„Verführt zum Reden“ - Predigt überJeremia 20,7-11a von Stefan Kläs
20,7
„Verführt zum Reden“
  
  Liebe Gemeinde!
  Wann sind sie zum letzten Mal verführt worden?
  Vermutlich ist es noch nicht allzu lange her, denn Verführung gehört zu den Grunderfahrungen unseres Alltags. Wenn sie in die Stadt fahren und am Ende des Tages mit zwei Paar Schuhen nach Hause kommen, die sie weder kaufen wollten noch brauchen können, dann sind sie verführt worden. Dann sind sie dem kommunikativen Charme des Verkäufers oder der manipulativen Kraft der Werbung erlegen und haben etwas getan, was sie eigentlich nicht wollten.
  Natürlich könnten sie jetzt anstelle von Schuhen auch beliebige andere Dinge einsetzen: Computerspiele, Playstations, X-Boxes, Bücher, Kleidung, Autos – nehmen sie, was sie wollen.
  Von einem ganz und gar außergewöhnlichen Fall von Verführung berichtet der Prophet Jeremia.
  
  Ich lese aus dem Buch Jeremia, Kap. 20, V. 7-11a:
  7 Du hast mich verführt, HERR, und ich habe mich verführen lassen; du hast mich gepackt und mir Gewalt angetan. Nun spotten sie immerzu über mich, alle lachen mich aus.
  8 Denn sooft ich in deinem Auftrag rede, muss ich Unrecht anprangern. »Verbrechen!«, muss ich rufen, »Unterdrückung!« Und das bringt mir nichts als Spott und Hohn ein, Tag für Tag.
  9 Aber wenn ich mir sage: »Ich will nicht mehr an Gott denken und nicht mehr in seinem Auftrag reden«, dann brennt dein Wort in meinem Innern wie ein Feuer. Ich nehme meine ganze Kraft zusammen, um es zurückzuhalten – ich kann es nicht.
  10 Viele höre ich tuscheln, sie nennen mich schon »Schrecken überall«. Die einen fordern: »Verklagt ihn!« Die anderen sagen: »Ja, wir wollen ihn anzeigen!« Sogar meine besten Freunde warten darauf, dass ich mir eine Blöße gebe. »Vielleicht bringen wir ihn dazu, dass er etwas Unvorsichtiges sagt«, flüstern sie, »dann können wir uns an ihm rächen!«
  11 Doch du, HERR, stehst mir bei, du bist mein mächtiger Beschützer! Deshalb kommen meine Verfolger zu Fall, sie richten nichts aus. Ihre Pläne misslingen und sie müssen sich auslachen lassen. Diese Schande bleibt für immer an ihnen hängen.
  (Gute Nachricht Bibel)
  
  Jeremia ist verführt worden, nicht zum Kauf von Schuhen, sondern zum Reden. Seine Klage, ihm sei damit Gewalt angetan worden, deckt den manipulativen Charakter von Verführung auf. Verführung ist eine verdeckte Form von Machtausübung und Herrschaft.[1] Irritierender noch als das Ziel dieser Verführung ist ihr Urheber. Jeremia nennt Gott einen Verführer. Einen Verführer zum Reden. Eigentlich wollte Jeremia nicht mehr reden, den Mund halten, sich nicht mehr den Mund verbrennen. Denn was er zu sagen hatte, die Botschaft, die er im Namen Gottes auszurichten hatte, war alles andere als schmeichelhaft für ihre Hörer. „Sooft ich in deinem Auftrag rede, muss ich Unrecht anprangern“, klagt Jeremia. Und diese Botschaft „bringt mir nichts als Spott und Hohn ein, Tag für Tag“.
  
  Täglich Spott und Hohn zu ertragen, davon können viele Schülerinnen und Schüler ein Lied singen. Wer einmal in der Situation war, gemobbt zu werden, ob auf dem Schulhof oder im Internet, der weiß, wie schlimm sich das anfühlt. Täglich Spott und Hohn, das ist auf Dauer nicht auszuhalten. Wer das erlebt, braucht Hilfe. Und darum ist es richtig, diese Erfahrung nicht einfach still zu ertragen, sondern laut auszusprechen, Öffentlichkeit zu schaffen, sich Verbündete zu suchen, Eltern, Lehrer, Freundinnen und Freunde, die helfen können.
  
  Auch Jeremia klagt über Spott und Hohn, leidet nicht einfach stumm vor sich hin. Anders als ein Mobbing-Opfer, das oft gar nicht genau weiß, wodurch die Attacken der anderen ausgelöst werden, ist sich Jeremia seiner Rolle sehr bewusst. Er ist der Überbringer einer schlechten Nachricht und darum treffen ihn Spott und Hohn. Dass der Überbringer einer schlechten Nachricht stellvertretend für deren Ursache zur Verantwortung gezogen wird, ist ein uraltes Verhaltensmuster.
  Psychologen haben in der Neuzeit dieses Phänomen experimentell untersucht. Dabei mussten zufällig ausgewählte Studierende Nachrichten verlesen. Danach wurden diese Nachrichtensprecher von zuhörenden Studierenden hinsichtlich ihres Charakters eingeschätzt. Das Resultat: Sprecher, welche negative Nachrichten (z.B. über einen Hundequäler) vortrugen, wurden deutlich negativer eingeschätzt. Die negativen Merkmale der Nachricht wurden auf die Vorleser der Nachricht übertragen. So ergeht es zum Beispiel auch beim Tratsch, wenn viel Negatives erzählt wird. “Spontane Merkmalsübertragung” wird dieser Effekt genannt.[2] Wie man als Überbringer schlechter Nachrichten überlebt, das ist eine Frage, mit der sich beispielsweise Unternehmensberater ernsthaft beschäftigen.[3]
  
