Empfehlung im Wettbewerb um Bedeutung: Gefangenschaftsflüchtling - Predigt zu 2Kor 3,3-6 von Markus Kreis

Empfehlung im Wettbewerb um Bedeutung: Gefangenschaftsflüchtling - Predigt zu 2Kor 3,3-6 von Markus Kreis
3,3-6

3Ist doch offenbar geworden, dass ihr ein Brief Christi seid durch unsern Dienst, geschrieben nicht mit Tinte, sondern mit dem Geist des lebendigen Gottes, nicht auf steinerne Tafeln, sondern auf fleischerne Tafeln der Herzen. 4Solches Vertrauen aber haben wir durch Christus zu Gott. 5Nicht, dass wir tüchtig sind von uns selber, uns etwas zuzurechnen als von uns selber; sondern dass wir tüchtig sind, ist von Gott, 6der uns auch tüchtig gemacht hat zu Dienern des neuen Bundes, nicht des Buchstabens, sondern des Geistes. Denn der Buchstabe tötet, aber der Geist macht lebendig.

Ein Araber und ein Andalusier hauen ab. Weg von ihrem alten Don aus Spanien, raus aus dem Corral. Hinein in die wilden Steppen aus Gras und Busch, Erde und Sand, Hitze und Tornado. Mit ihresgleichen gehören der Araber und der Andalusier in den Prärien von Nordamerika zum Ursprung der Mustangherden. Gefangenschaftsflüchtling. So nennt man ein Lebewesen, das in einer ihm fremden Natur der menschlichen Obhut verloren gegangen ist. Und dann fürderhin frei und wild in seiner neuen Welt lebt und heimisch wird. Der Heilige Geist ist ein Gefangenschaftsflüchtling. Eingesperrt von Menschen in die Grenzen ihres Geistes, und ihnen darob verloren gehend. Er bewegt sich frei in einer neuen Welt und kauert da, wo es ihm gefällt, zieht andere zu eng Gezäumte mit sich in ein neues Leben.
Der Heilige Geist ist ein Gefangenschaftsflüchtling, ersichtlich zum Beispiel am in die Ecke gedrängten Paulus. Was lag da an? Einige Korinther wollten, dass er ihnen ein Schreiben vorweise, in welchem er von außen, von Dritten empfohlen würde. Was sollte er darunter verstehen? War das als Angriff gegen ihn und sein Wirken in Korinth zu verstehen? Aus purer Freude am Stress machen. Oder aus Trotz, weil er den Weltstädtern eine Spur zu selbstherrlich aufgetreten ist. Oder meinten die in Korinth: So, wie der drauf ist, so weitgereist und fähig, so was hat er eh. Oder die Anfrage um Empfehlung war Teil einer Prozedur – so wie es damals halt üblich war und deshalb zu befolgen. Auch wenn der Betroffene in der Sache über jeden Zweifel erhaben und das deshalb als lästig empfinden musste. Was muss, das muss! Clevere Korinther; wenn man als Christ in Korinth die Forderung unterließ, hätte ja sein können, dass man dafür zur Rechenschaft gezogen würde. Paulus war unschlüssig, dachte hin und her, vor und zurück. Fand dann eine Antwort, verlieh seiner Empfindung im Text, wenn überhaupt, nur indirekt Ausdruck. Was auch immer ihm das Ansinnen bedeutete, er hat darauf wie folgt entgegnet. Eine Empfehlung von außen, von einem Dritten? Gerne, ein Heimspiel für mich. Gott selbst empfiehlt mich! Sein unter Euch wirksamer Geist! Der ist doch allein durch mich zu euch nach Korinth gekommen. Jeder andere Dritte, jedes andere außerhalb ist im Vergleich mit Gott natürlich ein Abstieg. Was für ein Befreiungsschlag! Diese Ansage wird erst mal gewirkt haben, egal welche Absicht die Fragenden verfolgten.
Der Heilige Geist weckt also Gottes Bedeutung im Menschen, setzt dessen Kopf und Herz in Bewegung, bewusst und unbewusst. Bei Paulus hat das immer wieder gut geklappt. Wie steht es damit bei uns? Da muss man als Mensch leider zugeben: Wir fühlen uns sehr gerne bedeutsam. Denn das schmeichelt sehr, um so mehr, wenn Mensch sich ungeliebt oder unverstanden fühlt. Deshalb werden wir ab und an leider stille Besserwisser. Oder mehr noch: Wir werden laut und machen gerne selber und ganz allein die Ansagen. Als Ansager oder Besserwisser stehen wir in einer Gefahr: Nämlich das, was wir uns da denken, unsere eigene Bedeutung, für das einzig wahre zu halten. Wir übergehen die Bedeutung des Heiligen Geistes, was das Bedeuten angeht. Für uns Menschen heißt dieser Vorrang nämlich: Es ist alles andere als von vornherein klar, ob wir einen Text richtig verstehen. Oder welche Bedeutung wir mit einem von uns gemachten Text ausdrücken. Beides ist also erst durch die Vorsprache des Heiligen Geistes zu entdecken und zu finden. Angesichts von Besserwissern und Ansagern ist die gute Nachricht: Der Heilige Geist spricht tatsächlich erfolgreich vor in uns Menschen! Ruft Gottes Bedeutung in uns auf, selbst wenn wir keinen blassen Dunst haben.

