„…nur um ein Kind zu sehen“!? - Predigt über Johannes 7, 28-29 von Claudia Trauthig
7,28
„…nur um ein Kind zu sehen“!?
  
  Liebe Gemeinde in der Heiligen Nacht,
  
  Lisa ist 11 Jahre alt und besucht die 6. Klasse eines Gymnasiums.
  
  Sie ist getauft -
  hat aber mit der Kirche nicht so viel „am Hut“.
  
  Vor dem Schuljahr
  hat Lisa ernsthaft überlegt, ob sie sich nicht von Reli abmelden lässt.
  Schließlich ist das immer donnerstags in der 1.+ 2. Stunde.
  „Länger ausschlafen wär´ doch so schön – erst recht im Winter.“
  „Ich muss erst zur 3. Stunde kommen“, stichelt ihre Freundin –
  „und weniger lernen muss ich auch“.
  Aber Lisa hat es dann trotzdem probiert.
  Mittlerweile -
  ist sie eine der besten Schülerinnen und hofft auf eine „Eins“ in Reli.
  Als sie in der Klassenarbeit einen biblischen Text wählen soll,
  in dem „Hirten“ vorkommen,
  entscheidet sie sich für die Weihnachtsgeschichte:
  In kindlichen Worten, doch detailliert erzählt sie sie nach:
  Die unglaublich finstere Nacht über Bethlehem.
  Die Hirten, die in der Kälte bei den Schafen aushalten…
  Dann aber aufgeschreckt durch den Engel
  und ermutigt ((noch mehr!)):
  „Fürchtet euch nicht!“
  das kleine Feuer und ihre Herden verlassen,
  der kargen Heimstatt den Rücken zukehren…
  und in die finstere Nacht hinein…
  laufen.
  
  „Und sie liefen sooo weit“,
  schreibt Lisa,
  „nur um ein Kind zu sehen“.
  
  Sie liefen so weit -
  nur um ein Kind zu sehen.
  
  Die Anziehungskraft dieses Kindes
  ist unfassbar.
  Sie wirkt auch heute.
  Sie macht die Kirchen erneut so voll –
  wie sonst nie im Jahr.
  Das weiche Licht,
  das vom Stall in die Nacht hinein fällt,
  ist nicht von dieser Welt:
  
  Es lässt hartgesottene Kerle
  alles hinter sich lassen,
  ihr ganzes Hab und Gut
  und nur noch staunen…,
  um dann
  erstaunt und verwandelt
  neu zur Welt kommen:
  Als sie es aber gesehen hatten,
  breiteten sie das Wort aus,
  das zu ihnen von diesem Kinde gesagt war.
  Liebe Gemeinde,
  Jene Hirten sind die ersten Missionare der Christenheit.
  Was und wie viel ihr Wort im Einzelnen wirkt, erfahren wir nirgends.
  Der Predigttext für diesen Abend,
  vorgegeben für die deutschsprachige Christenheit 2012,
  setzt an ganz anderer Stelle an und klingt wenig weihnachtlich.
  Doch die Botschaft der Hirten geht ihm voraus…
  Hören wir aus dem Johannesevangelium, vom 7. Kapitel die Verse
  28+29:
  Da rief Jesus, der im Tempel lehrte:
  Ihr kennt mich und wisst, woher ich bin.
  Aber nicht von mir selbst aus bin ich gekommen,
  sondern es ist ein Wahrhaftiger, der mich gesandt hat,
  den ihr nicht kennt.
  Ich aber kenne ihn;
  denn ich bin von ihm
  und er hat mich gesandt.
  
