„WACHS-SAM“ BLEIBEN!, Predigt zu 2. Korinther 6, 1-10 von Thomas Ammermann
6,1
Liebe Gemeinde!
Menschen sind wie Bäume: Sie wachsen nie aus! Sofern nur unsere Wurzeln fest verankert sind in einem Boden, der wirklich trägt und noch Zugang haben zu jenen verborgenen Quellen, die unseren Geist ernähren, lassen wir nicht nach, „dem Himmel entgegen“ zu streben, jeden Tag von neuem – unsichtbar langsam vielleicht, doch Millimeter für Millimeter unzweifelhaft über uns selbst hinaus...!
Aber wehe, wenn es anders kommt...
1 AlsMitarbeiter aber ermahnen wir euch, sagt Paulus im 2. Korintherbrief, Kapitel 6 – unserem heutigen Predigttext - dass ihr die Gnade Gottes nicht vergeblich empfangt.
  2 Denn er spricht (Jesaja 49,8): »Ich habe dich zur Zeit der Gnade erhört und habe dir am Tage des Heils geholfen.« Siehe,jetzt ist die Zeit der Gnade, siehe, jetzt ist der Tag des Heils!
  3 Und wir geben in nichts irgendeinen Anstoß, damit unser Amt nicht verlästert werde;
  4 sondern in allem erweisen wir uns als Diener Gottes: in großer Geduld, in Trübsalen, in Nöten, in Ängsten,
  5 in Schlägen, in Gefängnissen, in Verfolgungen, in Mühen, im Wachen, im Fasten,
  6 inLauterkeit, in Erkenntnis, in Langmut, in Freundlichkeit, im heiligen Geist, in ungefärbter Liebe,
  7 in demWort der Wahrheit, in der Kraft Gottes, mit den Waffen der Gerechtigkeit zur Rechten und zur Linken,
  8 in Ehre und Schande; in bösen Gerüchten und guten Gerüchten, als Verführer und doch wahrhaftig;
  9 als die Unbekannten, und doch bekannt; als dieSterbenden und siehe, wir leben; als die Gezüchtigten, und doch nicht getötet;
  10 als die Traurigen, aber allezeit fröhlich;als die Armen, aber die doch viele reich machen; als die nichts haben, und doch alles haben.
Liebe Gemeinde, Sie haben es gehört: Als Mitarbeiter des Apostels Paulus muss ich Sie ermahnen, dass Sie die Gnade Gottes nicht vergeblich empfangen! Denn: Siehe, sagt der,jetzt ist die Zeit der Gnade, siehe, jetzt ist der Tag des Heils! Deshalb: erweisen wir uns als Diener Gottes: in großer Geduld, in Trübsalen, in Nöten, in Ängsten ... aber allezeit fröhlich...!
Doch da höre ich es auch gleich – wie aus herbststürmischem Wald – ganz unbehaglich rauschen und rascheln im Parkett: „So so, der Tag des Heils soll also angebrochen sein und ich habe es gar nicht bemerkt?! – Vielleicht, weil ich Dummerchen mich noch mit so unbedeutenden Kleinigkeiten aufgehalten habe, wie meinem Arbeitsplatz nachzutrauern, den ich letzte Woche verloren habe?... - Oder ängstlich auf den Laborbefund wegen der kürzlich in meinem Körper entdeckten Geschwulst zu warten?... – Oder mich um einen Therapieplatz für meinen drogensüchtigen Sohn zu kümmern?... Ist es das, Herr Pfarrer, was Sie uns nahe legen wollen, dass wir in all dem Elend, das Gott uns tagtäglich zumutet, ausgerechnet Zeichen der Gnade sehen und uns womöglich noch darüber freuen sollen? Oder worin – bitteschön! – besteht das gepriesene Heil dieser Tage?! Ich kann jedenfalls nichts davon erkennen, denn meine Tage sind nicht so leicht und bieten absolut keinen Anlass, „allezeit fröhlich“ zu sein! Also bleiben Sie mir vom Hals mit solchen frommen Durchhalteparolen. In „Trübsalen“, „Nöten“, „Ängsten“, „Schlägen“, „Verfolgungen“ und „Mühen“ fröhlich zu bleiben mag was für Heilige sein, ich aber bin bloß ein Mensch (und Sie auch, Herr Pfarrer, wenn ich mich nicht irre)!“...
Liebe Gemeinde, das hätte ich mir natürlich denken können, dass die Zumutung jenes paulinischen Standhaftigkeits-Appells nicht ohne Widerspruch bleibt. Schließlich predige ich hier nicht zu einer ausgelassenen Hochzeitsgesellschaft, sondern zu Menschen, die die harte Alltagsrealität ihres Daseins im Blick – und wahrscheinlich auch in den Knochen - haben.
Aber auch Sie können sich denken, dass die Absicht des Apostels keineswegs darin bestand, die realen Belastungen und Nöte der Menschen klein zu reden, sie mit einem frommen Zuckerguss zu überziehen, um sie dann  - wie eine Hochzeitstorte - denen, die darunter leiden, als besonderen Leckerbissen wieder anzudrehen!