Paulus beschreibt im Korintherbrief, was bei dessen Mitteilung vor sich geht. Er erwähnt Tinte. Das würde heißen, dass der Geist eine dunkle Flüssigkeit einem Stoff aufträgt, der diese wie ein Papyrus oder Pergament aufsaugt und an Ort und Stelle zu Buchstaben und Text eintrocknen lässt. Paulus nennt auch Steintafeln. Das wiederum hieße, dass der Heilige Geist Hammer und Meißel zur Hand nähme, damit Splitter herausklopfte, so dass sich Folgen von Buchstaben in den Stein eingrüben. Statt einer Textfläche das Material für Buchstaben anzulagern, entsteht der Text hier, indem vom Untergrund etwas entfernt wird. Merkwürdig. Vielleicht hat Paulus damit ausdrücken wollen: Die Bedeutung von Worten und Texten gibt sich doch so, dass Menschen beim Reden und Hören den Worten eine gewisse Bedeutung absprechen und sie damit eingrenzen. Und das wäre wie ein Einritzen und das entfernte Material wegwischen. Das Auftragen von Tinte auf Papier wiederum entspricht dann dem Anlagern und Erweitern von Bedeutung. Das ist das eine, was Paulus ausdrücken wollte. In diesem Bibelvers steckt noch mehr. Paulus nennt weiter das Wort Herz als Untergrund und das Wort Geist als den Stoff, der Sprachzeichen im Fortgang erzeugt. Die Buchstaben sind dann so etwas wie der Untergrund und die Textfläche, die wiederum Gottes Geist zum Formulieren nutzt. Des Geistes Text- und Zeichenfluss steckt also dann in der Bedeutung, die durch die Folge von Buchstaben und Schriftzeichen in Hirn und Herz beim Mensch entsteht.

Bedeutung in Wort und Text, die verhält sich wie ein Gefangenschaftsflüchtling. Wenn sie entsteht, geht es zu wie beim Spiel Teekesselchen. Die Bedeutung eines Wortes kommt da ja durch Auftragen und Hinzufügen in Bewegung. Auch wenn sie einen Ursprung und Grundbestand besitzt, der eine bestimmte Bedeutung ausgegrenzt und entfernt wie Splitter aus einer Steintafel. Nehmen wir zum Beispiel das Wort Bund aus unserem Korinthertext. Das bedeutet so etwas wie ein Zusammenschluss, das ist der Ursprung und Grundbestand. Und der ist erweitert worden und tut sich zusammen mit einer handlichen Anzahl Grünzeug wie Schnittlauch nämlich, oder mit Werkstoffen wie Dachlatte oder Jeansstoff, oder mit Personen oder Parteien unter einem Vertrag. In der Bibel ist bedeutet das Wort einen Zusammenschluss, in dem eine Seite sich sogar dann an den Bund hält und das ihre tut, wenn die andere Seite ihn bricht, indem sie dagegen verstößt oder das ihre unterlässt.

Ursprung und Grundbaustein verhindern, dass die Bedeutung in alle möglichen Richtungen wabert und verdreht. Das wäre nämlich möglich und geschieht auch so. Haben sie schon mal das Buch Alice im Wunderland gelesen? Da spielt der Autor genau dieses Zerfließen und Verdrehen von Bedeutung durch. Ein Beispiel: Im Buch spielt eine Herzkönigin mit. Und ausstaffiert wie sie ist, scheint sie tatsächlich eine zu sein. Jedoch: „Kopf ab.“, ist einer der Sätze, die sie am liebsten und häufigsten ausspricht. In Wirklichkeit verhält sich also äußerst herzlos dominant und gewaltvoll. Ok, ein Beispiel aus der Welt der Phantasie, jetzt eines aus der Welt von heute: Unter denen, die dominant auftreten, indem sie ein Punisher T-Shirt tragen, sind bestimmt viele, die sich in Wahrheit eher verzweifelt oder beschämt fühlen und das verbergen vor sich oder den Mitmenschen. Wie gesagt, die Bedeutung eines Wortes kann also in Fluss kommen, besitzt jedoch einen Ursprung und Grundbestand. Und der verhindert, dass die Bedeutung in alle möglichen Richtungen wabert und verdünnisiert, unkenntlich bis zum Auflösen.