  Auch Jeremia hat diese Frage offensichtlich beschäftigt, denn er hat sich vorgenommen: Ich sage nichts mehr. Sollen doch andere auf das Unrecht in der Gesellschaft hinweisen. Warum immer ich? Doch er stellt fest: Das geht gar nicht. Ich schaffe es nicht, den Mund zu halten. Immer, wenn ich es mir fest vorgenommen habe, muss ich am Ende doch etwas sagen. Schweigen geht nicht.
  Diese Erfahrung hat auch Jesus gemacht, an dessen Leiden und Sterben wir uns in der Passionszeit erinnern. Auch bei ihm könnte man sagen: Hätte er doch mal den Mund gehalten. Ist es denn wirklich so verwunderlich, dass man am Ende am Kreuz landet, wenn man sich mit den politischen und religiösen Autoritäten in Jerusalem anlegt und damit praktisch die gesamte Öffentlichkeit gegen sich aufbringt? Wer in politisch unruhigen Zeiten nach Jerusalem einzieht, als wäre er der neue König, und dann erstmal den Tempelkult stört, der macht sich halt keine Freunde.
  Warum also haben weder Jeremia noch Jesus geschwiegen, sondern geredet, selbst auf die Gefahr schwerster Konsequenzen hin? Was hat sie angetrieben?
  Jeremia sagt: Es ist ein Feuer in meinem Inneren. Es ist Gottes Wort, das in mir brennt. Es ist die Wahrheit, die sich nicht unterdrücken lässt, auch wenn es manchmal einfacher wäre. Es ist die Wahrheit, die raus muss.
  
  So wie damals auf den Flugblättern der „Weißen Rose“. Am 22. Februar 1943, vor 70 Jahren, wurden Hans und Sophie Scholl sowie Christoph Probst nach einem Schauprozess in München hingerichtet. Ihr Vergehen: Sie hatten seit Juni 1942 auf Flugblättern zum Widerstand aufgerufen. „Verhindert das Weiterlaufen dieser atheistischen Kriegsmaschine, ehe es zu spät ist, ehe die letzten Städte ein Trümmerhaufen sind“, heißt es im ersten Flugblatt.[4] Prophetische Worte, denen leider kein Gehör geschenkt wurde, auch wenn sie Millionen Menschen unfassbares Leid erspart hätten. Es waren ihre tiefe Verwurzelung im christlichen Glauben und ihre humanistischen Überzeugungen, die diese jungen Menschen zum Reden brachten. Wie Jeremia mussten sie das Unrecht anprangern. Und wie Jeremia machten sie auch die Erfahrung der Geborgenheit bei Gott: „Du, HERR, stehst mir bei, du bist mein mächtiger Beschützer! Deshalb kommen meine Verfolger zu Fall, sie richten nichts aus.“ Eine Geborgenheit, die selbst im Angesicht des Todes trägt.
  
  Als Sophie Scholl, eine junge Frau von 22 Jahren, bereits ahnen musste, dass sie nicht mit dem Leben davonkäme, da diktierte sie ihrem Verhörbeamten ins Protokoll:
  „Ich bin nach wie vor der Meinung, das Beste getan zu haben, was ich gerade jetzt für mein Volk tun konnte. Ich bereue deshalb meine Handlungsweise nicht, und will die Folgen, die mir aus meiner Handlungsweise erwachsen, auf mich nehmen.“[5]
  Nachdem sie und ihr Bruder auf ausdrücklichen Wunsch zum letzten Mal das Abendmahl eingenommen hatten, wurden sie hingerichtet.
  
  Liebe Gemeinde!
  Manche Menschen haben ihre Liebe zur Wahrheit und ihren Mut zum Leben teuer bezahlt. Damit, dass sie verspottet wurden wie Jeremia, dass sie hingerichtet wurden wie Jesus von Nazareth, wie die Geschwister Scholl. Die Preise, die wir zu zahlen hätten, sind oft vergleichsweise gering. Trotzdem schweigen wir manchmal, wo wir reden sollten. Lassen wir uns verführen von denen, die nicht geschwiegen haben. Lassen wir uns verführen von dem, dessen Wort auch in unserem Inneren brennt wie ein Feuer.
  
  Amen.

  
  
    [1] Vgl. Max Weber: Politik als Beruf. Vortrag (1919), zur „charismatischen“ Herrschaft.
  
  
    [2] Vgl. Richard Wisemann: Wie sie in 60 Sekunden ihr Leben verändern. (Fischer Taschenbuch) Frankfurt am. 102009, S. 67.
  
  
    [3] Vgl. Bernd Waldbauer: Überleben als Überbringer schlechter Nachrichten. In: Projektmanagement aktuell 4/2008, S. 29f.
  
  
    [4] Zit. n. Inge Scholl: Die Weiße Rose. Erw. Neuausg. Frankfurt am. 1982, S. 96-121.
  
  
    [5] Zit. n. Barbara Beuys: Sophie Scholl. Biographie. München 2010, S. 454.
Perikope
03.03.2013
20,7