now‘. Ja, es gibt eine ethische und politische Dimension des Fastens, an der keiner vorbeikommt, der sich der Stimme des Propheten nicht verschließt.
IV
Aus dem Gespräch mit meiner Jubilarin nehme ich aber noch etwas anderes mit. ‚Reinigung‘, Verzicht, Askese – sie beginnen doch mit etwas Alltäglichem. Ich ‚Tor‘! Oft genug baue ich um mich herum eine Sorgenwelt auf, in die ich die Meinen mit hineinziehe und gleichsam zu Gefangenen meiner Befürchtungen, dieser ‚rotierenden Bangnis‘ (J. Bernig) mache und sie persönlichen, familiären oder kosmischen Untergangs-Phantasien aussetze. Aber ‚mit selbsteigner Pein‘ (EG 361.2) lässt sich Gott bekanntlich ‚gar nichts nehmen‘. (Groß)Eltern- , Mutter- oder Vatersorge sind etwas Natürliches, Gegebenes, aber dieses Gegebene bedarf der bewussten Gestaltung, um nicht in einen Zwang umzuschlagen und uns zur zweiten Natur zu werden.
Madeleine hatte vielleicht dies erkannt. Jedenfalls fiel mir auf: Keine Klagen. Keine Vorhaltungen, auch wenn der Besuch der Kinder längere Zeit ausblieb und auch an ihrem Ehrentage nicht möglich war. Sie hatte sie freigegeben, nachdem ihre Tochter ihr einmal sagte: ‚Mutter, wir verreisen, aber gib mir deinen Segen dazu. Belaste uns nicht mit deinen Befürchtungen, mache uns nicht das Herz schwer, denn dann können wir uns nicht erholen‘. Aber auch umgekehrt: Heute, da die Kinder sich Sorgen um sie machen, ob sie gut im Heim betreut würde, ob die Mitarbeiter freundlich zu ihr seien … da hatte sie ihnen – sichtlich genervt- versichert: ‚Nun lasst mich doch los. Ich habe einen Mund. Ich melde mich schon, wenn etwas nicht stimmt‘.
V
Ich glaube, der rosige Glanz der alten Dame, ja, ihre Wärme, ihr Humor und ihre Beherztheit, sind ein gutes Gegenbild zur Selbstzerknirschung, zum ‚In-Sack-und-Asche-Gehen‘ und zum herabhängenden Kopf, den der Prophet bei den Fastenden in Jerusalem beobachtet und ironisch aufspießt. Dieter Hallervorden könnte es uns vormachen. Zeichen der Trauer und des Verzichts gehören zum Fasten, aber die Frage bleibt ja: Was ist sein Grund, der gute Boden, aus dem es erwächst, und welche Früchte gedeihen auf ihm.
‚Reinigung‘, loslassen, freigeben, all dieses als menschliches Ziel und oft ‚menschlich-allzu menschliche‘ Veranstaltung hat ja ihren Grund in Gottes eigenem Handeln, in seinem Ruf: ‚Tröstet. Tröstet mein Volk‘ (Jes 40, 1); in der Freude darüber, dass er die Seinen aus der Gefangenschaft befreit, dass er ‚des Vergangenen‘, der Sünde und Missetat, ‚nicht mehr gedenken‘ will (Jes 65,17), und seinen Bund mit ihnen erneuert. Ja, dem Aufgang der Sonne gleich, sollten sie eine neue Gemeinschaft bauen – unter den Bedingungen ihrer Zeit und diesem Bau die Regel geben: ‚… entzieh dich nicht deinem Fleisch und Blut‘.
Die Frage des Rabbis ist ja bekannt: Wann überwindet der Tag die Nacht? Was ist die Stunde des Morgenglanzes? Ist es dann, wenn man ein Schaf von einem Hund unterscheiden kann … wenn man einen Dattel- von einem Feigenbaum unterscheiden kann… Wir kennen die Antwort: Es ist dann, wenn du in das Gesicht irgendeines Menschen blickst und dir ein Licht aufgeht: Meine verletzliche Schwester oder mein verletzlicher Bruder. Bis dahin ist die Nacht noch bei uns.
VI
Die Fastenrufe des Propheten, die uns einen ‚St. Martins-Mantel-aus- Licht‘ umlegen, springen auf diese Weise noch einmal in unsere Zeit und unseren Umgang miteinander. ‚Gib frei … lass los…‘ - das kann man ja auch auf jene ‚Gefangene‘ beziehen, die ich der Lust an Gerüchten und Verdächtigungen folgend oder einfach aufgrund mangelnder Bildung immer wieder mache. Und nicht nur ich. Die Zeit- oder Mediendiagnose ist ja bekannt: Wir schließen die aus, deren Meinung uns nicht passt. Wir glauben nur die eigene Botschaft. Ja, wir halten soz. die Ohren zu, wenn ‚der‘ spricht. Ein Abweichler, ein Dissident. Andersdenkende, ‚Querdenker‘ – einst ein Ehrentitel- werden zu Feinden gemacht. Ein Jurist sieht die Gefahr einer Entwicklung ‚vom Rechts- zum Einschüchterungsstaat ‘ (V. Böhme-Neßler).