Was heißt das nun für das Texten des Heiligen Geistes? Gottes Geist kritzelt. Oder gräbt ein, ritzt ein, graviert. Wenn er textet, trägt er also eine Bedeutung auf und hinzu für uns. Oder er entfernt eine gewisse Bedeutung aus Worten und Sätzen und setzt damit eine Grenze. Nach dem Motto: So etwas kann das Wort in keinem Fall bedeuten. Gravur und Kritzeln, das kennen wir. Viele Menschen verfassen Botschaften, die ihnen am Herz liegen, gerne bündig kurz und knackig. Ich will Sex mit Frau B! Eingeritzt in die Schreibfläche eines Schülertischs im Klassenzimmer von Azubis aus dem Bereich Energie. Oder: Herr L. = @. Auf den Wänden des eines Schul WCs geht es noch ganz anders zu. An einem anderen dunklen Ort, im Wald: in der Rinde einer Buche eine Herzform, darin J+C und eine Jahreszahl. Graffiti auf Waggons der Deutschen Bahn. Kritzeleien, mal ärgerlich, mal lustig, mal nur ein Fall von Sachbeschädigung oder total egal, mal anziehend, die Sinne bannend. Schon die Römer kritzelten und gravierten, erwiesen aus Asche und Ruinen von Pompeij, oder den Katakomben von Rom. Tattoos, Emojis. Ein Zeichenbild von Banksy, gesprüht in die Poren eines Betonbaus. Ein Kupferstich von Dürer.

Gottes Geist kritzelt und graviert mit im Leben, sagt Paulus. Das Wort INRI wurde in diesem Geist am Kreuz eingraviert. Und was als Spott und Hohn gemeint war, ist reine Wahrheit geworden. Jesus wurde auf dem Holzkreuz angelagert. Ist von einem Opfer ohne Gesicht zum Haupt voll Blut und Wunden, zu dem Held und Retter geworden. Der Heilige Geist textet Menschen still oder laut Gottes Bedeutung ins Gemüt. Bahnt und spurt sich buchstäblich in Kopf und Herz. Auf immer und ewig verbunden. Das geschieht zuerst frei von Sprache, stumm, ohne Laute oder Buchstaben. Auch wenn manches Alphabet der Welt so aussieht, als gäben seine Schriftzeichen gerade dies wieder: Dass Nerven sich in Hirn und Körper samt Herz bahnen und in alle Himmelsrichtungen verknüpft sind. Und das stimmt auch in der Totale. Sieht man von außen aufs nackte Gehirn, dann zeigt sich: Seine Oberfläche weist sehr viele Kerben auf, deren Anordnungen sich ändern und doch dabei irgendwie wiederholen.

Der Geist graviert und kritzelt Menschen Gottes Bedeutung in und auf Herz und Hirn, Zunge und Hand, Ohr und Auge. Nimmt Bedeutung weg, streicht sie aus dem Hirn, wenn sie dem Ursprung und Grundbestand widerspricht, die da gezogenen Grenzen übertritt. Er erweitert und eröffnet neue Bedeutung, wenn das Leben es so will, wenn Gott die Welt so vorsieht. Auch und gerade dann, wenn Menschen keinen blassen Dunst haben. Oder wenn sie mit aller Gewalt in ihrem alten Verständnis hängen bleiben. Gottes Geist macht Menschen und Texte lebendig statt sie zu töten. Denn er ist ein Gefangenschaftsflüchtling. Von Menschen immer wieder eingesperrt in die Grenzen ihres Geistes, darob ihnen verloren gehend. Gottes Geist bewegt sich frei in der neuen Welt und kauert da, wo es ihm gefällt. Öffnet dort den zu eng gezäumten Menschengeist samt Seele. Nimmt Ahnungslose und Ungeliebte, Besserwisser und Ansager mit, so dass ihre neue Welt ihnen heimisch und bedeutsam wird. Amen.

Vier Fragen zur Predigtvorbereitung an OStR Markus Kreis

1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Die Predigt ist nur für das Internet geschrieben. Bestimmte Menschen hatte ich wie fast immer keine vor Augen. Meine KollegInnen und IT und ET Azubis dürften bei mir als Berufsschullehrer zwangsläufig mitschwingen. Ohren versuchte ich zu haben für die stumme Stimme, die einem Menschen in mir entsprechen mag, und die zu erhören mir in meiner Verfallenheit an Welt ohne Himmel leider immer wieder schwerfällt.

2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Die Analogie zwischen der Entwicklung von Bedeutung und den Schreibdetails (Tinte und Papyrus, Steintafel mit Hammer und Meißel), die Paulus im Korinthertext zum Predigtsonntag verwendet.

3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Der Gefangenschaftsflüchtling als ein Wesen, das es dank fremder Hilfe oder eigener Einsicht schafft, seiner Begrenztheit, sei sie selbstgewählt oder aufgezwungen, zu entkommen, um in seiner gewonnenen Freiheit, die schön und neu ist, leider auch an Gefahren, heimisch zu werden.

4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Zuerst meinen Dank der sehr freundlichen, auch visuell en detail und in der Texttotale strukturiert arbeitenden, entgegen- und zuvorkommenden Kommunikation der Gegenleserin. Sie formulierte Kritik und Vorschläge so, dass ich dazu auf eigene Ideen gekommen bin ohne das Ihre zu kopieren. Auf ihren Hinweis fokussierte ich auf Semantik und eliminierte alles Explizite zur Sprachpragmatik, fand zu meinem Schreibziel nach wenigen Runden im Orbit. Nach ihrer ersten Rückmeldung habe ich die Schreibdetails im Korintherbrief (siehe oben unter 2.) genauer gelesen, verstanden und genutzt, zum Kritzeln kam Gravieren, nach der zweiten Mail geliebte Ideen sowie den Text insgesamt verkürzt.

