„Eine peinliche Person“ - Predigt über Jeremia 20, 7-13 von Christoph Schweizer
20,7
Sonntag Okuli, 3. März 2013
Predigt über Jeremia 20,7-13
„Eine peinliche Person“
Liebe Gemeinde,
heute lernen wir eine ziemlich merkwürdige Person kennen. Eine irgendwie peinliche und zugleich eine sehr verunsicherte Person. Das ist an sich nichts Außergewöhnliches, heutzutage, wo uns im Fernsehen ständig peinliche Leute vorgeführt werden.
Über peinliche Leute spotten ist in Mode. War es vielleicht schon immer. Auch die peinliche Person aus unserem Predigttext erzählt, wie hinter ihrem Rücken getuschelt wird, von angeblichen Freunden. Aber wir machen ihre Bekanntschaft nicht, weil wir über sie spotten wollen. Sondern weil wir uns allen Ernstes fragen wollen, was uns diese Person, die vor 2.500 Jahren gelebt hat, heute noch sagen kann.
Die Rede ist vom Propheten Jeremia. Er hat um das Jahr 600 vor Christus in Jerusalem und Umgebung gewirkt. In den ersten Jahren seiner Prophetenkarriere hat er als Unheilsprophet gewirkt, hat den Mächtigen und auch allen anderen seiner Zeit derbe Drohungen entgegengerufen.
Doch wir lernen ihn heute zunächst nicht mit seinen Unheilsdrohungen kennen, sondern mit einem ziemlich intimen Text. Dieser liest sich beinahe wie ein Tagebucheintrag, in dem der Prophet Jeremia sich seinen Frust von der Seele schreibt und seine Selbstzweifel.
Ich lese den heutigen Predigttext, Jeremia 20, 7-13:
7 HERR, du hast mich überredet und ich habe mich überreden lassen. Du bist mir zu stark gewesen und hast gewonnen; aber ich bin darüber zum Spott geworden täglich, und jedermann verlacht mich. 8 Denn sooft ich rede, muss ich schreien; »Frevel und Gewalt!« muss ich rufen. Denn des HERRN Wort ist mir zu Hohn und Spott geworden täglich. 9 Da dachte ich: Ich will nicht mehr an ihn denken und nicht mehr in seinem Namen predigen. Aber es ward in meinem Herzen wie ein brennendes Feuer, in meinen Gebeinen verschlossen, dass ich’s nicht ertragen konnte; ich wäre schier vergangen. 10 Denn ich höre, wie viele heimlich reden: »Schrecken ist um und um!« »Verklagt ihn!« »Wir wollen ihn verklagen!« Alle meine Freunde und Gesellen lauern, ob ich nicht falle: »Vielleicht lässt er sich überlisten, dass wir ihm beikommen können und uns an ihm rächen.«
11 Aber der HERR ist bei mir wie ein starker Held, darum werden meine Verfolger fallen und nicht gewinnen. Sie müssen ganz zuschanden werden, weil es ihnen nicht gelingt. Ewig wird ihre Schande sein und nie vergessen werden. 12 Und nun, HERR Zebaoth, der du die Gerechten prüfst, Nieren und Herz durchschaust: Lass mich deine Vergeltung an ihnen sehen; denn ich habe dir meine Sache befohlen. 13 Singet dem HERRN, rühmet den HERRN, der des Armen Leben aus den Händen der Boshaften errettet!
Wir schauen hier einem verunsicherten, frustrierten Propheten in die Werkstatt und auch ein Stück weit in die Seele. „Herr, du hast mich überredet. Du bist mir zu stark gewesen und hast gewonnen“, schreibt er. Und sieht sich selbst als den Loser, den Verlierer in diesem Spiel: „Ich bin zum Spott geworden täglich, jeder verlacht mich“.
Kein Wunder – er scheint sich ja selbst peinlich und ein Rätsel zu sein: Er kann nicht mal mehr normal mit den Leuten reden, „sooft ich rede, muss ich schreien“. Was für eine peinliche Erscheinung. Und wie peinlich, was er da schreit: eine Unheilsdrohung und Drohpredigt nach der andern. „Frevel und Gewalt muss ich rufen“, heißt es im Predigttext.