Kann es in einer Gemeinschaft kälter und - törichter zugehen? Tiefschwarze Nacht herrscht, wo alles Vertrauen, alle Wahrhaftigkeit und Unvoreingenommenheit ausgetrieben wurde. Dabei liegt doch auf der Hand, was diese Dunkelheit erhellen kann: Eine ‚fastende‘ Gemeinde, in der sich die Menschen Gottes zurückhalten und allem Urteilen ein ‚Hören auf‘ unterlegen. Wie klärend, eben reinigend, kann ein zivilisiertes, ‚bürgerliches‘, Gespräch sein, in der die Position des anderen ruhig gehört und bedacht wird, und ich darauf verzichte, Kläger, Richter und womöglich Henker in einem zu sein. Welcher Glanz, welcher Humor kann in den Räumen leuchten, in denen der Andere als zu ‚meinem Fleisch und Blut‘ gehörig anerkannt wird.
VII
Die alte Dame schloss ihre Erzählungen mit der Bitte um ein gemeinsames Gebet. Sie, die ‚Weltüberlegene‘, wusste oder lebte es ja: All das, was wir loslassen, muss irgendwo hin und löst sich nicht einfach in Wohlgefallen auf. Trotz aller Bemühungen um Körperhygiene oder seelischer Zerknirschtheit, das, was ich freigebe, braucht ein Gegenüber, ein leidenschaftlich mich liebendes Gegenüber, und einen Ort, da es angenommen, verarbeitet und endgültig losgelassen wird. ‚Weiße Kleider‘ (Apk Joh 4,4): Es bedarf der göttlichen Liebes-Arbeit und ‚Mühe‘(Jes 43,24).
Heilung und ‚Festigkeit‘ werden darum dem zukommen, der sein Leben in Gottes Hände legen mag und um Vergebung und Freispruch bittet. Erzwingen lässt es sich nicht, aber empfangen dürfen wir es: Wir, ja: wir! ‚mit morgenroten Flügeln…‘ ‚Martin Luther ist jeden Morgen zur Beichte gegangen. Wir gehen jeden Morgen unter die Dusche‘ (M. Josuttis). Darum: Es ist gut, die Wohltat für den Körper und die für die Seele besser zusammenzuhalten. Wem können wir vertrauen, uns anvertrauen, und wer braucht unser Ohr und möchte uns gegenüber sein Herz öffnen.
VIII
Alle, die Besuche im Auftrag der Gemeinde machen, ahnen es schon, aber weil heute Martinstag ist und traditionell mit diesem Datum das vorweihnachtliche Fasten und Teilen begann, will ich es ausdrücklich machen: Ein Umschlag mit einer Gabe lag auf dem Sideboard im Altenheimzimmer bereit. Madeleine überreichte ihn mir und sagte schlicht: ‚Ist für Brot für die Welt‘: ‚Brich dem Hungrigen dein Brot‘.
Amen.
1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Die Feier /Andacht am Martinstag ist in der Regel mit einer szenischen Lesung oder einer spielerischen Darbietung der Martins-Legende verbunden, die der Gemeinde natürlich im Sinn ist und bleibt. Meine Predigt nimmt auf Legende bzw. Spiel mit der Mantel-Licht-Motivik möchte aber den Text unter dem Aspekt der ‚Freigabe‘ noch einmal besonders gewichten.
2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Mich hat es gereizt, einen ‚auratischen‘, ins Licht der Morgenröte getauchten, Jubilarbesuch zum homiletischen Leitfaden (‚Modell‘) zu machen und mit dem Propheten ins Gespräch zu bringen: Fasten als lebenslanges, heilsames Loslassen und Freigeben, das sowohl soziale und politische wie auch persönlich-seelsorgerliche ‚Licht-Blicke‘ impliziert. Daß ich meine (inzw. verstorbene) Jubilarin ‚Madeleine‘ genannt habe, verdankt sich dem Film von Christian Carion: Im Taxi mit Madeleine (F 2022 mit Line Renaud in der Titelrolle). Die Jubilarin und die Film-Madeleine hätten sich gut verstanden.
3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
In der Zeit der Vorbereitung bewegte den Prediger so manche Sorge, und es tat ihm gut, sich mit seiner Gemeinde unter die prophetischen Mahnworte zu stellen (als ‚erster Hörer‘) und sich Gottes Verheißung – wie einst der Bettler- als einen ‚Licht–der-Morgenröte-Mantel‘ umlegen zu lassen, ein Mantel, der die ‚rotierende Bangnis‘ (J. Bernig, Eschenhaus. Roman, 2023, S.21) überwinden hilft. M. Josuttis‘ Satz unterstrich dies gleichermaßen für den Körper und den Geist (Kraft des Glaubens, S. 42).
4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Den Hinweis der Predigt-Coachin, Mahnworte und Verheißung (Morgenröte!) aus Jesaja 58 der schriftlichen Predigt voranzustellen (der ja auf der Kanzel als Predigttext des Tages zuvor gelesen wird), setze ich gern um.