(14) Flüchtlingsrequiem // Predigt über Jes 58, 6-10 von Dielind Jochims
58,6-10

Jesaja 58, 6-10

6 Nein – ein Fasten, das mir gefällt, sieht anders aus: Löst die Fesseln der Menschen, die man zu Unrecht gefangen hält, befreit sie vom drückenden Joch der Sklaverei und gebt ihnen ihre Freiheit wieder! Schafft jede Art von Unterdrückung ab! 

7 Teilt euer Brot mit den Hungrigen, nehmt Obdachlose bei euch auf, und wenn ihr einem begegnet, der in Lumpen herumläuft, gebt ihm Kleider! Helft, wo ihr könnt, und verschließt eure Augen nicht vor den Nöten eurer Mitmenschen! 

8 Dann wird mein Licht eure Dunkelheit vertreiben wie die Morgensonne, und in kurzer Zeit sind eure Wunden geheilt. Eure barmherzigen Taten gehen vor euch her, und meine Herrlichkeit beschließt euren Zug. 

9 Wenn ihr dann zu mir ruft, werde ich euch antworten. Wenn ihr um Hilfe schreit, werde ich sagen: ›Ja, hier bin ich.‹ Beseitigt jede Art von Unterdrückung! Hört auf, verächtlich mit dem Finger auf andere zu zeigen, macht Schluss mit aller Verleumdung! 

10 Nehmt euch der Hungernden an und gebt ihnen zu essen, versorgt die Notleidenden mit allem Nötigen! Dann wird mein Licht eure Finsternis durchbrechen. Die Nacht um euch her wird zum hellen Tag.

 

Liebe Alle, schön, dass ihr da seid. Schön und wichtig.

Licht und Finsternis, das sind nicht nur physikalische Begriffe. Licht und Finsternis, das Bild sagt auch etwas aus über das Klima des Miteinander-Lebens, über Humanität oder fehlende Menschlichkeit. Von Licht in der Dunkelheit lebt dieses Requiem, kleine Lichter entlang der Liste der vielen Toten. 

Licht und Finsternis. Licht in der Finsternis. Oder Finsternis, die wahrhaft dunkel ist. In was für einer Zeit leben wir? Ist es Licht? Ist es dunkel? Und woran messen wir das?

In einer jüdischen Legende fragt ein Schüler den Rabbi: Wann überwindet der Tag die Nacht? Was ist die Stunde des Morgenglanzes? Ist es dann, wenn man ein Schaf von einem Hund oder einen Dattel- von einem Feigenbaum unterscheiden kann?

Die Antwort des Rabbis: Es ist dann, wenn du in das Gesicht irgendeines Menschen blickst und dir ein Licht aufgeht und du erkennst: Ich sehe meine verletzliche Schwester oder meinen verletzlichen Bruder. Bis dahin ist Nacht noch bei uns.

Es sind migrationspolitisch erbärmliche Zeiten. Finstere Nacht. Nicht nur beklagen wir wie jedes Jahr die vielen Toten auf den Migrationsrouten, denen Europa die Rettung verweigert hat. Deutlich wie mir nicht zuvor wird die aktive Bekämpfung.            

Don‘t shoot us! 

Aber es wird geschossen. Auf Helfende und Flüchtende. 

Zwar hat bisher kein europäischer Beamter den Finger am Abzug. Aber die Waffen werden geliefert, die Schützen werden ausgebildet, die Milizen lässt man gewähren. Europa lässt nicht nur sterben. Europa arbeitet für das Sterben. Nicht nur, was die Seenotrettung angeht. Abschottung, Ausgrenzung, Drohungen, Angstmache, Stadtbild-Diskussionen. Nichts von dem macht das Leben heller. Wo wird in das Gesicht eines Menschen geblickt und darin ein Bruder, eine Schwester erkannt? Es wird dunkel. Für Geflüchtete oder Menschen, die aussehen, als könnten sie welche sein. Für die, die als „anders“ gesehen werden. Und im Endeffekt für uns. Für uns alle. Unsere Politik lässt es dunkel bleiben, dunkel werden. 

Und nicht nur die Politik. Die Globalisierung der Gleichgültigkeit in der Gesellschaft, die hatte Papst Franziskus bei seinem Besuch auf Lampedusa 2013 angeprangert. Eine Globalisierung der Ohnmacht sei daraus erwachsen, sagt Papst Leo 2025. Eine Haltung, die angesichts des Gefühls, dass wir doch nichts wirklich tun können, Gefahr läuft, gar nichts mehr zu tun, zu resignieren. 

Und ich denke weiter, es gibt dazu inzwischen auch eine Globalisierung der Abgrenzung, der Feindseligkeit, des Misstrauens. Ob Gleichgültigkeit, Ohnmacht oder Misstrauen. Ich kann sie sogar nachvollziehen, diese Gefühle. Jeder kennt sie vermutlich von Zeit zu Zeit. 

Niemand kann sich alle Not zu Herzen nehmen. Ohnmacht auszuhalten ist schwer, und doch gehört es dazu zu unserem Wirken, zu unserem Leben. Und selbst das Misstrauen, das so zersetzend sein kann, weil wir doch vertrauen möchten und müssen, um in dieser Welt nicht zu verzweifeln, selbst das Misstrauen kann ich manchmal nachvollziehen. Viel Vertrauen ist verloren gegangen in den letzten Jahren. 

Gleichgültigkeit, Ohnmacht, Misstrauen. Sie sind nachvollziehbar, wir alle kennen sie. Nur: Sie machen unsere Welt nicht besser und kein bisschen heller. 

