Das Gleichnis von den klugen und törichten Jungfrauen hat Erinnerungsspuren hinterlassen. Die Öllampen aus der Geschichte leuchten mir in die Kindheit. In dem kleinen Dorf in der Mark Brandenburg waren die Gottesdienste am Ewigkeitssonntag gut besucht. Die Posaunen spielten vor und nach dem Gottesdienst Choräle auf dem Friedhof, der mit alten Grabsteinen und hohen Bäumen die kleine Kirche umgab. Am letzten Sonntag des Kirchenjahres war es unter dem meist trüben Himmel rund um die Kirche schwarz von Menschen, die in dunklen Mänteln an den geschmückten Gräbern standen und den Posaunen lauschten, ehe sie in die Kirche gingen. Der Gottesdienst begann nach dem Geläut der Sterbeglocke stets mit dem feierlichen Choral „Wachet auf ruft uns die Stimme“, in dem die Jungfrauen - wie im Gleichnis - mit festlichen Laternen dem Bräutigam entgegengehen. Nach dem Lied wurden die vielen Namen der Verstorbenen des zu Ende gehenden Kirchenjahres verlesen. Dann spielten die Posaunen, und beim Evangelium beschäftigte mich die Frage, warum für die vielen traurigen Menschen, die an so einem Tag in die Kirche gekommen waren, gerade dieses Evangelium vorgelesen wurde. Für meine kindlichen Ohren klang die Geschichte von den schläfrigen Jungfrauen, die spätabends auf einen Bräutigam warten müssen, der sich stundenlang verspätet und dann die Hälfte von ihnen abweist, wenig tröstlich.
Mich ließ der Gedanke nicht los, wie es mit den so schroff abgewiesenen fünf Jungfrauen draußen vor der Tür wohl weiter gegangen sein mochte. Ihnen musste der Ausgang der Geschichte wie ein schlechter Traum erscheinen.
Denn zu Anfang gleichen alle zehn ja noch einander: Zehnmal helle Vorfreude, zehnmal freundliche Geduld, zehn Lebenswege, die erwartungsvoll aufeinandertreffen. Alle sind wach und bereit, und tragen das Öl in den Lampen wie ein leises Versprechen. Erst das Warten bis in die tiefe Nacht zeigt, wer das Licht wirklich bewahren kann und wer, kaum merklich, im Schatten versinkt.
Im Gleichnis werden bei genauerem Lesen Schritte erkennbar, Bewegungen, die ebenso innere Schritte des Glaubens sein könnten: Von der Ahnung zur Begegnung, von der Begegnung zur Verantwortung. Ein Weg, der sich nicht aufdrängt, sondern still und untergründig führt:
Erwacht - erweckt - erwachsen.
I. Erwacht - zur Welt
Marcel Proust beschreibt in seinem Roman „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ den Moment des Erwachens auf einzigartige Weise:
„Gewiss war ich jetzt wirklich erwacht. Mein Körper hatte sich ein letztes Mal umgedreht, und der gute Engel der Gewissheit hatte alles um mich her angehalten, mich in meinem Schlafzimmer unter meinen Laken verpackt und in der Dunkelheit meinen Kleiderschrank, meinen Schreibtisch, meinen Kamin, das Fenster zur Straße und die beiden Türen annähernd an ihren Platz gestellt.“
Diese Beschreibung lässt das Erwachen fast unheimlich wirken - als müsse sich die Welt erst wieder an sich selbst erinnern. Erwachen ist nie bloß ein Augenaufschlag, sondern die Heimkehr in die Wirklichkeit. Sie beginnt mit dem behutsamen Einsammeln der Dinge, bis alles wieder die vertraute Gestalt angenommen hat.
Dem Gleichnis geht dieser geheimnisvolle Anfang des Tages voraus: die Frauen sind erwacht, jede für sich, aber alle mit einer Ahnung, dass etwas Großes bevorsteht. Sie haben ihre Lampen geputzt und gefüllt und das Herz bereitet. Sie wissen, heute geht es nicht um den Alltag, sondern um eine besondere Begegnung. Dieses Erwachen ist vorerst nur ein Riss im Dunkel. Noch behütet vom „guten Engel der Gewissheit“. Sie wissen nur, was ihnen gesagt wurde, nicht aber, was es für sie bedeuten wird. Es ist eine zarte Klarheit ohne Richtung, die jeder große Tag hat, bevor er sich zeigt.
II. Erweckt – zur Freiheit der Kinder Gottes
Erweckt wird, wer angerührt wird – nicht durch Wissen, sondern durch das sanfte, kaum fassbare Wiedererkennen längst vertrauter Worte und Gewissheiten. Es ist der Moment, in dem etwas von außen geschieht und innen zugleich eine Tür aufspringt, die man längst vergessen oder fest verschlossen glaubte.
