Die Welt zusammenfügen.
Eine Frau. Nennen wir sie A. Sie wohnt in Berlin und hat ihr eigenes Leben. Alle ihre Bekannten und Freunde sagen es so: Du hast doch dein eigenes Leben. Deine eigenen Kinder. Deine Wohnung, dein Beruf. Vor Jahren, als die Kinder kleiner waren, ist sie immer mal wieder „nach Hause“ gefahren, mit dem ICE quer durchs Land und dann, spätestens in der Regionalbahn, wurde ihr doch schwindelig und übel. Sie kehrte zurück in ein Zuhause, in dem niemand sie ansah, wo es jeder Zeit passieren konnte, dass jemand ein Urteil über sie sprach: ein hässlicher Haarschnitt, mit den Kindern machte sie dies und jenes falsch und überhaupt war sie zu dick geworden. Einmal wurden ihr alle Geschenke zurückgegeben, die sie ihren Eltern im Lauf ihres Lebens gemacht hatte. Abends weinte sie auf der Gästematratze, kuschelte ihr Gesicht an den Rücken eines Kleinkinds, das schlaftrunken in die Dunkelheit sprach: Mama, nicht weinen.
Seit vier Jahren war A. nun nicht mehr „unten“. Sie hat Geburtstage ignoriert und einen Brief geschrieben, dass sie nicht mehr kommt, aber im Notfall ansprechbar sei. Sie hat den Kontakt abgebrochen. Sie hat sich in Sicherheit gebracht.
Gott spricht: siehe, ich mache alles neu.
Neue Ansichten über das Leben, neue Rituale für Weihnachten und Geburtstag, neue Erziehungsgrundsätze und neue Essgewohnheiten, ein neuer Freund, noch ein neuer Freund, ein neuer Beruf, sogar eine neue Religion; sie hat sich taufen lassen. Gott spricht: ich mache alles neu.
Aber das Alte hat seine Macht nicht verloren. Innerlich schleppt sie alte Vorstellungen mit sich herum. Sie macht sich Sorgen über ihr Aussehen, wertet ihre Erfolge ab. Sie entschuldigt sich oft und hat viele harte Gedanken über sich selbst. Und überall und immer tauchen wie von selbst Männer auf, die sie dominieren und abwerten. Als hätte sie nicht neu angefangen. Als ginge das alte Lied einfach immer weiter. Und jetzt ist noch ein Schuldgefühl dazugekommen: Was fällt ihr ein, die Familie zu verlassen? Hat sie denn keinen Respekt vor ihrer alten Mutter? Keinen Anstand, kein Benehmen? Unübersehbar leuchtet ihr die Botschaft in Kinofilmen und Zeitschriften und auch in Gottesdiensten entgegen: Die Eltern verlassen, das darfst du nicht! Und überhaupt, so schlimm war das alles doch auch nicht. Du musst langsam darüber hinwegkommen. Du bist schließlich erwachsen. Wenn Menschen in der Gemeinde ihre Lebensgeschichten erzählen, bleibt A. stumm. Sie hat das Gefühl, ihre Geschichte kann man nicht erzählen. Sie hält sich mühsam aufrecht und lebt ihr eigenes, ihr neues Leben.
Gott spricht: Ich mache alles neu.
Mir scheint, die Worte der Jahreslosung 2026 sind ziemlich voraussetzungsreich. Neuanfänge, das mag die kurze Geschichte von A. zeigen, sind kompliziert und anspruchsvoll. Wie kann es gelingen, Gott darin zu vertrauen, dass Er alles neu machen wird? Der Vers erregt außerdem Widerspruch, weil „das Neue“ nicht vorbehaltlos und notwendig immer das Gute ist. Zurecht protestieren traditionsbewusste Menschen gegen eine Wegwerfmentalität und Konsumfreude, die nur das Neue wertschätzt.
In der Johannesoffenbarung steht der Losungsvers im Zusammenhang der folgenden Verse:
„Und ich sah einen neuen Himmel und eine neue Erde, denn der erste Himmel und die erste Erde sind vergangen und das Meer ist nicht mehr. Und ich sah die heilige Stadt, das neue Jerusalem, von Gott aus dem Himmel herabkommen, bereitet wie eine geschmückte Braut für ihren Mann. Und ich hörte eine große Stimme von dem Thron her, die sprach: Siehe da, die Hütte Gottes bei den Menschen! Und er wird bei ihnen wohnen, und sie werden seine Völker sein, und er selbst, Gott mit ihnen, wird ihr Gott sein; und Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein; denn das Erste ist vergangen.“
Vielleicht erinnern Sie sich an eine Szene im Kinofilm Titanic, in der ein Priester diese Verse rezitiert und Menschen halten sich an ihm und an diesen Worten fest, während das Schiff untergeht. Im Untergehen halten sie sich fest an einer von Gott zugesagten Hoffnung auf Neuanfang. Auch der frühchristliche Prophet Johannes, der Autor des Textes, befindet sich in einer Notsituation aufgrund des existenziellen Widerspruchs, in den Christen im römischen Reich im ersten und zweiten Jahrhundert gerieten. Johannes ist ein auf die Insel Patmos Verbannter. Er schreibt seine Offenbarung als Briefe an andere Christen im römischen Reich, die sich an seinen Worten festhalten und Hoffnung schöpfen.