Als Haltung, als Leitsterne, als Licht taugen sie nicht. Wir brauchen etwas anderes. Am besten mindestens genauso globalisiert. Der Prophet Jesaja beschreibt es in einfachen Worten. 

„Löst die Fesseln der Menschen, die man zu Unrecht gefangen hält, befreit sie vom drückenden Joch der Sklaverei und gebt ihnen ihre Freiheit wieder! Schafft jede Art von Unterdrückung ab! Teilt euer Brot mit den Hungrigen, nehmt Obdachlose bei euch auf, und wenn ihr einem begegnet, der in Lumpen herumläuft, gebt ihm Kleider! Helft, wo ihr könnt, und verschließt eure Augen nicht vor den Nöten eurer Mitmenschen! Beseitigt jede Art von Unterdrückung! Hört auf, verächtlich mit dem Finger auf andere zu zeigen, macht Schluss mit aller Verleumdung! Nehmt euch der Hungernden an und gebt ihnen zu essen, versorgt die Notleidenden mit allem Nötigen!“ 

Das ist Gottesdienst! Das ist, wie Jesaja sagt „gottgefälliges Handeln“.                        

Freiheit. Sicherheit. Solidarität. Gerechtigkeit. 

Schon vor fast 3000 Jahren war klar, dass SO die Welt, das Miteinander heller werden kann. Nicht mit Othering,  Stadtbilddiskussionen, Sterben-Lassen.

Wir waren vor wenigen Wochen in Spanien, auch auf der kleinsten Kanareninsel El Hierro. Dort landet bei nur 8000 dauerhaften BewohnerInnen die große Zahl der Boots-Flüchtlinge aus Westafrika an, 46000 waren es letztes Jahr. Für die, die El Hierro nicht lebend erreichen, wird auf einem der drei Dorffriedhöfe eine Trauerfeier ausgerichtet, ein Grab bestellt. Neben den Gräbern der Dorfbewohner.                     

Für jeden wird eine Grabplatte, ein Stein gefertigt. Nach dem Namen wird geforscht. Und jedes Mal sind bei den Beerdigungen nicht nur überlebende Familienmitglieder anwesend, sondern Ersthelfer:innen vom Hafen, Besitzer der Restaurants an der Hafenmole, Inselbewohner, der Bürgermeister manchmal. Eine ältere Dame faltet für jedes Grab ein kleines buntes Boot.

Ein bisschen Würde, wenn auch posthum. So wie wir es mit diesem Requiem versuchen. Eine Erinnerung daran, dass jeder dieser Menschen einen Namen, eine Familie, Hoffnungen, Träume hatte. DAS macht unsere Welt etwas heller. Gemeinschaften, die Würde bewahren. Für die Toten - und auch für die Lebenden.

Die meisten Geflüchteten von El Hierro werden nach kurzer Zeit weiterverteilt. Auf der Insel gibt es kaum Perspektiven. Wir haben eine Ausnahme kennengelernt: Omar ist geblieben. Als Minderjähriger kam er von Guinea auf der Insel an und wurde quasi von El Hierro adoptiert. Jeder kennt ihn und grüßt ihn. Omar ist unverzichtbares Mitglied der Ersthelfenden, ist bei jeder Anlandung da. Er spricht 11 Sprachen. Bald will er anfangen, bei der Polizei zu arbeiten. Als Dolmetscher. Für Geflüchtete. Zurückgeben möchte er etwas von dem, was ihm Gutes widerfahren ist, sagt er.

DAS macht unsere Welt etwas heller. Menschen, die zurückgeben, wenn sie Gutes erfahren haben. Die etwas wie ein Licht weitertragen. Vielleicht ist das essentiell dafür, dass Gott durch uns die Welt heller machen kann: Dass wir selbst erfahren haben, wie etwas gut wird. Dass wir selbst Licht in uns spüren. Die Quäker nennen es „das von Gott“, Gott in uns, ein göttliches Licht in jedem von uns. Das befähigt uns zu scheinen. 

Spürt ihr, spüren Sie es manchmal? Dieses Licht? Das es warm macht in uns und heller in Herz und Kopf?

Wir sind alle dazu gedacht zu leuchten. 

Nelson Mandela hat das in seiner Antrittsrede 1994 mit einem Gedanken von Marianna Williamson berühmt gemacht:

Wir wurden geboren, um die Göttlichkeit, die in uns liegt, 

auf die Welt zu bringen.

Sie ist nicht nur in einigen von uns, sie ist in jedem!

Und indem wir unser eigenes Licht strahlen lassen, 

geben wir anderen Menschen unbewusst die Erlaubnis 

das Gleiche zu tun.

Wenn wir von unserer eigenen Angst befreit sind, 

befreit unser Dasein automatisch die anderen.

 

Wunderschön. 

Und gleichzeitig: Dass unsere Welt heller wird, ist ja viel mehr als eine individualistische Tugendethik. Es ist eine gemeinschaftliche Aufgabe, eine gemeinschaftliche Verheißung. Vielleicht ist es schwer, zu glauben, dass das gute Leben für alle möglich ist? Ja. Oft. Aber: Menschen entkamen den Sklavenhäusern dieser Welt, Herrschende wurden von den Thronen gestürzt. Menschen wurden aus dem Meer gerettet, wurden bewahrt vor dem Verhungern und Verdursten in der Wüste. Das war und ist möglich. Und wir kennen doch gar nicht die Grenzen des Möglichen.                

Ich bin mir sicher, das „das von Gott“ in allem, was lebt, wirken kann. Auch in uns. Und es wartet darauf, frei und sichtbar zu werden. 

Amen.