Perikope

Der gestiefelte Kirchenkader: Um Trugbild erleichterte Ichsucht - Predigt zu 2.Kor 12,1-10 von Markus Kreis

Der gestiefelte Kirchenkader: Um Trugbild erleichterte Ichsucht - Predigt zu 2.Kor 12,1-10 von Markus Kreis
12,1-10

2. Korinther 12,1-10

1 Gerühmt muss werden; wenn es auch nichts nützt, so will ich doch kommen auf die Erscheinungen und Offenbarungen des Herrn. 2 Ich kenne einen Menschen in Christus; vor vierzehn Jahren – ist er im Leib gewesen? Ich weiß es nicht; oder ist er außer dem Leib gewesen? Ich weiß es nicht; Gott weiß es –, da wurde derselbe entrückt bis in den dritten Himmel. 3 Und ich kenne denselben Menschen – ob er im Leib oder außer dem Leib gewesen ist, weiß ich nicht; Gott weiß es –, 4 der wurde entrückt in das Paradies und hörte unaussprechliche Worte, die kein Mensch sagen kann. 5 Für denselben will ich mich rühmen; für mich selbst aber will ich mich nicht rühmen, außer meiner Schwachheit. 6 Denn wenn ich mich rühmen wollte, wäre ich kein Narr; denn ich würde die Wahrheit sagen. Ich enthalte mich aber dessen, damit nicht jemand mich höher achte, als er an mir sieht oder von mir hört.7 Und damit ich mich wegen der hohen Offenbarungen nicht überhebe, ist mir gegeben ein Pfahl ins Fleisch, nämlich des Satans Engel, der mich mit Fäusten schlagen soll, damit ich mich nicht überhebe. 8 Seinetwegen habe ich dreimal zum Herrn gefleht, dass er von mir weiche. 9 Und er hat zu mir gesagt: Lass dir an meiner Gnade genügen; denn meine Kraft vollendet sich in der Schwachheit. Darum will ich mich am allerliebsten rühmen meiner Schwachheit, auf dass die Kraft Christi bei mir wohne. 10 Darum bin ich um Christi willen guten Mutes in Schwachheit, in Misshandlungen, in Nöten, in Verfolgungen und Ängsten; denn wenn ich schwach bin, so bin ich stark.