Wenn man sich im Jeremiabuch umschaut, dann sieht man, wie drastisch er vom Unheil redet und wie er sich mit wirklich allen anlegt, die Rang und Namen haben: Mit dem Königshaus und den Mächtigen, auch mit dem Kultpersonal des Tempels, das ihm nicht fromm genug ist. Kein Wunder, dass die Leute ihn nicht leiden können.
Aber es wird auch sehr deutlich, dass Jeremia dies nicht aus einer Laune heraus macht, sondern dass er einem inneren Ruf folgt. Dass er gar nicht anders kann.Er hat es ja versucht, berichtet er: „Ich dachte: Ich will nicht mehr an ihn (also an Gott) denken und nicht mehr in seinem Namen predigen“. Aber Pustekuchen: „Es ward in meinem Herzen wie ein brennendes Feuer“. Der Versuch, zu schweigen, hat sich für ihn angefühlt wie ein Verrat an der Sache, von der er erfüllt ist…
Und so schreit er weiter, hält den Mächtigen und den Ohnmächtigen ihre Ungerechtigkeit vor. Scheut dabei vor drastischen Zeichenhandlungen nicht zurück. Geht zum Beispiel mit einem Tonkrug ans Hinnomtal vor den Toren Jerusalems hinaus, wie in den Bibelversen vor unserem Predigtabschnitt berichtet wird. Das Hinnomtal ist eine unwirtliche Schlucht, wo Menschenopfer dargebracht werden – so jedenfalls der Vorwurf des Jeremia. „Dieser Ort soll Würgetal genannt werden“, schreit Jeremia, und dass Gott den Kult an diesem Ort vernichten wird und alle Frevler vernichtet werden sollen. „Ich will ihnen nach dem Leben trachten, will ihre Leichname den Vögeln und den Tieren zum Fraß geben, und ich will diese Stadt zum Entsetzen und zum Spott machen“, schreit der Prophet. Und dann zerschmeißt er den mitgebrachten Tonkrug und sagt: So soll dieses Volk und diese Stadt zerbrochen werden.
Mit solchen Predigten macht man sich keine Freunde. Das ist auch dem Jeremia klar. Er hört das Getuschel in seinem Rücken. Selbst seine Bekannten und Verwandten wenden sich ab: „Wir wollen ihn verklagen. Vielleicht lässt er sich überlisten.“ Heute würden die Bekannten eines solchen Sonderlings vielleicht sagen: „Der hat sie nicht mehr alle. Der ist eine peinliche Erscheinung. Mit dem wollen wir nichts zu tun haben. Der braucht dringend einen Therapeuten.“
Mit der Beschreibung, wie selbst Freunde und Bekannte ihm in den Rücken fallen, ist der Jeremia am Tiefpunkt angekommen. Sein schreckliches Prophetenamt hat ihn absolut einsam gemacht. Nur einer ist geblieben: Der eine, den er beschimpft und anklagt für sein ganzes Elend, dem er seinen ganzen Frust entgegenschleudert. Gott nämlich, der ihm das Ganze eingebrockt hat.
Gott ist es, der ihn ganz tief runterzieht. Gott ist es aber auch, oder der Gedanke an Gott, der ihn aufrichtet. „Der Herr ist mir ein starker Held. Darum werden meine Verfolger fallen und nicht gewinnen.“ Bei Gott also findet er Halt. Gott setzt ihn, den Außenseiter, ins Recht. Und die ihm an die Ehre trachten, lässt Gott fallen. Dieser Gedanke tröstet ihn.
Fremd ist uns dieser Prophet, der um das Jahr 600 vor Christus herum in Jerusalem wirkt. Fremd sind uns auch seine Rachephantasien. Er hofft, dass Gott ihn ins Recht setzt, indem er seine Feinde bestraft. „Lass mich deine Vergeltung an ihnen sehen“, bittet er Gott. Und dann, am Ende unseres Abschnitts, ein Ausblick auf den erhofften Triumph: „Singt dem Herrn, der des Armen Leben aus den Händen der Boshaften errettet!“
Wobei sein Drama mit diesen Hoffnungsversen noch lange nicht vorbei ist. Direkt nach unserem Predigtabschnitt verfällt Jeremia in die alte Depression. „Verflucht sei der Tag, an dem ich geboren bin“, sagt er im folgenden Vers. Das ist seine alte Leier und sein altes Geschrei. Und das Gotteslob erscheint nur ein vorübergehender Lichtblick gewesen zu sein. Das Prophetenschicksal, welches sich im Buch Jeremia spiegelt, muss noch viele Kurven und Irrungen und Wirrungen nehmen, bis er am Ende dann doch als Hoffnungsprophet dasteht.