Sagen lässt sich: Die Zusage Gottes: Ich mache alles neu! richtet sich zuerst an Menschen, die verzweifelt sind. An Menschen, die jetzt Angst haben oder die in ausweglosen Situationen feststecken. Aber wie kann sie an Plausibilität gewinnen, wenn sie nicht Jenseitsvertröstung bleiben soll? Oder nur ein schön klingendes Wort, das wir mit niedlichen Abbildungen illustriert verschenken und ein Jahr lang auf Kalendern und Postkarten ansehen, gut gemeint, aber ohne Relevanz für das Leben? Mit anderen Worten: Was bedeutet die Zusage, dass Gott alles neu macht uns? Wo wird dieses Versprechen eine konkrete Hoffnung, die uns wirklich berührt, anspricht und weiterbringt?
Ein Zugang dazu kann darin bestehen, Menschen zuzuhören, die Katastrophen überlebt haben. Menschen, die etwas vom Neuanfangen erzählen können. Zum Beispiel der Schriftstellerin Cordelia Edvardson. Die Autorin, die bis zu ihrem 14. Lebensjahr in Berlin-Siemensstadt und Grunewald lebte, ist heute nicht mehr sehr bekannt. Ein wenig ist an sie erinnert worden anlässlich der Neuauflage ihres 1984 zuerst publizierten Romans Gebranntes Kind sucht das Feuer im Jahr 2023, zu der Daniel Kehlmann ein Nachwort geschrieben hat. Der Roman ist ein Erinnerungsbuch über die Konzentrationslager aus der Perspektive einer Überlebenden, die von der Schoa als Teil einer Beziehungsgeschichte mit ihrer Mutter erzählt. Neben dem Roman hat Edvardson weitere Bücher geschrieben, die versuchen, die in Auschwitz zerrissene Welt „wiederherzustellen“. Edvardson findet hierfür ein jüdisches Motiv: tikun ha olam, das sie mehrfach erklärt:
„Unsere Barmherzigkeit ist unser unermüdliches Bestreben tikun ha olam - die Welt wiederherzustellen - , indem wir geduldig und gewissenhaft ihre Scherben aufsammeln. Wir werden uns an den scharfen Kanten schneiden, wir werden verzweifeln und wieder von vorn beginnen müssen. Das Werk der Barmherzigkeit, des Erbarmens, wird nie vollbracht werden, das liegt in der Natur der Sache, aber wir können den Boden bereiten für jene, die nach uns kommen.“ (32)
An anderer Stelle schreibt sie:
„Es gibt ein hebräisches Wort, das uns gebietet tikun ha olam - die Welt wiederherzustellen. Vielleicht, wahrscheinlich, ist es unmöglich, die Welt nach Auschwitz wieder zusammenzufügen, aber wir können und müssen die Wunde offenhalten und dafür sorgen, dass sie nicht zu stinkendem, schwärendem Unrat wird.“ (49f.)
Edvardson, die als Kind und Jugendliche überhaupt keine jüdischen Rituale erlebt hat, findet viel später in ihrem Leben, in der Liturgie des Pessach, eine Sprache für diese innere Aufgabe. Zusammen mit anderen Überlebenden erlebt sie die Pessachliturgie als ein Ritual, das dem Wiederaufbau der Welt dient. Im gemeinsamen Lesen, Erinnern und Essen wird die Welt, und sei es für die Dauer eines Abends, zu einer Welt, in der sie Person sein kann. Zentral steht die für sie als Neuheit erlebte Einsicht, dass es gut und bedeutsam ist, am Leben zu sein. „am Israel chai - das Volk Israel lebt“.