  Wahrhaftig – dieses Kind ist Gottessohn!
  Liebe Gemeinde,
  aus dem harmlosen Kind
  ist ein ausgewachsener Mann geworden.
  Mit diesen zwei Versen geraten wir mitten hinein in die Auseinandersetzungen um diesen Mann: Jesus.
  Seine Anziehungskraft ist nicht verschwunden.
  Im Gegenteil.
  Nun sind es nicht mehr nur Hirten,
  „wahrscheinlich betrunken“,
  die aus dem Staunen nicht mehr herauskommen.
  Nun sind es Kranke,
  die neues Leben in sich spüren.
  Es sind Ausgegrenzte,
  die mitten hinein geholt werden
  in die Gemeinschaft.
  Nun sind es Arme,
  die sich für ihre Armut nicht länger schämen.
  Es sind Reiche,
  die nach dem wahren Leben fragen.
  Es sind Frauen,
  die Anerkennung für ihr Wissen und ihre Liebe bekommen.
  Und es sind (und bleiben!) Kinder,
  die dem Himmelreich am nächsten kommen.
  
  Seit den Tagen über den Feldern von Bethlehem
  ist eine Volksbewegung in Gang gekommen.
  Nicht mehr übersehbar, nicht überhörbar ist sie.
  Der Zimmermannssohn aus Nazareth stört die Ordnung,
  hebt das herrschende Prinzip:
  von oben oder unten,
  arm oder reich,
  VIP oder Nobody
  …
  ganz einfach auf,
  kinderleicht.
  
  Und das alles ausgerechnet,
  wo man schon genug Scherereien mit diesen Römern hat.
  Zusätzlichen Ärger kann man nicht gebrauchen.
  Das soll Gottes Sohn sein,
  der „Heiland“?
  Dieser Kerl aus Nazareth?
  Lasst uns ihn herausfordern.
  Lästert der Gott, so haben wir ihn…
  Den kriegen wir schon noch klein, diesen Jesus „Christus“!
  
  Jesus aber antwortet unbeirrt und frei heraus:
  
  Ihr kennt mich und wisst, woher ich bin.
  Aber nicht von mir selbst aus
  bin ich gekommen,
  sondern es ist ein Wahrhaftiger,
  der mich gesandt hat, den ihr nicht kennt.
  Ich aber kenne ihn;
  denn ich bin von ihm -
  und er hat mich gesandt.
  
  Nicht nur für uns klingt diese Antwort ungewöhnlich.
  Die Gegner Jesu haben noch mehr Mühe zu folgen.
  „Es ist ein Wahrhaftiger, der mich gesandt hat, den ihr nicht kennt.“
  Was will er damit sagen?
  Klingt ja fast wie eine Beleidigung, was der sich einbildet!?
  
  Zeiten zunehmenden Lichts
  Liebe Gemeinde,
  stellen Sie sich vor, diesen ausgebufften Gegnern Jesu,
  denen es,
  wir alle wissen es ja,
  noch gelingen wird,
  Jesus ans Kreuz zu bringen,
  ihn zu ermorden,
  hätte einer gesagt:
  „Das Licht dieses Menschen verlischt nicht,
  gar nie.
  Was mit seiner Geburt,
  in der Mitte der Nacht, begonnen hat,
  strahlt weiter und weiter…
  Nein – es nimmt sogar zu und zu -
  an Strahlkraft:
  immer mehr und weiter,
  bis an die Enden der Erde?“
  
  Was wäre ihre Reaktion gewesen,
  hätte eine gesagt:
  „Wahrhaftig,
  ob ihr´s glaubt oder nicht:
  in zweitausend Jahren strömen überall auf dieser Erde,
  in Burkina Faso und in Samara,
  in Quebec und in Miami,
  in Montevideo und in Haifa,
  in Kabul und in Revkjavik
  Männer, Frauen, Kinder, Groß und Klein,
  Alte und Junge zusammen,
  um IHN zu feiern,
  sein Kommen in die Welt,
  seine verwandelnde Liebe,
  sein zunehmendes Licht,
  in dieser Welt voller Dunkelheiten…“?
  
  Die biblische Botschaft für dieses Weihnachten mag fremdartig klingen,
  ist aber klar:
  Jesus ist von Gott gekommen.
  Der wahre Gott,
  der „Wahrhaftige“, hat ihn in die Welt gesandt.
  Ihm haftet Wahrheit an:
  die eine, die göttliche, die ewige.
  