Tja, liebe Gemeinde, hier wird uns also das Drama eines Propheten drastisch vor Augen gestellt, der vor über 2.500 Jahren gewirkt hat. Und die erste Frage an den heutigen Predigttext ist diese: Warum tun wir uns das heute an? Warum vertiefen wir uns heute in dieses Schicksal dieses fernen und sonderbaren Menschen?
Ich finde zwei Dinge hoch spannend und sehr aktuell an diesem Jeremia. Das eine ist seine Unerschrockenheit, sein Mut, seine Kompromisslosigkeit. Nicht dass ich das einfach nur ideal finde. Das nicht. Wir brauchen auch ganz andere Typen als ihn. Wir brauchen Männer und Frauen, die diplomatisch argumentieren können und nicht immer nur Alarm schreien und fanatisch immer aufs Ganze gehen, für die es nur schwarz und weiß gibt, richtig und falsch. Wir brauchen Leute, die wissen, wie das geht, für Verständnis zu werben, die kluge Kompromisse finden. – Eine Welt voller Jeremias? Das wäre eine schreckliche Vorstellung.
Aber wir brauchen eben auch sie: Leute, die uns den Spiegel vorhalten. Die unser Gewissen schärfen, wenn wir zu bequem werden, wenn wir unsere Leichen im Keller verdrängen wollen und so tun, als wäre alles prima. Leute, die auf ihre innere Stimme und ihre Überzeugung hören und sich nicht mit halbherzigen Vertröstungen zufrieden geben.
Insgeheim sehnen wir uns doch heute nach so kantigen Persönlichkeiten. Glatte Technokraten und angepasste Karrieretypen gibt es reichlich genug. Auch in der Kirche. Wir brauchen auch Leute, die frischen Wind reinbringen, die was zu sagen haben, mit dem man sich auseinandersetzen und daran abarbeiten kann. Unseren Predigten und kirchlichen Verlautbarungen wird ja häufig eher das Gegenteil unterstellt: Dass wir ziemlich abgehoben sprechen, über Probleme, die außer uns keiner zu haben scheint, pastoral und betulich. Oder dass wir uns über echte oder vermeintliche Skandale entrüsten – aber allzu oft in einer absolut vorhersehbaren Argumentation. Da ist dann vielleicht von raffgierigen Bankern oder intriganten Wirtschaftsbossen die Rede – die üblichen Verdächtigen eben, und die Rollen von Gut und Böse sind klar verteilt.
Aber wann hat uns eine Predigt oder eine kirchliche Botschaft zuletzt wirklich wach gerüttelt oder tief berührt? Oder werden wir nicht mehr berührt, weil wir abgestumpft sind und das Hinhören verlernt haben?
Und was genau haben wir verlernt? Das Hören oder das Sprechen? Oder beides? Ich beobachte das übrigens nicht nur an Pfarrerinnen und Pfarrern und hohen Kirchenrepräsentanten, sondern auch an „ganz normalen“ Christenmenschen – allesamt sind wir immer wieder ratlos und sprachlos, wenn es darum geht, von unserem Glauben zu sprechen, von dem, was uns im innersten bewegt. Weil es peinlich ist. Vielleicht auch, weil wir immer weniger Orte haben für solche Gespräche.
Aber wer Worte finden will, der muss zuerst mal hinhören, hinschauen und hineinspüren. Was bewegt unsere Zeitgenossinnen und Zeitgenossen? Und haben wir noch wache Sinne für das, was in Politik und Gesellschaft, in Wirtschaft, Kultur und Kirche vor sich geht? Oder winken wir längst ab, weil die Welt mit jedem Tag unübersichtlicher wird, weil viel zu viele Informationen Tag für Tag auf uns einströmen – und ziehen uns in unsere Nische zurück? Und was ist das eigentlich, was wir Christenmenschen der Gesellschaft zu sagen haben? Was ist das, was sie sich nicht selbst sagen kann?
