„Hier schreit niemand vor Hunger!“, Predigt zu Erntedank von Henning Kiene
58,7
„Hier schreit niemand vor Hunger!“
Brich dem Hungrigen dein Brot, und die im Elend ohne Obdach sind, führe ins Haus! Wenn du einen nackt siehst, so kleide ihn, und entzieh dich nicht deinem Fleisch und Blut! Dann wird dein Licht hervorbrechen wie die Morgenröte, und deine Heilung wird schnell voranschreiten, und deine Gerechtigkeit wird vor dir hergehen, und die Herrlichkeit des Herrn wird deinen Zug beschließen. Dann wirst du rufen, und der Herr wird dir antworten. Wenn du schreist, wird er sagen: Siehe, hier bin ich. Wenn du in deiner Mitte niemand unterjochst und nicht mit Fingern zeigst und nicht übel redest, sondern den Hungrigen dein Herz finden läßt und den Elenden sättigst, dann wird dein Licht in der Finsternis aufgehen, und dein Dunkel wird sein wie der Mittag. Und der Herr wird dich immerdar führen und dich sättigen in der Dürre und dein Gebein stärken. Und du wirst sein wir ein bewässerter Garten und wie eine Wasserquelle, der es nie an Wasser fehlt. Und es soll durch dich wieder aufgebaut werden, was lange wüst gelegen hat, und du wirst wieder aufrichten, was vorzeiten gegründet ward; und du sollst heißen: "Der die Lücken zumauert und die Wege ausbessert, dass man da wohnen könne." Jesaja 58,7-12
Liebe Gemeinde,
Athen in diesem Sommer. Morgendlicher Einkauf in der Markthalle. Frischer Fisch glänzt ledrig, dunkles Lammfleisch ist ausgebreitet, scharfe und dumpfe, süßliche und verführerische Düfte ziehen in unsere Nasen. Brot, Käse, Jogurt und Honig füllen nach und nach den Rucksack. Draußen vor der Markhalle wieder gleißendes Licht. Stimmengewirr, die Autos rasen, Musik dringt aus einem Geschäft, alles übertönt sich gegenseitig. Wir haben einen herrlichen Tag, sind auf dem Rückweg zu unserer Ferienwohnung. „
Pinao“, höre ich erst leise, „Pinao“, immer lauter, immer näher. Eine Frau hockt auf einer Stufe in der Sonne. „Pinao“, „ich habe Hunger!“ Ihre Stimme klingt, mal verschluckt vom Autoverkehr, dann, wenn die Ampel rot, die Autos stehen, lauter, schriller, drängend. „Pinao!“ „Ich habe Hunger!“. Die Leute gehen schneller, einige machen einen Bogen, werden nervös, hektisch. Viele blicken beschämt zu Boden. Diese Frau ruft Ihren Hunger heraus, schreit ihn lauter und lauter in den Lärm der Stadt.
Da geht eine gut gekleidete, ältere Dame ganz ruhig auf sie zu. Sie öffnet ihre Handtasche, gibt ihr etwas in die Hand. Die Frau verstummt. Steht auf, geht weg. Die andere schließt ihre Handtasche, setzt gemessenen Schrittes ihren Weg fort. „Wenn du schreist, wird er sagen: Siehe, hier bin ich.“ Wie viele Schreie verhallen ungehört. Diese Stimme hat unsere Ohren erreicht. Jemand erbarmt sich. Diese Dame erbarmte sich auch unser, die wir wie gelähmt diese entsetzlichen Schreie hörten, nicht wussten, was wir tun sollten.
Ein Ausschnitt aus der Eurokrise, selbst erlebt im Juli 2011, wenige Straßenzüge vom Syntagmaplatz entfernt. „Pinao!“ „Ich habe Hunger.“ Hunger mitten im Herzen Europas. Wir wollten nur Urlaub machen und wussten plötzlich, unter dem Glanz griechischer Sonne haben wir eine bedrängende Szene miterlebt und wussten, diese Not hat viele weitere Gesichter. Die Schreie dieser Frau reißen eine Wunde in den Sommertag. Das Mittagessen, das ich in die Ferienwohnung trage, drückt plötzlich schwer im Rucksack. Es ist, als hätten diese beiden Frauen uns die Augen geöffnet. Wir sehen plötzlich die Obdachlosen, sie wohnen im Park auf der gegenüberliegenden Seite der Straße. Kinder sammeln Altmetall in den Müllbehältern. Männer suchen in der Mülltonne nach Essbarem. „Für den Hund“, sagt einer. Ich glaube ihm nicht mehr. Dann sehen wir Bettler, die schreien nicht, sie haben es auf große Pappe geschrieben und vor sich auf die Straße gelegt, „Ich habe Hunger“.