In Ohnmacht zu fallen, das war zu Zeiten von König und Adel bei Hofe ein gutes Mittel, um Zeit zu gewinnen: in Ruhe die Gedanken sortieren, dann Nachrichten veranlassen, die notwendigen Hebel in Gang setzen, um schließlich mehr Einfluss über das Geschehen am Hofe zu erreichen. Eine Schwäche, die nur vorgespielt ist, mittels derer der Mensch also den eigenen Machtgewinn in die Hand nimmt. Das gibt es bis heute. Unser System der Krankschreibung eröffnet diese Möglichkeit, leider ohne sie hundert Prozent abwehren zu können. Und mit zur Schau gestellter Schwäche lässt sich als Masche auch im Internet gut Geld verdienen. Von einer Schwäche im Kontext mit Machtgewinn handelt unser Bibeltext. Eine Schwäche, die echt ist, die einsam macht, die beschädigt und kleben bleibt. Selbst dann, wenn Mensch fleißig arbeitet statt faul zu sein, er bleibt ihr gegenüber chancenlos. Die gute Nachricht: Wer davon betroffen ist, der wird ungeplant erleichtert um dies, was ihn schwach macht. Und bekommt neue Kraft zugespielt.
Das Leben kann zur Tretmühle geraten. Besonders schlimm, wenn das Einerlei öde und ohne Chance auf Änderung ist. Egal, ob ein Mensch Müller von Beruf ist wie der jüngste Müllersohn beim Märchen vom gestiefelten Kater. Oder wie Paulus, der neben dem Brotberuf eines Zeltmachers noch einen Herzensjob hatte. Erst recht dann, wenn Mensch zwar etwas erlernt hat, aber ihm sämtliche Mittel genommen sind, um den erlernten Beruf auszuüben. So wie der Müllersohn, der als Erbe nur eine Katze kriegt statt einer Mühle. Oder wie Paulus, dem in seiner Stunde Null bei Damaskus der alte Herzensjob genommen wurde: Als Ermittler unterwegs zu sein in Sachen Recht und Religion, also dem Entdecken und Verfolgen von Christen, um sie ihrer gerechten Strafe zuzuführen. Paulus hatte den neuen Glauben samt seinem Bild von Gott verachtet und angefeindet. Der Müllersohn will sich des Katers entledigen.
Nun kommt das Unerhörte. Was Christus für den Paulus, ist der Kater für den Müllersohn im Märchen. In unseren Breiten geht ein Katzentier eher mit dem Teufel zusammen oder mit dem Buckel einer Hexe, mit irgendetwas Bösem halt. Deswegen ist der Gedanke zunächst befremdlich. Andererseits soll laut Volksmund ein Katzentier mehrere Leben haben, sieben an der Zahl nämlich. Im Kontext mit der Bibel verstanden hieße das dann sieben Mal siebzig Mal; was zu verstehen gibt, dass das Tier auch für unendlich viel Leben stehen kann – eine Eigenschaft, die mit Göttlichkeit zu tun hat. So viel zu dieser Gleichsetzung. Kommen wir zur nächsten. Paulus steht dann so da, als würde er dem etwas tumben Müllersohn aus dem Märchen gleichen. Auch das dürfte manches Stirnrunzeln aufwerfen. Sehen wir weiter.
Paulus rühmt nur Christus für sein Wirken. Er scheut es, sich selbst für sein Tun in dessen Namen zu lobpreisen. Infolge dessen steht im Bibeltext das Wirken und die Bedeutung Christi im Vordergrund. Christus hat sich bei Damaskus dem Paulus wie ein Blitz aus heiterem Himmel entgegengestellt. Warum verfolgst Du mich, mein Lieber? Eine Anrede, die dem Saulus das Hören und Sehen vergehen ließ.
Allen Ruhm dem Kater! Im Märchen bestreitet dieser wesentlich die Action. Der Müllersohn kriegt kaum zu tun, wirkt daneben fast wie ein Statist. Wenn ein Katzentier mit einem Menschen spricht, müsste das einen wie der Schlag treffen, der adressierte dritte Sohn ist zumindest sehr verwundert. Wie Christus von Paulus, so sieht sich der Kater vom jüngsten Müllersohn verfolgt. Er entgegnet ihm: Du willst Leder aus mir für ein Paar neue Handschuhe machen? Mache es lieber umgekehrt! Verschaffe mir lederne Kniestiefel. Ein Wechsel, der Hand und Fuß hat. Denn er bedeutet: Setz mich in Gang, lass mal mich ran und machen als Deinen guten Diener! Dann wird das schon ein Ende haben mit deiner Schwachheit.
Kommen wir zu den Geschichten, die sich dank des Wirkens von Kater und Christus jeweils entwickeln. Was der Kater anweist und damit am Ende fertigbringt, das lässt den Müllersohn sprachlos und mit offenem Mund herumstehen. Er macht einfach mit und lässt das über sich ergehen. Das ist dem Paulus ähnlich bei der Begegnung mit Christus ergangen. Er hat das als Zwiesprache beschrieben, bei der er aber nur Zuhörer war statt auch Sprecher. Er hat sich außerstande gesehen, das nachzuahmen, was er da an Sprachlauten gehört hat. Er konnte das nur sich gefallen lassen und mitmachen und später davon in seiner Sprache erzählen.
Was der Kater mit den anderen Akteuren macht und bewirkt, ist recht wundersam. Eine Anhäufung guter Einfälle, die durch viele gute Zufälle umgesetzt und mit sehr viel Erfolg zu Ende geführt werden. So viel gutes Glück spielt da eine Rolle, dass Lesern oder Zuhörern schwindlig werden müsste – zu unwahrscheinlich klingt das alles. Ein König, der empfänglich ist für Geschenke und Schmeichelei. Der nach seltenen und gegrillten Rebhühnern giert, der gerne einem der Kleidung beraubten, unschuldigen Nackedei hilft, der vertraut auf bloßen Augenschein hin, also blind. Arbeiter eines mächtigen Zauberers, die auf bloßen Zuruf eines Typen mit Chefgetue glauben, sterben zu müssen, wenn sie sich dessen Anweisung widersetzen. Gnade, so nennt der christliche Volksmund übrigens ein durch Christus bewirktes Widerspiel, das unerkannt vor sich geht und gut endet. Schwachheit gleichsetzt mit Kraft.
Gnade. Die Akteure eines Geschehens handeln so vor sich hin, verfolgen halt so ihre Interessen. Dabei entgeht ihnen, was den anderen Teilnehmern und ihnen gerade tatsächlich und in Wirklichkeit geschieht. Wird Christus da in die Nähe einer üblen Tat gebracht? Führt er wie der Kater die Leute an der Nase rum, arbeitet er mit Betrug und Täuschung? Ja, das tut er, aber anders. Die Bibel spricht zum Beispiel bei Lukas von ihm als einem, der kommt wie ein Dieb in der Nacht. Christus erleichtert wie der Kater die Menschen um etwas, das sie lieben, nämlich, dass sie sich selbst auf den Leim gehen. Und wehe, der Betrug fliegt auf. Sehr unangenehm. Wird gerne mit allen Mitteln vermieden. Beide erleichtern ihre Leute trotzdem darum, sich aus Ichsucht zu betrügen. Im Falle des Katers: Der dritte Sohn hielt sich für viel zu chancenlos. Ja, sich nur als Opfer zu sehen, kann auch ein Trugbild aus bequemer Ichsucht sein, denn am Ende ist das Gegenteil passiert. Der König erkennt hintenrum, dass er viel zu empfänglich für Schmeichelei und geschenkte Zuwendung geworden ist statt korrekt und ohne Käuflichkeit. Viel zu gefräßig bei Rebhühnern statt Feinschmecker. Statt durchblickend viel zu blind für miese Tricks, die mit nackten Tatsachen vom Wichtigen ablenken. Ja, viel zu naiv, um Größeres zu überblicken, obwohl er sich für besonders ausgefuchst gehalten hat. Den Arbeitern des bösen Zauberers entwendet der Kater unentdeckt die Ausrede, sich nur auf die Vollmacht eines Typen mit Chefgehabe verlassen zu haben. Christus erleichtert die Menschen um ihre blinde, hausgemachte Naivität. Die lieben sie, weil sie sich in ihr für besonders ausgefuchst halten. Mittels derer sie jedoch das Tun und Lassen von Welt und Mitmenschen falsch einschätzen. Und es ist doch etwas Gutes, jemanden von Trugbildern zu befreien und neu auszurichten.
Paulus wird vom Dasein als Saulus geheilt, hat ein vielfach besseres Ego gewonnen. Er wird sozusagen selbst ein Kater, wichtigster Kundschafter und Minister von Christus für andere arme Seelen. Als Saulus hatte er sich als überaus stark erlebt: ein eingefleischter Verfolger, Nachsteller und Bestrafer von Christen. Als neuer Paulus kennt er sich auch als stark, aber anders und neu. Er hat die neuen Christen und Gemeinden betreut, welche ihm anvertraut waren. Er ahnte und kannte ihre inneren und äußeren Schwachstellen. Doch statt deren zeitweisen Betrug an sich und anderen anzuklagen, zu bestrafen oder auszunutzen, hat er vergeben und jedwede Hilfe angeboten. Er ist immer auf Achse gewesen, hat Gelder gesammelt, geduldig Gespräche geführt, sanft kritisiert und erklärt, was Glaube bedeutet. Dabei ist er schonungslos mit sich gewesen. Zusätzlich haben seine eigenen Gemeinden öfter auf ihm rumgehackt. Und auch Staat und Justiz bereitete ihm Ungemach, Anklage, Verurteilung. Viele dieser Gegner haben sein Wirken falsch eingeschätzt und so ungewollt zu seinem Erfolg beigetragen. Und weil er trotz all dieser Gegner so stark gewesen ist, hat er erkannt, wie schwach und trügerisch sein Ego in seinem Leben vor Damaskus war.