Zurück zu Jeremia. Da war ja noch etwas zweites, was ich an ihm spannend finde. Und das hat auch etwas damit zu tun, was wir den Menschen sagen und zeigen können:
Ich finde an Jeremia sehr spannend, dass dieser eigentlich eher unsympathische Prophet, dieser Außenseiter, dieser Sonderling, diese nach bürgerlichen Kriterien vollkommen gescheiterte Existenz dann doch zu großer Ehre kommt. Dass er am Ende seines Buches dargestellt wird als einer, zu dem Gott hält.
Diese schöne und befreiende Entdeckung finden wir immer wieder in der Bibel: Dass Gott sich in ganz besonderer Weise zu den gescheiterten Existenzen hält. Die, die in der Welt als peinlich oder unwesentlich oder wertlos gelten, werden in den biblischen Erzählungen in Ehren gehalten.
Sehr anschaulich wird das bei den Berichten von Jesus, den es zu den kranken, zu den Sündern, zu den Außenseitern zieht. Und der selber zum radikalen Verlierer und Außenseiter wird, gefoltert, verspottet, getötet am Kreuz. Und dessen Auferstehung uns zeigt: Zu diesem zerbrochenen und gescheiterten Leben hält sich Gott.
Wie viele Christenmenschen sind seither motiviert worden, sich den Aussätzigen und Ausgestoßenen ihrer Zeit zuzuwenden. In der Antike haben die ersten Gemeinden eine Sozialfürsorge aufgebaut. Im Mittelalter gab es Hospize für Kranke und Gebrechliche und Bruderschaften, die dafür sorgten, dass auch der letzte Bettler eine anständige christliche Beerdigung erhielt. Im 19. Jahrhundert haben von christlicher Fürsorge beseelte Männer und Frauen ein diakonisches Sozialwesen aufgebaut. Im 20. Jahrhundert kam es zu einer großen Spezialisierung und Professionalisierung – aber auch in den hochspezialisierten sozialen und therapeutischen Einrichtungen wirken unzählige Männer und Frauen, die von dem Gedanken der christlichen Hinwendung zu den zerbrochenen Existenzen getragen sind.
Klar, es ist nicht alles gut mit unserem Sozialwesen. Wer in Hartz IV lebt, hat oft genug mit Behördenschikane zu kämpfen und mit einem erbärmlichen Lebensstandard. Im Gesundheitssystem steht oft genug Profitdenken über dem Zuwendungsgedanken. In manchen Kitas werden Kinder wie am Fließband abgefertigt, und in manchen Pflegeheimen kämpft schlecht bezahltes und überfordertes Personal damit, einen Mindeststandard an Menschenwürde gerade so zu ermöglichen.
Es gibt weiter viele Felder, auf denen wir uns für bessere Zustände einsetzen können, für gerechtere und damit für Gott gefälligere Zustände. Es gibt viele Bereiche, in denen wir unserer Gesellschaft zurufen können und müssen: Das ist nicht fair!
Es ist nicht fair, dass wir billig Konsumgüter kaufen, ohne uns darum zu scheren, wie es den Menschen geht, die das produzieren. Es ist nicht fair, wenn der Handel die Landwirten mit Dumpingpreisen unter Druck setzt, sodass diese nur noch minimale Erträge für harte Arbeit erhalten. Es ist nicht fair, dass Menschen sich abrackern für Löhne, die kaum zum Leben reichen. Und dass es immer mehr prekäre Arbeitsverhältnisse gibt, in denen man von heute auf morgen auf die Straße gesetzt werden kann.
Es ist nicht fair, dass die Fernsehprogramme voll sind von Mobbing-Shows. Es ist nicht fair, dass unsere Kinder randvolle Stundenpläne haben und Terminkalender, die ihnen kaum noch die Chance lassen, einfach mal so zu spielen.
So vieles ist nicht fair. So oft müssten wir aufschreien. Und tun’s nicht, weil es peinlich ist, und unbequem. Ein bisschen mehr Jeremia täte uns gut. Denn Gott liebt alle Menschen. Aber besonders nahe ist er denen, die getreten und an den Rand gedrängt werden. Den Namenlosen und Verunsicherten.
Und übrigens: Ich bin fest überzeugt, dass in jedem von uns mindestens ein wenig Jeremia steckt. Ein wenig Außenseiter, ein wenig sich-selbst-ein-Rätsel-sein. Dieser Außenseiter braucht Liebe und Unterstützung. Und genau diesen Außenseiter in uns liebt Gott.