Vorletzte Woche. Das Abendbrot ist vorbei. Nachrichten laufen im Fernsehen wir sehen Athen, das Parlament von innen, den Finanzminister, er spricht am Rednerpult, dann die Griechen auf der Straße, frustriert von allem, weil sie merken, dass die bisherigen Bemühungen wenig gebracht haben.
„Ich bin froh, dass wir in Hannover sind“, sagt eins unserer Kinder, „hier schreit niemand vor Hunger!“ In diesem kleinen Satz steckt unser ganzes privates Erntedankfest 2011. Da ist Dank, ohne viele Worte, nicht so laut wie die Schreie der Frau in Athen, aber wirksam nach innen. Dank für Brot und Butter, Obst und Gemüse, alles gibt es reichlich, nicht im Überfluss, aber alles ist vorhanden. In unserer Familie hat seit 1948 kein Mensch echten Hunger erleben müssen. Und: Unsere Kinder haben Perspektiven, ihre Phantasie, ihre körperliche Kraft, ihre Fähigkeiten etwas zu gestalten, alles wird gefordert und von ihnen auch benötigt.
Die Mühe, die jede und jeder in seine Arbeit investiert, trägt tatsächlich Früchte. Die Anstrengung, mit der wir unsere Freundschaften pflegen, auch die Mühe, die die Liebe einem aufbürdet, die Kraft, persönliche Krisen zu durchleben, selbst dem Schlechten etwas Gutes abzugewinnen, wird vom Dank gekrönt. Erntedank ist für viele von uns ein leises Fest. Dank will nicht heraus gebrüllt werden, sondern lässt sich in Gedanken und Gefühlen fassen. Wie im Vogelflug gleite ich in Gedanken über mein eigenes Leben und das, was gelingt tritt vor mein inneres Auge.
Am Erntedankfest rückt das scheinbar Selbstverständliche in das Blickfeld. Erntedank zeigt, worüber man sonst nicht viel nachdenken muss: Tägliche, auch harte Arbeit, erhält alte und schafft neue Werte. Dass die Grundnahungsmittel bezahlbar sind, dass Luft genießbar ist, dass Flüsse, wieder sauberer werden, dass Energie, die zunehmend aus regenerativen Energiequellen stammt, trotz hoher Preise bezahlbar ist, sorgt für ein Erntedank. Seit den Hungerwintern in den späten 40er Jahren hat es bei uns keinen echten Mangel an Nahrungsmitteln mehr gegeben.
„Hier schreit niemand vor Hunger!“, das beruhigt das Gemüt. Auch dann, wenn ich weiß, dass es Kinder-, Altersarmut gibt und manchen zum Brüllen zu Mute ist. Erntedank 2011. „Pinao!“, „Ich habe Hunger!“ Eine Frau auf Athens Straßen brüllt heraus, andere haben sogar die Kraft verloren, dieses Wort auch nur noch zu flüstern. Diese Frau im Sommer auf der Straße in Athen ruft stellvertretend. Sie erhebt ihre Stimme für die Kinder in Somalia, Kenia, Nordkorea. Hunger ist weltweit Alltag. Und das Gefühl diese Not nicht ertragen zu können, den Bildern aus Somalia, den schlechten Nachrichten ausweichen zu wollen, greift auch nach einem selbst. Wie ein beschämter Passant in Athen, wende ich den Blick von der Not der anderen ab. Wer kann das aushalten?