Zum Schluss ist zu sagen: Es gibt auch Unterschiede in den Texten. Galater geht davon aus, dass das Böse längst besiegt ist mit dem Tod des Gekreuzigten. Also auch schon dann, wenn sich Christus dem Paulus vor Damaskus zeigt. Im Märchen stirbt der böse Zauberer erst kurz vor dem guten Ende. Gemeinsam ist beiden Geschichten: Das Böse tut alles, um sich selbst seinem Ende zuzuführen. Böses und Ichsucht lassen sich samt Trugbilder vernichten und gehören in den guten Machtbereich Christi und des Gestiefelten. Werden zu gutem Leben und neuer Einsicht, neuem Tun. Der Zauberer lässt sich einverleiben und gehört von nun an der Katz samt seinem Besitz. Das alles, weil Christus uns erfolgreich um das eigene Trugbild betrügt.
Im Märchen fehlt so etwas wie ein Pfahl im Fleisch. Will sagen: Paulus hat vielleicht ab und an gefürchtet, rückfällig zu werden, sich selbst auf den Leim zu gehen. Wieder in das alte Leben zu verfallen, das er vor Damaskus geführt hatte. Das ist an ihm haften geblieben: Vielleicht auf sich selbst reinzufallen und wieder zum alten Verfolger, Nachsteller, und Bestrafer von Christen zu werden nur dass er inzwischen selber Christ geworden ist. Verfolgen, Nachstellen und Bestrafen, jetzt als ein Chef in der Kirche. Ok, immerhin hätte er dabei freilich nur mit Mitteln bedrängt und gekämpft, die der Austausch von Worten und Gedanken zur Verfügung stellt: also mit der Macht von Sprache und Recht, ohne Zwang und Gewalt. Das alte Leben im Selbstbetrug kann sich zuweilen noch mächtig regen im neuen Menschen.
Ob der Müllersohn als ein König diese Gefahr ebenso erkennt, lässt das Märchen offen. In das alte Muster von Ichsucht verfallen, den Mensch bereits hinter sich gelassen hat? Wenn es läuft, dann läuft es halt, oder? Sagt der Mensch gerne. Paulus gibt hier für uns eindeutig das bessere Beispiel ab. Er zeigt, was es heißt, das eigene Leben ohne Wunschdenken im Widerspiel von Schwachheit und Stärke zu verstehen. Er hat von Christus dazu einen Tunnelblick mit Weitenschärfe bekommen. Er hat mit seinen Texten uns Gläubigen entwendet, der Welt und uns selbst auf den Leim zu gehen. Und uns damit erleichtert, das eigene und das Leben der Welt besser zu verstehen.

Amen.

Vier Fragen zur Predigtvorbereitung an OStR Markus Kreis

1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Die Predigt ist nur für Leserinnen und Leser im Internet geschrieben. Bestimmte Menschen hatte ich keine vor Augen. Meine fast erwachsenen Berufsschülerinnen und -schüler aus den Branchen IT und Energie dürften mehr oder weniger wenigstens unbewusst leitend gewesen sein.