Amen.
Predigt über Jeremia 20,7-13
„Eine peinliche Person“
Liebe Gemeinde,
heute lernen wir eine ziemlich merkwürdige Person kennen. Eine irgendwie peinliche und zugleich eine sehr verunsicherte Person. Das ist an sich nichts Außergewöhnliches, heutzutage, wo uns im Fernsehen ständig peinliche Leute vorgeführt werden.
Über peinliche Leute spotten ist in Mode. War es vielleicht schon immer. Auch die peinliche Person aus unserem Predigttext erzählt, wie hinter ihrem Rücken getuschelt wird, von angeblichen Freunden. Aber wir machen ihre Bekanntschaft nicht, weil wir über sie spotten wollen. Sondern weil wir uns allen Ernstes fragen wollen, was uns diese Person, die vor 2.500 Jahren gelebt hat, heute noch sagen kann.
Die Rede ist vom Propheten Jeremia. Er hat um das Jahr 600 vor Christus in Jerusalem und Umgebung gewirkt. In den ersten Jahren seiner Prophetenkarriere hat er als Unheilsprophet gewirkt, hat den Mächtigen und auch allen anderen seiner Zeit derbe Drohungen entgegengerufen.
Doch wir lernen ihn heute zunächst nicht mit seinen Unheilsdrohungen kennen, sondern mit einem ziemlich intimen Text. Dieser liest sich beinahe wie ein Tagebucheintrag, in dem der Prophet Jeremia sich seinen Frust von der Seele schreibt und seine Selbstzweifel.
Ich lese den heutigen Predigttext, Jeremia 20, 7-13:
7 HERR, du hast mich überredet und ich habe mich überreden lassen. Du bist mir zu stark gewesen und hast gewonnen; aber ich bin darüber zum Spott geworden täglich, und jedermann verlacht mich. 8 Denn sooft ich rede, muss ich schreien; »Frevel und Gewalt!« muss ich rufen. Denn des HERRN Wort ist mir zu Hohn und Spott geworden täglich. 9 Da dachte ich: Ich will nicht mehr an ihn denken und nicht mehr in seinem Namen predigen. Aber es ward in meinem Herzen wie ein brennendes Feuer, in meinen Gebeinen verschlossen, dass ich’s nicht ertragen konnte; ich wäre schier vergangen. 10 Denn ich höre, wie viele heimlich reden: »Schrecken ist um und um!« »Verklagt ihn!« »Wir wollen ihn verklagen!« Alle meine Freunde und Gesellen lauern, ob ich nicht falle: »Vielleicht lässt er sich überlisten, dass wir ihm beikommen können und uns an ihm rächen.«
11 Aber der HERR ist bei mir wie ein starker Held, darum werden meine Verfolger fallen und nicht gewinnen. Sie müssen ganz zuschanden werden, weil es ihnen nicht gelingt. Ewig wird ihre Schande sein und nie vergessen werden. 12 Und nun, HERR Zebaoth, der du die Gerechten prüfst, Nieren und Herz durchschaust: Lass mich deine Vergeltung an ihnen sehen; denn ich habe dir meine Sache befohlen. 13 Singet dem HERRN, rühmet den HERRN, der des Armen Leben aus den Händen der Boshaften errettet!
Wir schauen hier einem verunsicherten, frustrierten Propheten in die Werkstatt und auch ein Stück weit in die Seele. „Herr, du hast mich überredet. Du bist mir zu stark gewesen und hast gewonnen“, schreibt er. Und sieht sich selbst als den Loser, den Verlierer in diesem Spiel: „Ich bin zum Spott geworden täglich, jeder verlacht mich“.
Kein Wunder – er scheint sich ja selbst peinlich und ein Rätsel zu sein: Er kann nicht mal mehr normal mit den Leuten reden, „sooft ich rede, muss ich schreien“. Was für eine peinliche Erscheinung. Und wie peinlich, was er da schreit: eine Unheilsdrohung und Drohpredigt nach der andern. „Frevel und Gewalt muss ich rufen“, heißt es im Predigttext.
Wenn man sich im Jeremiabuch umschaut, dann sieht man, wie drastisch er vom Unheil redet und wie er sich mit wirklich allen anlegt, die Rang und Namen haben: Mit dem Königshaus und den Mächtigen, auch mit dem Kultpersonal des Tempels, das ihm nicht fromm genug ist. Kein Wunder, dass die Leute ihn nicht leiden können.