Ihm liegt nämlich nicht daran, dass wir uns selbst überwinden und womöglich verleugnen, wie es uns wirklich geht, sondern dass wir hinter uns lassen, was uns belastet und am richtigen Leben hindert. Dazu lädt er uns ein - unter Begradigung jeden süß-fromm-lächelnden Silberblicks - genau hinzuschauen und dann auch zu verstehen, weshalb – oder besser: woraufhin – wir all das durchmachen, was das Leben uns so bietet und abverlangt.
Überhaupt will der Apostel uns mit seiner Rede – trotz der etwas anstößigen Formulierung am Anfang: „wir ermahnen euch, dass ihr die Gnade Gottes nicht vergeblich empfangt“ - nicht so sehr den erhobenen Zeigefinger, sondern einen erhebenden Fingerzeig präsentieren. In seiner kleinen Ansprache über die „Zeit der Gnade“ geht es nämlich um nicht weniger, als um den großen Sinn unsres Lebens und Erlebens – gerade auch angesichts der weniger angenehmen Aspekte desselben jenseits fröhlicher Hochzeitsfeiern.
Um den zu erfassen, müssen wir noch einmal neu ansetzen. Dazu beginnen wir am besten mit dem „Sinnen“ über der Frage, was denn „Gnade“ bedeutet : „...Wir geben in nichts irgendeinen Anstoß, damit unser Amt nicht verlästert werde...“ - Das sagt Paulus ja zuerst von sich selbst. Und wenn er dann fortfährt: „... in allem erweisen wir uns als Diener Gottes: in großer Geduld, in Trübsalen, in Nöten, in Ängsten, ... als die Unbekannten, und doch bekannt; als dieSterbenden und siehe, wir leben; als die Gezüchtigten, und doch nicht getötet ... als die Traurigen, aber allezeit fröhlich;... als die nichts haben, und doch alles haben“, dann will er seinen Zuhörern damit vor allem erst einmal klar machen, dass auch „die Mitarbeiter des Herrn“ mitnichten frei sind von Sorgen, Ängsten und Nöten, Verzweiflung, Schmerz, Trübsal, Todesgefahr usw. und also auch sehr wohl wissen, „wie das Leben so spielt“, wenn man ernst damit macht...
„Doch in dem allen“, sagt Paulus zugleich, sind wir dennoch geborgen, weil da ein Gott ist, der uns gnädig durchträgt und bewahrt, all den widrigen Umständen zum Trotz! -  „...Als die Unbekannten, und doch bekannt; als dieSterbenden und siehe, wir leben; als die Gezüchtigten, und doch nicht getötet ... als die nichts haben, und doch alles haben.“
„Trotz alldem, was mein Dasein belastet und in Frage stellt, trotz - und mit - all seinen Einschränkungen, Hindernissen und erlittenen Enttäuschungen ist mein Leben vollkommen“, sagt Paulus. Und das ist Gnade! Sie ist das große „Trotzdem“ des Lebens: Trotz allem, was uns bedrückt und bedroht, geht es immer weiter. Trotz Schicksalsschlägen, eigenen Fehlern und peinlichem Versagen ist nicht alles aus. Und auch wenn wir am Ende sind – solange wir leben ist es dennoch nicht zu spät, neu anzufangen. Denn hinter dem ganzen sog. „Ernst des Lebens“, steht ja ein liebender Gott, der vor allem die Menschen ernst nimmt und was sie durchmachen, dem wir nicht egal sind, sondern der sich kümmert und uns immer wieder Auswege aus den diversen Dilemmata unserer Existenz weisen will.
Ja, Gott steht hinter uns! Und das heißt: Er stützt und fördert uns bei allem, was wir – unseren Traurigkeiten zum Trotz – aus uns und unserem Schicksal machen. Darum geht´s,
„...In allem erweisen wir uns als Diener Gottes“, bekennt Paulus: „in großer Geduld, in Trübsalen, in Nöten, in Ängsten, ... als dieSterbenden UND SIEHE, WIR LEBEN...!“
Gnade als Prinzip des Lebens! - Zugegeben, liebe Gemeinde, die Dinge so sehen zu können, ist Glaubens- und damit vielleicht nicht jedermanns Sache. Aber es bringt sich in dem, was Paulus da aus seinem Glauben bezeugt, auch ein grundsätzliches Prinzip der Natur zum Ausdruck: Es ist nämlich ein Kennzeichen allen Lebens, dass es immer weitergeht, auch wenn alles aus zu sein und keinen Sinn mehr zu ergeben scheint. Das Leben selbst gibt nicht auf, neue Wege zu suchen, in immer neuen Formen sich zu entfalten – und selbst ein abgeholzter Baum schlägt oft wieder aus, wenn erst der Frühling kommt (die Zeit der Gnade)!