2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Die Ähnlichkeiten zwischen dem Märchen Der Gestiefelter Kater und dem Paulustext.

3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Der Mensch, um seine persönlichen Trugbilder (ungeplant) von Gott in Christus erleichtert und neu ausgerichtet.

4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Mit Hilfe der Gegenlese und den daraus mir gestellten Fragen unterscheidet sich die zuerst formulierte Version, die sprachausdrücklich und strukturell idiosynkratisch gewesen sein dürfte, und der abgegebene Text hoffentlich erheblich.

Perikope
30.06.2024
12,1-10

Ostern und Resilienz - Predigt zu 2Kor 4,14-18 von Christian Stasch

Ostern und Resilienz - Predigt zu 2Kor 4,14-18 von Christian Stasch
4,14-18

Paulus, österlich und resilient

„Wir wissen, dass der, der den Herrn Jesus auferweckte, auch uns mit Jesus aufwecken wird und uns zusammen mit euch vor sich bringen wird. Und das alles geschieht nämlich um euretwillen, damit die sich vermehrende Gnade durch sehr viele den Dank überreich mache zur Ehre Gottes. Daher verzagen wir nicht, vielmehr: Wenn auch unser äußerer Mensch zugrunde geht, so wird doch unser innerer Mensch von Tag zu Tag erneuert.“

Das, liebe Gemeinde, sind noch einmal Sätze unseres Predigttextes, 2. Brief an die Gemeinde in Korinth. Autor: Paulus.
Der Apostel Paulus steckt voller Osterfreude. Christ ist erstanden. Auferstanden von den Toten.
Mit anderen Worten gesagt: Ostern geht weiter. Die Sache Jesu geht weiter.
Wächst, so wie ein Weinstock klein anfängt und wächst und gedeiht und unzählig viele Trauben an sich hat. 
Ostern wirkt sich aus. Schenkt Menschen Lebendigkeit! Ostern wärmt, steckt an, lässt einen nicht kalt.

Jetzt kann man sagen: Der hat gut reden, der Paulus.
Osterfreude heute ist doch schon etwas abgekühlt, oder?

Ich sage Ihnen, warum ich dennoch geneigt bin, dem Paulus zuzuhören und mich von ihm anstecken zu lassen.
Nämlich: Wie so viele Menschen in der Bibel ist auch Paulus kein Star. Kein Held. Kein Überflieger.
Die Osterfreude des Paulus ist wie eine zweite Stimme. Eine andere Melodie. Eine neue Perspektive.
Die erste Stimme ist der ganz normale Alltag, auch die Sorgen, das Leid.
Und so klingen bei ihm beide Stimmen zusammen. Die klagende Stimme und die lobende Gegenstimme.
Also nicht Osterfreude, weil eh schon alles so super läuft.
Sondern Osterfreude, obwohl sein Leben nicht so glatt läuft.
Osterfreude, obwohl Paulus verfolgt, eingesperrt und geschlagen wird.
Osterfreude, obwohl Paulus kein klassischer Star ist, er kann nicht besonders gut reden, er ist kein Rhetorik-Genie.
Osterfreude, obwohl Paulus ein Leiden mit sich herumschleift, dass immer wieder zuschlägt (vielleicht Epilepsie, Migräne, Schwermut – die Forscher rätseln). Paulus wäre das gern los, aber seine bisherigen Gebete um Heilung bringen nichts ein.

Wörtlich klingt die Zweistimmigkeit bei Paulus dann so: „Daher verzagen wir nicht ( = werden wir nicht müde), vielmehr: Wenn auch unser äußerer Mensch zugrunde geht, so wird doch unser innerer Mensch von Tag zu Tag erneuert.“
Osterfreude ist kein Budenzauber. Und kein Wünsch-dir-was.
Aber sie verleiht dem Leben einen anderen Blick, einen anderen Klang, eine neue Perspektive.
Und hilft so, den Alltag zu bestehen.
Mit Schwierigkeiten und Niederlagen umzugehen, mit Leid und Schmerz.
Nicht daran zu zerbrechen.

Osterglaube und Osterfreude haben kleine Signalwörter zur Seite, nämlich: „obwohl“. Oder, noch prägnanter: „dennoch“!
Prüfen Sie das gern mal nach in Ihrem eigenen Lebenskontext: das, was Sie dazu bringt, trotz allem den inneren Halt und die Hoffnung zu bewahren – da ist immer dieses kleine trotzige „Dennoch“ mit dabei. Obwohl persönliche Krisen da sind, obwohl in der Welt Leid und Gewalt und Unrecht und Kriege noch da sind – dennoch (!) gilt es, diese zweite Stimme zu suchen, zu hören, erklingen zu lassen.

Resilienz, was ist das?