Aber es wird auch sehr deutlich, dass Jeremia dies nicht aus einer Laune heraus macht, sondern dass er einem inneren Ruf folgt. Dass er gar nicht anders kann.Er hat es ja versucht, berichtet er: „Ich dachte: Ich will nicht mehr an ihn (also an Gott) denken und nicht mehr in seinem Namen predigen“. Aber Pustekuchen: „Es ward in meinem Herzen wie ein brennendes Feuer“. Der Versuch, zu schweigen, hat sich für ihn angefühlt wie ein Verrat an der Sache, von der er erfüllt ist…
Und so schreit er weiter, hält den Mächtigen und den Ohnmächtigen ihre Ungerechtigkeit vor. Scheut dabei vor drastischen Zeichenhandlungen nicht zurück. Geht zum Beispiel mit einem Tonkrug ans Hinnomtal vor den Toren Jerusalems hinaus, wie in den Bibelversen vor unserem Predigtabschnitt berichtet wird. Das Hinnomtal ist eine unwirtliche Schlucht, wo Menschenopfer dargebracht werden – so jedenfalls der Vorwurf des Jeremia. „Dieser Ort soll Würgetal genannt werden“, schreit Jeremia, und dass Gott den Kult an diesem Ort vernichten wird und alle Frevler vernichtet werden sollen. „Ich will ihnen nach dem Leben trachten, will ihre Leichname den Vögeln und den Tieren zum Fraß geben, und ich will diese Stadt zum Entsetzen und zum Spott machen“, schreit der Prophet. Und dann zerschmeißt er den mitgebrachten Tonkrug und sagt: So soll dieses Volk und diese Stadt zerbrochen werden.
Mit solchen Predigten macht man sich keine Freunde. Das ist auch dem Jeremia klar. Er hört das Getuschel in seinem Rücken. Selbst seine Bekannten und Verwandten wenden sich ab: „Wir wollen ihn verklagen. Vielleicht lässt er sich überlisten.“ Heute würden die Bekannten eines solchen Sonderlings vielleicht sagen: „Der hat sie nicht mehr alle. Der ist eine peinliche Erscheinung. Mit dem wollen wir nichts zu tun haben. Der braucht dringend einen Therapeuten.“
Mit der Beschreibung, wie selbst Freunde und Bekannte ihm in den Rücken fallen, ist der Jeremia am Tiefpunkt angekommen. Sein schreckliches Prophetenamt hat ihn absolut einsam gemacht. Nur einer ist geblieben: Der eine, den er beschimpft und anklagt für sein ganzes Elend, dem er seinen ganzen Frust entgegenschleudert. Gott nämlich, der ihm das Ganze eingebrockt hat.
Gott ist es, der ihn ganz tief runterzieht. Gott ist es aber auch, oder der Gedanke an Gott, der ihn aufrichtet. „Der Herr ist mir ein starker Held. Darum werden meine Verfolger fallen und nicht gewinnen.“ Bei Gott also findet er Halt. Gott setzt ihn, den Außenseiter, ins Recht. Und die ihm an die Ehre trachten, lässt Gott fallen. Dieser Gedanke tröstet ihn.
Fremd ist uns dieser Prophet, der um das Jahr 600 vor Christus herum in Jerusalem wirkt. Fremd sind uns auch seine Rachephantasien. Er hofft, dass Gott ihn ins Recht setzt, indem er seine Feinde bestraft. „Lass mich deine Vergeltung an ihnen sehen“, bittet er Gott. Und dann, am Ende unseres Abschnitts, ein Ausblick auf den erhofften Triumph: „Singt dem Herrn, der des Armen Leben aus den Händen der Boshaften errettet!“
Wobei sein Drama mit diesen Hoffnungsversen noch lange nicht vorbei ist. Direkt nach unserem Predigtabschnitt verfällt Jeremia in die alte Depression. „Verflucht sei der Tag, an dem ich geboren bin“, sagt er im folgenden Vers. Das ist seine alte Leier und sein altes Geschrei. Und das Gotteslob erscheint nur ein vorübergehender Lichtblick gewesen zu sein. Das Prophetenschicksal, welches sich im Buch Jeremia spiegelt, muss noch viele Kurven und Irrungen und Wirrungen nehmen, bis er am Ende dann doch als Hoffnungsprophet dasteht.