Das Elend dieser Welt kann kein Mensch ertragen. Der Prophet Jesaja hat Recht: „entzieh dich nicht deinem Fleisch und Blut!“ Drängende Stimme, klare Forderung, deutlicher kann Gottes Wort nicht sprechen. Jesus Christus hat diese Worte nachgesprochen und sie noch drängender gemacht. „Was ihr getan habt, einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan.“ (Mt 25,40)
Da ist aber auch diese andere Frau. Die öffnet ihre Handtasche. Sie heilt die Not nicht, aber sie versteht es, diese Situation zu entschärfen. Diese Frau schenkt uns und denen, die stumm zu Boden blicken, Ruhe und besänftigt das Gewissen. Was diese Dame in diesem kurzen Moment tut, gilt auch fürs ganz Große. Diese Hilfe aus der Handtasche ist wie die Plumpy’Sup, die seit Monaten von den großen Hilfsorganisationen in Afrika an die ausgemergelten Kinder verteilt wird. Das ist die hochenergetische Notration, die dem Leben vieler Menschen eine neue Frist schenkt. Jeder weiß, Plumpy löst kein Problem. Notrationen haben nur eine Brückenfunktion, die in eine bessere Situation führen soll. Aber für jedes Kind, das Plumpy essen kann, wird aus dem Dunkel seiner Not ein Mittag.
Wer erträgt diese Spannung? Die einen schreien vor Hunger, unser Tisch ist dagegen gut gedeckt. Die einen leiden in der fruchtlos gewordenen Afrikanischen Steppe und wir fahren unsere Scheunen und Kühlhäuser voll. Unsere Kinder haben Perspektiven, sie werden Arbeit finden, genießen den Frieden und gehen – obwohl sie es nicht sagen – doch gerne zur Schule. Andere Kinder sehen keine Zukunft, die über die nächsten 24 Stunden hinausgeht.
Diese Spannungen werden wir am Erntedanksonntag nicht auflösen. Not und Dank treffen heute aufeinander. Da ist Erntedank ein Tag wie jeder andere Tag auch. Die Not, die sich wie eine Endlosschleife um die Welt zieht, könnte den Dank stumpf machen. Die kleinen und die großen, mit persönlichen Dankmomenten erfüllten Momente, genauso wie die vielen Erntedankfeiern in unserem Land, pflegen die Seele. Weil sie die Not nicht leugnen. Aufrichtiger Dank schenkt neue Kraft. Die nüchterne Erkenntnis, „hier schreit niemand vor Hunger!“, ist Grund zum Feiern und der Moment, in dem die Dame in Athen ihre Handtasche öffnet, erst recht.
Brich dem Hungrigen dein Brot, und die im Elend ohne Obdach sind, führe ins Haus! Wenn du einen nackt siehst, so kleide ihn, und entzieh dich nicht deinem Fleisch und Blut! Dann wird dein Licht hervorbrechen wie die Morgenröte, und deine Heilung wird schnell voranschreiten, und deine Gerechtigkeit wird vor dir hergehen, und die Herrlichkeit des Herrn wird deinen Zug beschließen. Dann wirst du rufen, und der Herr wird dir antworten. Wenn du schreist, wird er sagen: Siehe, hier bin ich. Wenn du in deiner Mitte niemand unterjochst und nicht mit Fingern zeigst und nicht übel redest, sondern den Hungrigen dein Herz finden läßt und den Elenden sättigst, dann wird dein Licht in der Finsternis aufgehen, und dein Dunkel wird sein wie der Mittag. Und der Herr wird dich immerdar führen und dich sättigen in der Dürre und dein Gebein stärken. Und du wirst sein wir ein bewässerter Garten und wie eine Wasserquelle, der es nie an Wasser fehlt. Und es soll durch dich wieder aufgebaut werden, was lange wüst gelegen hat, und du wirst wieder aufrichten, was vorzeiten gegründet ward; und du sollst heißen: "Der die Lücken zumauert und die Wege ausbessert, dass man da wohnen könne." Jesaja 58,7-12
Liebe Gemeinde,
Athen in diesem Sommer. Morgendlicher Einkauf in der Markthalle. Frischer Fisch glänzt ledrig, dunkles Lammfleisch ist ausgebreitet, scharfe und dumpfe, süßliche und verführerische Düfte ziehen in unsere Nasen. Brot, Käse, Jogurt und Honig füllen nach und nach den Rucksack. Draußen vor der Markhalle wieder gleißendes Licht. Stimmengewirr, die Autos rasen, Musik dringt aus einem Geschäft, alles übertönt sich gegenseitig. Wir haben einen herrlichen Tag, sind auf dem Rückweg zu unserer Ferienwohnung. „
Pinao“, höre ich erst leise, „Pinao“, immer lauter, immer näher. Eine Frau hockt auf einer Stufe in der Sonne. „Pinao“, „ich habe Hunger!“ Ihre Stimme klingt, mal verschluckt vom Autoverkehr, dann, wenn die Ampel rot, die Autos stehen, lauter, schriller, drängend. „Pinao!“ „Ich habe Hunger!“. Die Leute gehen schneller, einige machen einen Bogen, werden nervös, hektisch. Viele blicken beschämt zu Boden. Diese Frau ruft Ihren Hunger heraus, schreit ihn lauter und lauter in den Lärm der Stadt.