Cordelia Edvardson hat extremes Grauen erlebt. Ihre Erfahrung im Pessach und ihre Bücher, in denen sie erzählend und deutend tikun ha olam, die Scherben ihrer Welt zusammenfügt, ist trotzdem eine wertvolle Einsicht auch für Neuanfänge heute. Mehr als 120 Million Menschen sind in diesem Augenblick auf der Flucht. Eine kaum vorstellbar große Zahl unserer Mitmenschen hat ganz real und konkret das Zuhause verloren und steht vor der anspruchsvollen Aufgabe, irgendwo neu anzufangen. Cordelia Edvardson erzählt davon, dass es, selbst dann, wenn ein Mensch politisch und physisch in Sicherheit ist, alles andere als einfach ist, in der Welt zu Hause zu sein. Fast alles kommt darauf an, ob es Menschen gibt, die barmherzig mit uns sprechen und umgehen. Erst die barmherzigen Worte anderer Menschen machen die Welt zu einem Ort, an dem man leben kann, einem „Kosmos“. So verstehe ich die Vision des Verbannten auf Patmos: Gott spricht, ich mache alles neu. Die Zusage Gottes, er werde abwischen alle Tränen und alles neu machen, ist ein Ausdruck seines Mitgefühls mit dem Schmerz der Menschen. Es bedeutet das Gegenteil von tabula rasa. Es bedeutet, unsere Welt, da wo sie in Scherben liegt, neu zu schaffen. Und zwar wie? Mit demselben Mittel, das Er von Ewigkeit her nutzt. Das Wort der Barmherzigkeit.
Die Jahreslosung weckt mit dem verbannten Propheten Johannes auch die Erinnerung an eine Zeit, in der die Kirche sich ihrer selbst und ihrer Rolle in der Gesellschaft nicht sicher sein konnte. Die Kirche war selbst verletzlich. Denke ich an die Gemeinden, die sich trösten lassen von den Visionen eines Geflüchteten oder an die Überlebenden, die mit Cordelia Edvardson Pessach feierten, erneuern diese Bilder und Erinnerungen meinen Glauben.
Ob Jerusalem kommt wie eine geschmückte Braut?
Ob Gott von einem Thron steigt und in einer Hütte bei den Menschen wohnt?
Ich weiß nicht, ob ich das glauben kann.
Aber ich spüre die Hoffnung, die sich gründet auf die Mitteilungen anderer trostbedürftiger Menschen, denen es gelungen ist - für die Dauer eines feierlichen Abends, bei der Lektüre eines guten Buches oder eines bedeutsamen Briefs, im gegenseitigen Verstehen - die Welt zusammenzufügen, sie zu einem Ort zu machen, an dem man weiterleben kann.
Ich treffe A. in einem Café vor der Kirche in Berlin Wedding. Sie erzählt davon, wie einsam sie sich immernoch oft fühlt und wie anstrengend es für sie ist, herauszufinden, wer sie ist, ohne sich auf die Gewohnheiten einer Familientradition abzustützen. Aber das mit den Schuldgefühlen habe sich entwickelt. A. holt einen Brief aus ihrer Tasche und legt ihn auf den Tisch. Sie lächelt nervös, aber sie wirkt auf eine ganz neue Weise sicher. Es ist der Brief, den ihr Großvater 1944 an seine Frau, A.s Großmutter, geschrieben hat, als diese mit dem dritten Kind schwanger in einem Dorf im heutigen Tschechien wartete, während As Großvater, ein einflussreicher Nationalsozialist, in Berlin im Innenministerium am so genannten „Endsieg“ arbeitete. Der Brief hat A. schockiert. Vor allem die Sprache ließ sie schaudern, die Kälte und Härte und Unmenschlichkeit, die Verdrehung von echten Werten in falsche; das verrückte Gerede über das tausendjährige Reich, während eine Frau mit zwei kleinen Kindern schwanger und allein aushält und, so vermutet A., auf ein Wort des Mitgefühls oder der Ermutigung von ihrem Mann gehofft hat. Sie spürt, dieser Brief, so unangenehm und schrecklich, geht sie etwas an. Sie erklärt es mir mit Tränen in den Augen: Sie hat Mitgefühl mit der Frau, die diesen Brief empfangen hat, mit ihrer schwangeren Großmutter. Und dieses Gefühl erlöst etwas in ihr. A. weint. Sie sagt, sie habe endlich begriffen, dass sie selber wirklich nicht Schuld hat.
Gott spricht: siehe, ich mache alles neu.
Er erneuert die Unschuld, die wir brauchen, um uns selbst und andere zu lieben.
Ich wünsche mir für das Jahr 2026, dass Kirche eine Gemeinschaft von Menschen ist, die einander dabei unterstützen, die Welt zusammenzufügen, da wo sie in Scherben liegt. Nicht mit Selbstgewissheit, sondern mit Barmherzigkeit, mit Mitgefühl und Hoffnung.
Amen.