Tja, liebe Gemeinde, hier wird uns also das Drama eines Propheten drastisch vor Augen gestellt, der vor über 2.500 Jahren gewirkt hat. Und die erste Frage an den heutigen Predigttext ist diese: Warum tun wir uns das heute an? Warum vertiefen wir uns heute in dieses Schicksal dieses fernen und sonderbaren Menschen?
Ich finde zwei Dinge hoch spannend und sehr aktuell an diesem Jeremia. Das eine ist seine Unerschrockenheit, sein Mut, seine Kompromisslosigkeit. Nicht dass ich das einfach nur ideal finde. Das nicht. Wir brauchen auch ganz andere Typen als ihn. Wir brauchen Männer und Frauen, die diplomatisch argumentieren können und nicht immer nur Alarm schreien und fanatisch immer aufs Ganze gehen, für die es nur schwarz und weiß gibt, richtig und falsch. Wir brauchen Leute, die wissen, wie das geht, für Verständnis zu werben, die kluge Kompromisse finden. – Eine Welt voller Jeremias? Das wäre eine schreckliche Vorstellung.
Aber wir brauchen eben auch sie: Leute, die uns den Spiegel vorhalten. Die unser Gewissen schärfen, wenn wir zu bequem werden, wenn wir unsere Leichen im Keller verdrängen wollen und so tun, als wäre alles prima. Leute, die auf ihre innere Stimme und ihre Überzeugung hören und sich nicht mit halbherzigen Vertröstungen zufrieden geben.
Insgeheim sehnen wir uns doch heute nach so kantigen Persönlichkeiten. Glatte Technokraten und angepasste Karrieretypen gibt es reichlich genug. Auch in der Kirche. Wir brauchen auch Leute, die frischen Wind reinbringen, die was zu sagen haben, mit dem man sich auseinandersetzen und daran abarbeiten kann. Unseren Predigten und kirchlichen Verlautbarungen wird ja häufig eher das Gegenteil unterstellt: Dass wir ziemlich abgehoben sprechen, über Probleme, die außer uns keiner zu haben scheint, pastoral und betulich. Oder dass wir uns über echte oder vermeintliche Skandale entrüsten – aber allzu oft in einer absolut vorhersehbaren Argumentation. Da ist dann vielleicht von raffgierigen Bankern oder intriganten Wirtschaftsbossen die Rede – die üblichen Verdächtigen eben, und die Rollen von Gut und Böse sind klar verteilt.
Aber wann hat uns eine Predigt oder eine kirchliche Botschaft zuletzt wirklich wach gerüttelt oder tief berührt? Oder werden wir nicht mehr berührt, weil wir abgestumpft sind und das Hinhören verlernt haben?
Und was genau haben wir verlernt? Das Hören oder das Sprechen? Oder beides? Ich beobachte das übrigens nicht nur an Pfarrerinnen und Pfarrern und hohen Kirchenrepräsentanten, sondern auch an „ganz normalen“ Christenmenschen – allesamt sind wir immer wieder ratlos und sprachlos, wenn es darum geht, von unserem Glauben zu sprechen, von dem, was uns im innersten bewegt. Weil es peinlich ist. Vielleicht auch, weil wir immer weniger Orte haben für solche Gespräche.
Aber wer Worte finden will, der muss zuerst mal hinhören, hinschauen und hineinspüren. Was bewegt unsere Zeitgenossinnen und Zeitgenossen? Und haben wir noch wache Sinne für das, was in Politik und Gesellschaft, in Wirtschaft, Kultur und Kirche vor sich geht? Oder winken wir längst ab, weil die Welt mit jedem Tag unübersichtlicher wird, weil viel zu viele Informationen Tag für Tag auf uns einströmen – und ziehen uns in unsere Nische zurück? Und was ist das eigentlich, was wir Christenmenschen der Gesellschaft zu sagen haben? Was ist das, was sie sich nicht selbst sagen kann?