Gnade als Prinzip des Lebens! – Zugegeben, ein Glaubenssatz. Aber einer, der auf Erfahrung beruht! Auf der Lebens-Erfahrung von Menschen, die schon manches mitgemacht haben. Menschen, die die Verzweiflung kennen, die z.B. wissen, was es heißt, seinen Arbeitsplatz zu verlieren, oder auf einen Laborbefund zu warten oder einen Therapieplatz zu suchen...
Und wenn der Apostel Paulus nun in Anlehnung an den Propheten Jesaja behauptet: „Siehe,jetzt ist die Zeit der Gnade, siehe, jetzt ist der Tag des Heils!“, dann sollten wir ihm dafür keine „widernatürliche“ Neigung zur Leugnung der allzumenschlichen Lebensrealität unterstellen, sondern – im Gegenteil – verstehen, dass er den Blick sozusagen „gnadenlos“ darauf richtet, um dann aber auch die richtigen Schlüsse daraus zu ziehen und zu schauen, was dahinter, was hinter den „Dingen unseres Daseins“ ist, wer hinter uns steht – trotz alledem. Denn der „Tag des Heils“ meint ja kein Synonym für das Knacken des Jackpots beim Lotto; und „Zeit der Gnade“ bedeutet mehr, als ewige Jugend und Gesundheit, Erfolg im Beruf oder das (nach einem alten Schlager) sprichwörtliche „Glück des Klavierspielers bei den Frauen“... Vielmehr geht es darum, auf der Klaviatur des ganzen Lebens – den weißen und den schwarzen Tasten – wirklich Musik machen zu lernen, statt wie ein Anfänger immer wieder und immer neu zu verzweifeln, wenn die Tonart wechselt und ein „b“ als Vorzeichen erscheint!
Und damit sind wir beim Hauptthema: der Frage nach dem Sinn des Lebens.
„Alles Leben ist Problemlösen“ – so lautet der Titel des Hauptwerkes des Wissenschaftsphilosophen Karl Popper. Der trifft den Sachverhalt genau. Denn Menschen sind wie Bäume. Sie wachsen nie aus! Irgendein verrücktes Gen in uns sorgt dafür, dass wir nie fertig werden mit den Herausforderungen unseres Daseins unter der Sonne und dass wir – egal wie endgültig im Positiven oder Negativen unser gegenwärtiger Zustand uns auch erscheinen mag - nicht aufhören können, uns „dem Himmel entgegen zu sehnen“ – solange wir leben!
Wenn es nun heißt: „AlsMitarbeiter aber ermahnen wir euch, dass ihr die Gnade Gottes nicht vergeblich empfangt“, dann meint das schlicht. „Seht zu – sehnt zu - dass ihr den Sinn – die „Problemlösungs-Aufgabe“ eures je eigenen Daseins und damit: dass ihr das Leben selbst - nicht aus dem Blick verliert über allem, was es euch vielleicht angetan hat. Sondern versucht, in den Trübsalen, Nöten, Ängsten, Schlägen, Gefängnissen, Verfolgungen und Mühen standzuhalten, euch nicht zu verlieren... und am Ende zu erkennen: Genau das ist mein Weg der Reifung, wie Gott ihn mich zu gehen heißt. Jener Gott, dem ich nicht egal bin, der hinter mir steht und hinter dem, was ich aus mir mache, der meinem Leben wie es ist Würde gibt und der sich kümmert und immer neue Auswege zeigt. Der aber auch bekümmert sein kann, wenn ich diese nicht zu ergreifen vermag! 
Liebe Gemeinde!
Menschen sind wie Bäume. Sie können nur wachsen an dem, was ihnen widerfährt – oder zerbrechen und untergehen.
Solange ein Baum lebt aber, macht sein Dasein Sinn: In seinen Zweigen bauen Vögel ihre Nester– auch die schrägen – und unter seinem hoffnungsgrünen Blätterdach ist Platz zum Verschnaufen für alle, die ermüdet sind. Kurzum: Solange unser Baum wächst, lebt er nicht nur für sich selbst, sondern dient dem Leben - so oder so - welches bei ihm eine Heimat sucht in immer neuen Formen.
Wie anders nun, denn als “eine Gnade Gottes” könnten wir es nennen, wenn es uns Menschen gelänge – auch jenseits zucker-torten-fröhlicher Hochzeitsfeiern - miteinander am Sinn unseres Lebens zu arbeiten, diesen in immer neuen Formen ins Dasein zu bringen, um am Ende jene „Lebenslandschaft“ im Ganzen, mitsamt ihren Höhen und Tiefen, in die wir ja alle gepflanzt sind wie die himmelwachsenden Bäume, zum Raum der Entfaltung – zum Lebensraum - für alle zu machen.
Ich glaube, nichts anderes meinte Paulus, als er sagte: “in allem erweisen wir uns als Diener Gottes”. Und wahrhaftig: Heute wäre der richtige Tag, um damit zu beginnen. Also “wachs-sam” bleiben! Denn:
“Siehe,jetzt ist die Zeit der Gnade, siehe, jetzt ist der Tag des Heils!” – Wann sonst?! AMEN
Perikope