Da geht eine gut gekleidete, ältere Dame ganz ruhig auf sie zu. Sie öffnet ihre Handtasche, gibt ihr etwas in die Hand. Die Frau verstummt. Steht auf, geht weg. Die andere schließt ihre Handtasche, setzt gemessenen Schrittes ihren Weg fort. „Wenn du schreist, wird er sagen: Siehe, hier bin ich.“ Wie viele Schreie verhallen ungehört. Diese Stimme hat unsere Ohren erreicht. Jemand erbarmt sich. Diese Dame erbarmte sich auch unser, die wir wie gelähmt diese entsetzlichen Schreie hörten, nicht wussten, was wir tun sollten.
Ein Ausschnitt aus der Eurokrise, selbst erlebt im Juli 2011, wenige Straßenzüge vom Syntagmaplatz entfernt. „Pinao!“ „Ich habe Hunger.“ Hunger mitten im Herzen Europas. Wir wollten nur Urlaub machen und wussten plötzlich, unter dem Glanz griechischer Sonne haben wir eine bedrängende Szene miterlebt und wussten, diese Not hat viele weitere Gesichter. Die Schreie dieser Frau reißen eine Wunde in den Sommertag. Das Mittagessen, das ich in die Ferienwohnung trage, drückt plötzlich schwer im Rucksack. Es ist, als hätten diese beiden Frauen uns die Augen geöffnet. Wir sehen plötzlich die Obdachlosen, sie wohnen im Park auf der gegenüberliegenden Seite der Straße. Kinder sammeln Altmetall in den Müllbehältern. Männer suchen in der Mülltonne nach Essbarem. „Für den Hund“, sagt einer. Ich glaube ihm nicht mehr. Dann sehen wir Bettler, die schreien nicht, sie haben es auf große Pappe geschrieben und vor sich auf die Straße gelegt, „Ich habe Hunger“.
Vorletzte Woche. Das Abendbrot ist vorbei. Nachrichten laufen im Fernsehen wir sehen Athen, das Parlament von innen, den Finanzminister, er spricht am Rednerpult, dann die Griechen auf der Straße, frustriert von allem, weil sie merken, dass die bisherigen Bemühungen wenig gebracht haben.
„Ich bin froh, dass wir in Hannover sind“, sagt eins unserer Kinder, „hier schreit niemand vor Hunger!“ In diesem kleinen Satz steckt unser ganzes privates Erntedankfest 2011. Da ist Dank, ohne viele Worte, nicht so laut wie die Schreie der Frau in Athen, aber wirksam nach innen. Dank für Brot und Butter, Obst und Gemüse, alles gibt es reichlich, nicht im Überfluss, aber alles ist vorhanden. In unserer Familie hat seit 1948 kein Mensch echten Hunger erleben müssen. Und: Unsere Kinder haben Perspektiven, ihre Phantasie, ihre körperliche Kraft, ihre Fähigkeiten etwas zu gestalten, alles wird gefordert und von ihnen auch benötigt.
Die Mühe, die jede und jeder in seine Arbeit investiert, trägt tatsächlich Früchte. Die Anstrengung, mit der wir unsere Freundschaften pflegen, auch die Mühe, die die Liebe einem aufbürdet, die Kraft, persönliche Krisen zu durchleben, selbst dem Schlechten etwas Gutes abzugewinnen, wird vom Dank gekrönt. Erntedank ist für viele von uns ein leises Fest. Dank will nicht heraus gebrüllt werden, sondern lässt sich in Gedanken und Gefühlen fassen. Wie im Vogelflug gleite ich in Gedanken über mein eigenes Leben und das, was gelingt tritt vor mein inneres Auge.