Zurück zu Jeremia. Da war ja noch etwas zweites, was ich an ihm spannend finde. Und das hat auch etwas damit zu tun, was wir den Menschen sagen und zeigen können:
Ich finde an Jeremia sehr spannend, dass dieser eigentlich eher unsympathische Prophet, dieser Außenseiter, dieser Sonderling, diese nach bürgerlichen Kriterien vollkommen gescheiterte Existenz dann doch zu großer Ehre kommt. Dass er am Ende seines Buches dargestellt wird als einer, zu dem Gott hält.
Diese schöne und befreiende Entdeckung finden wir immer wieder in der Bibel: Dass Gott sich in ganz besonderer Weise zu den gescheiterten Existenzen hält. Die, die in der Welt als peinlich oder unwesentlich oder wertlos gelten, werden in den biblischen Erzählungen in Ehren gehalten.
Sehr anschaulich wird das bei den Berichten von Jesus, den es zu den kranken, zu den Sündern, zu den Außenseitern zieht. Und der selber zum radikalen Verlierer und Außenseiter wird, gefoltert, verspottet, getötet am Kreuz. Und dessen Auferstehung uns zeigt: Zu diesem zerbrochenen und gescheiterten Leben hält sich Gott.
Wie viele Christenmenschen sind seither motiviert worden, sich den Aussätzigen und Ausgestoßenen ihrer Zeit zuzuwenden. In der Antike haben die ersten Gemeinden eine Sozialfürsorge aufgebaut. Im Mittelalter gab es Hospize für Kranke und Gebrechliche und Bruderschaften, die dafür sorgten, dass auch der letzte Bettler eine anständige christliche Beerdigung erhielt. Im 19. Jahrhundert haben von christlicher Fürsorge beseelte Männer und Frauen ein diakonisches Sozialwesen aufgebaut. Im 20. Jahrhundert kam es zu einer großen Spezialisierung und Professionalisierung – aber auch in den hochspezialisierten sozialen und therapeutischen Einrichtungen wirken unzählige Männer und Frauen, die von dem Gedanken der christlichen Hinwendung zu den zerbrochenen Existenzen getragen sind.
Klar, es ist nicht alles gut mit unserem Sozialwesen. Wer in Hartz IV lebt, hat oft genug mit Behördenschikane zu kämpfen und mit einem erbärmlichen Lebensstandard. Im Gesundheitssystem steht oft genug Profitdenken über dem Zuwendungsgedanken. In manchen Kitas werden Kinder wie am Fließband abgefertigt, und in manchen Pflegeheimen kämpft schlecht bezahltes und überfordertes Personal damit, einen Mindeststandard an Menschenwürde gerade so zu ermöglichen.
Es gibt weiter viele Felder, auf denen wir uns für bessere Zustände einsetzen können, für gerechtere und damit für Gott gefälligere Zustände. Es gibt viele Bereiche, in denen wir unserer Gesellschaft zurufen können und müssen: Das ist nicht fair!
Es ist nicht fair, dass wir billig Konsumgüter kaufen, ohne uns darum zu scheren, wie es den Menschen geht, die das produzieren. Es ist nicht fair, wenn der Handel die Landwirten mit Dumpingpreisen unter Druck setzt, sodass diese nur noch minimale Erträge für harte Arbeit erhalten. Es ist nicht fair, dass Menschen sich abrackern für Löhne, die kaum zum Leben reichen. Und dass es immer mehr prekäre Arbeitsverhältnisse gibt, in denen man von heute auf morgen auf die Straße gesetzt werden kann.
Es ist nicht fair, dass die Fernsehprogramme voll sind von Mobbing-Shows. Es ist nicht fair, dass unsere Kinder randvolle Stundenpläne haben und Terminkalender, die ihnen kaum noch die Chance lassen, einfach mal so zu spielen.
So vieles ist nicht fair. So oft müssten wir aufschreien. Und tun’s nicht, weil es peinlich ist, und unbequem. Ein bisschen mehr Jeremia täte uns gut. Denn Gott liebt alle Menschen. Aber besonders nahe ist er denen, die getreten und an den Rand gedrängt werden. Den Namenlosen und Verunsicherten.
Und übrigens: Ich bin fest überzeugt, dass in jedem von uns mindestens ein wenig Jeremia steckt. Ein wenig Außenseiter, ein wenig sich-selbst-ein-Rätsel-sein. Dieser Außenseiter braucht Liebe und Unterstützung. Und genau diesen Außenseiter in uns liebt Gott.
Amen.
Perikope