Ich erinnere mich an ein solches unvorbereitetes Gewecktwerden mitten im Wachsein. Ich war auf einen Bauernhof gerufen worden, um einen alten Mann „auszusegnen“, wie es damals in ländlichen Gemeinden noch üblich war. Das Sterbebett stand in der Mitte des Zimmers. Nachbarn, Freunde und Kinder hatten sich still versammelt. Der alte Bauer lag im schwarzen Sonntagsanzug auf dem Bett, als ob er schlief. In der Hand hielt er einen Strauß weißer Rosen. Viel Worte wurden nicht erwartet. Das Vaterunser, ein Liedvers, der vertraute, biblische Segen. Da öffnete sich noch einmal die Tür, und Kalli, der vierjährige Enkel, kam in die Stille gepurzelt. Er ging an das Bett, schaute lange auf den Großvater, dann hellte sich sein Gesicht auf. Er zeigte auf die Rosen und sagte leise aber klar: „Oh, eine Hochzeit.“
Alle schwiegen. Und alle hatten verstanden. Denn in diesen kindlichen Worten lag mehr lebendiger Trost als in vielen Predigten. Und in den Rosen leuchtete für einen Moment das ganze Hochzeitsgleichnis auf. Der kleine Kalli hatte gesehen, was viele Erwachsene längst vergessen haben: dass der Tod eine Schwelle ist, keine Grenze, und dass der Ruf Gottes manchmal wie ein helles Fest klingt. Gerade, wenn er uns im tiefsten Dunkel erreicht.
So wie im Gleichnis. Der Ruf des Bräutigams ergeht mitten in der Nacht. Nicht als Donner, kein Befehl – nur ein Ruf zurück in die Gewissheit. Geweckt werden alle, doch wach bleibt nur, wem der Ruf bis ins Innere dringt. Manche wollen weiter schlafen, als könnten sie sich der Wirklichkeit entziehen. Wo aber der Ruf ankommt, verwandelt sich alles: Das Warten bekommt eine Richtung, und die Nacht verliert etwas von ihrer Macht.
III. Erwachsen – zu sich selbst entlassen
Ein Mensch, der zu sich selbst erwacht ist, muss sich immer von neuem entscheiden. Nur so bleibt er wach. Seine Freiheit ist nicht länger ein Versprechen, sondern eine Forderung. Sie ist erwachsen geworden. Jean-Paul Sartre hat es mit schonungsloser Klarheit gesagt:
„Der Mensch ist zur Freiheit verurteilt.“
Dieses Wort klingt bedrohlich. Aber es birgt einen Zuspruch. Freiheit heißt: Ich bin gemeint. Ich bin selbst verantwortlich. Auch für mein Licht. Niemand kann das Öl eines anderen leihen und verbrauchen. Ich bin zu mir selbst entlassen. Ich kann glauben, hoffen, lieben. Jede Lampe brennt aus einer eigenen, einzigartigen Sehnsucht.
Das Gleichnis könnte so weiter gelesen werden: Erwachsen ist, wer die Verantwortung für sein Licht nicht verweigert. Wer nicht anderen die Schuld gibt, wenn es dunkel ist, sondern seine eigene kleine Flamme schützt, nährt und versorgt, auch wenn der Wind unberechenbar und die Nacht lang und feindlich erscheint. Manchmal hält der „gute Engel der Gewissheit“ so unerwartet wie barmherzig für einen Moment das Wüten der ganzen Welt an. Dann können wir aufatmen und neu beginnen. Die Freiheit muss immer von neuem heranwachsen zur Verantwortung – nicht aus Zwang, sondern aus Würde.
Die Tür zu dieser Freiheit ist immer offen, das lässt sich bei Franz Kafka lernen. Aber es bleibt die Lebensaufgabe jedes einzelnen Menschen, hindurchzugehen, selbst wenn sie aussieht wie eine vermauerte Wand.
Das Fest, zu dem der Bräutigam ruft, ist die Feier dieser Freiheit.
In der Zuversicht, dass das Warten nicht vergeblich war, dass das gelebte Leben aufgeht in einem höheren Sinn, dürfen wir ihm entgegengehen.
„Darum wachet, denn ihr wisst weder Tag noch Stunde, heißt es deshalb am Schluss.
Bleibt wach – nicht aus Angst, sondern aus Hoffnung. Der Tag ist heute. Die Stunde ist jetzt. Jeden Augenblicklich kann der Ruf ergehen.
Und vielleicht, wenn wir dann wie Kalli die Rosen sehen, werden wir mit derselben stillen Gewissheit sagen können:
„Oh, eine Hochzeit!“
Amen.
1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Eine Gemeinde vor den Toren einer Großstadt in ländlicher Region in Ostwestfalen. Neben traditionellen Angeboten gibt es eine rege Jugend- und Konfirmandenarbeit. Die ehemalige Patronatskirche liegt zentral im alten Dorfkern. Die Gottesdienste sind in der Regel gut besucht. Es gibt vielfältige Kirchenmusik. Den Gottesdienst wird der Posaunenchor mitgestalten.
2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Der „gute Engel der Gewissheit“ beim Aufwachen von Marcel Proust, aber auch der vierjährige Kalli am Sterbebett seines Großvaters (Teil II der Predigt
3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Dass ich mir die Freiheit der Kinder Gottes und des Glaubens nicht ausleihen kann.
4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Die Hoffnung, dass die Tür am Ende offen bleibt.