  Diese Wahrheit brauchen wir heute nicht weniger als das Volk vor 2000 Jahren.
  Diese Strahlkraft, ihr zunehmendes Licht,
  das einst alles erleuchten wird,
  ist und bleibt unsere Hoffnung,
  wo so vieles,
  was einst leuchtete
  längst nicht mehr glänzt.
  Abnehmendes Licht gibt es zuhauf,
  zunehmendes Licht nur hier an der Krippe.
  
  Denken wir zum Beispiel an die beiden großen Systeme,
  die das Leben in Deutschland nach ´45 bestimmten:
  Hüben wie drüben war man doch
  mehrheitlich und bis ins Mark überzeugt,
  dass jetzt alles besser wird,
  dass wir das Rad neu erfinden,
  „die sozialistische Planwirtschaft wird alle glücklich machen“,
  „die soziale Marktwirtschaft bringt Wohlstand für alle“.
  
  Die DDR ist längst Geschichte.
  Aus der sozialen Marktwirtschaft ist die globale geworden.
  Ihr Licht leuchtet nur noch für die wenigen, doch immer reicheren Reichen.
  Alle anderen spüren, je länger, je mehr: Dies Licht ist doch nur Kunstlicht…
  Und wie viel Unwahrhaftigkeit macht sich breit?
  
  Beharrlich leuchtet das wahre Licht,
  zur Krippe ruft es seit 2000 Jahren:
  aus den Finsternissen unseres Alltags wie dieser Erde:
  Komm – und begegne Gott,
  dem Wahrhaftigen: in Jesus Christus,
  im verletzlichen Kind, ohnmächtig und klein.
  
  Wo diese Begegnung geschieht,
  ist Weihnachten.
  Da kommt Christus zur Welt.
  Überall auf der Erde – auch hier: in Dir.
  Das verändert nicht nur einen Abend und diese Nacht.
  Das verändert alles:
  Denn dies Kind ist das Licht der Welt.
  
  Sie liefen soo weit,
  nur um ein Kind zu sehen.
  
  Das Kind ist jede Anstrengung wert:
  Es ist unser Leben und unser Heil, weil es heil macht, was auch immer heillos scheint, weil es dem Unwillkommenen die Arme entgegenstreckt, weil seine Liebe größer ist als unsere Vorstellungen davon.
  
  „Beste Freunde“ - für das Kind
  Liebe Gemeinde,
  im Predigttext wird dieses Kind groß.
  Das wird es und will es wahrhaftig –
  auch in uns.
  Er will nicht wie eine Krippenfigur spätestens am Dreikönigstag aufgeräumt sein, sondern das Leben in uns und um uns wecken, entfalten.
  Eine der Herzensgeschichte dieses Jahres 2012 ist die des großen Erfolges des Kinofilms „Ziemlich beste Freunde“:
  Ein depressiver, schwerstbehinderter Multimillionär und ein junger Zuwanderer mit krimineller Energie schließen Freundschaft und finden gemeinsam das Leben.
  In einem Interview mit dem französischen Millionär Philippe Pozzo di Borgo, dessen Geschichte viele von Ihnen jetzt kennen, gibt di Borgo einen Hinweis, wie er es sich auch erhält:
  „Vor meinem schweren Unfall“,
  „habe ich zwar toll gelebt, aber mein Ich verloren.
  Nun habe ich es zurück.
  Heute brauche ich jeden Tag mindestens fünf Minuten: absolute Stille.
  In dieser Zeit suche ich es, um seine Stimme zu hören.
  Das Ich ist das Kind in Dir.
  Es ist ganz unschuldig und rein.
  Es ist einfach und menschlich.
  Diesem Kind will ich folgen, auf seine Stimme hören.
  Denn die ist wahr.“
  
  Und sie liefen so weit,
  nur um ein Kind zu sehen.
  Amen.
  
  Anmerkung: Das gedankliche Gegenüber von abnehmendem und zunehmendem Licht verdanke ich meiner Lektüre des Buches „In Zeiten des abnehmenden Lichtes“ von Eugen Ruge sowie einer Predigtmeditation von Pfr. Dr. Martin Hauff in a+b (Arbeit und Besinnung).
  
   
Perikope
24.12.2012
7,28