Am Erntedankfest rückt das scheinbar Selbstverständliche in das Blickfeld. Erntedank zeigt, worüber man sonst nicht viel nachdenken muss: Tägliche, auch harte Arbeit, erhält alte und schafft neue Werte. Dass die Grundnahungsmittel bezahlbar sind, dass Luft genießbar ist, dass Flüsse, wieder sauberer werden, dass Energie, die zunehmend aus regenerativen Energiequellen stammt, trotz hoher Preise bezahlbar ist, sorgt für ein Erntedank. Seit den Hungerwintern in den späten 40er Jahren hat es bei uns keinen echten Mangel an Nahrungsmitteln mehr gegeben.
„Hier schreit niemand vor Hunger!“, das beruhigt das Gemüt. Auch dann, wenn ich weiß, dass es Kinder-, Altersarmut gibt und manchen zum Brüllen zu Mute ist. Erntedank 2011. „Pinao!“, „Ich habe Hunger!“ Eine Frau auf Athens Straßen brüllt heraus, andere haben sogar die Kraft verloren, dieses Wort auch nur noch zu flüstern. Diese Frau im Sommer auf der Straße in Athen ruft stellvertretend. Sie erhebt ihre Stimme für die Kinder in Somalia, Kenia, Nordkorea. Hunger ist weltweit Alltag. Und das Gefühl diese Not nicht ertragen zu können, den Bildern aus Somalia, den schlechten Nachrichten ausweichen zu wollen, greift auch nach einem selbst. Wie ein beschämter Passant in Athen, wende ich den Blick von der Not der anderen ab. Wer kann das aushalten?
Das Elend dieser Welt kann kein Mensch ertragen. Der Prophet Jesaja hat Recht: „entzieh dich nicht deinem Fleisch und Blut!“ Drängende Stimme, klare Forderung, deutlicher kann Gottes Wort nicht sprechen. Jesus Christus hat diese Worte nachgesprochen und sie noch drängender gemacht. „Was ihr getan habt, einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan.“ (Mt 25,40)
Da ist aber auch diese andere Frau. Die öffnet ihre Handtasche. Sie heilt die Not nicht, aber sie versteht es, diese Situation zu entschärfen. Diese Frau schenkt uns und denen, die stumm zu Boden blicken, Ruhe und besänftigt das Gewissen. Was diese Dame in diesem kurzen Moment tut, gilt auch fürs ganz Große. Diese Hilfe aus der Handtasche ist wie die Plumpy’Sup, die seit Monaten von den großen Hilfsorganisationen in Afrika an die ausgemergelten Kinder verteilt wird. Das ist die hochenergetische Notration, die dem Leben vieler Menschen eine neue Frist schenkt. Jeder weiß, Plumpy löst kein Problem. Notrationen haben nur eine Brückenfunktion, die in eine bessere Situation führen soll. Aber für jedes Kind, das Plumpy essen kann, wird aus dem Dunkel seiner Not ein Mittag.
Wer erträgt diese Spannung? Die einen schreien vor Hunger, unser Tisch ist dagegen gut gedeckt. Die einen leiden in der fruchtlos gewordenen Afrikanischen Steppe und wir fahren unsere Scheunen und Kühlhäuser voll. Unsere Kinder haben Perspektiven, sie werden Arbeit finden, genießen den Frieden und gehen – obwohl sie es nicht sagen – doch gerne zur Schule. Andere Kinder sehen keine Zukunft, die über die nächsten 24 Stunden hinausgeht.
Diese Spannungen werden wir am Erntedanksonntag nicht auflösen. Not und Dank treffen heute aufeinander. Da ist Erntedank ein Tag wie jeder andere Tag auch. Die Not, die sich wie eine Endlosschleife um die Welt zieht, könnte den Dank stumpf machen. Die kleinen und die großen, mit persönlichen Dankmomenten erfüllten Momente, genauso wie die vielen Erntedankfeiern in unserem Land, pflegen die Seele. Weil sie die Not nicht leugnen. Aufrichtiger Dank schenkt neue Kraft. Die nüchterne Erkenntnis, „hier schreit niemand vor Hunger!“, ist Grund zum Feiern und der Moment, in dem die Dame in Athen ihre Handtasche öffnet, erst recht.
Perikope