Soziologen, Therapeuten, Mediziner nennen diese innere Widerstandskraft gegen Krisen: Resilienz.
Resilienz heißt: Abprallen. So wie ein Regenschirm den Regen abprallen lässt. Und bei Werkstoffen ist Resilienz die Eigenschaft, nach der Verformung wieder in die Ausgangsform zurückzukehren, so wie unsere Matratzen im Bett: Eingedrückt in der Nacht, wieder schön gerade am Tag.
Resilienz als menschliche, seelische Widerstandskraft. Sozusagen: als Dennoch-Quelle!
Kann man so was lernen? Sich aneignen?
Die eigene Kindheit spielt eine Rolle. Gab es ein Geschwisterkind, eine Mutter, einen Großvater, eine Lehrerin, die mich ernst nahm, sich für mich interessierte, an mich glaubte, mir etwas zutraute? All das ist resilienzfördernd. Es stärkt den Selbstwert. Ich kann was. Ich bin wichtig.
Auch später sind diese sozialen Komponenten wichtig: Gibt es Familie oder eine Clique, eine beste Freundin oder einen besten Freund, mit dem ich offen sprechen kann und bei denen ich mich nicht toller machen muss als ich bin?
Manchen gibt die Liebe zur Natur innere bleibende Kraft, oder die Liebe zur Musik, zur Kunst, oder auch: zu Hannover 96.
Und schließlich ist natürlich auch die Religion eine Quelle innerer Kraft – ob islamisch, jüdisch, christlich oder sonst wie ist in diesem Punkt gar nicht entscheidend: Religion kann zur inneren Stabilisierung beitragen.

Resilienz, praktisch

Manchmal erlebe ich Menschen, wo ich denke: „Wo nehmen die nur die Kraft her?“ Sie werden solche Menschen auch kennen… Im persönlichen Umfeld. Oder in der Öffentlichkeit. Und da nenne ich mal drei.

Woher hat Wolfgang Schäuble die Kraft hergenommen? Er hatte 1990 die deutsche Einheit verhandelt und maßgeblich mitgestaltet. Dann wurde er eines Abends im Wahlkampf ins Gesicht und in den Rücken geschossen. Seine Gesundheit wurde nie wieder so wie vorher. Er blieb an den Rollstuhl gefesselt. Aber seine große Leidenschaft, die Politik, betrieb er weiter, mit viel Elan und Kraft. Dass Oskar Lafontaine, der politische Gegner und selber ein Attentatsopfer, ihn bald nach dem Attentat besuchte, das hat ihn gefreut. Viele Jahre lang hatte er Krebs. Am 2.Weihnachtstag, vor ein paar Monaten, starb er. „Daher verzagen wir nicht, vielmehr: Wenn auch unser äußerer Mensch zugrunde geht, so wird doch unser innerer Mensch. von Tag zu Tag erneuert.“

Woher hat Alexander Nawalny die Kraft hergenommen? Der russische Oppositionspolitiker, Putin-Gegner, Kandidat bei der Oberbürgermeisterwahl in Moskau, Präsidentschaftskandidat zu werden verbot man ihm, immer wieder inhaftiert. Vor Jahren wurde ein Giftanschlag auf ihn verübt. Er wurde in der Berliner Charité behandelt, erholte sich dort. Und flog doch ganz bewusst wieder zurück nach Russland, 2021, wohlwissend, was ihn dort erwarten würde. Haft, Isolation, Gewalt und vor einigen Monaten dann Tod im Gefängnis. Nawalny war erst spät Christ geworden und seine Lieblingsstelle aus der Bibel war: „Selig sind, die da hungert und dürstet nach Gerechtigkeit, denn sie sollen satt werden.“ Mit seiner inneren Kraft und Gradlinigkeit und auch mit seinem Humor hat er Menschen Mut gemacht und macht immer noch Mut – zu widerstehen.

Woher nimmt Sally Azar die Kraft her? Diese Frau ist bei uns nicht so bekannt. Sie ist 27 Jahre jung und ist die erste palästinensische christliche Pastorin, arbeitet in der deutschsprachigen Himmelfahrtskirche in Ostjerusalem. War dort auf einer deutschen Schule und hat später u.a. in Göttingen studiert, daher kann sie gut deutsch. Sie predigt aber auch auf Englisch und auf Arabisch. Eine Frau als Pastorin? Für viele in ihrer Umgebung, für die armenischen, orthodoxen und katholischen Christen in Jerusalem geht das gar nicht, aber Sally Azar weiß, was sie will. Und sie predigt tatsächlich: Frieden. Sie versucht, in dem großen, blutigen Konflikt dort beide Seiten zu sehen und zu verstehen, nicht einseitig zu werden. Stressige Aufgabe, aber wichtig.

Mich beeindrucken solche Menschen. Ich würde mir manchmal gern von ihnen „ne Scheibe abschneiden“.  Weil ich eine Ahnung davon bekomme, dass österlicher Glaube nicht irgendwas Theoretisches ist, sondern sich ganz praktisch und konkret auswirkt im Leben.

Osterglaube ist eine Kraft. Die stellt manches auf den Kopf. Oder auf die Füße. Und macht das Leben mehrstimmig.
„Denn wir wissen, dass der, der den Herrn Jesus auferweckte, auch uns mit Jesus aufwecken wird. Daher verzagen wir nicht, vielmehr: Wenn auch unser äußerer Mensch zugrunde geht, so wird doch unser innerer Mensch von Tag zu Tag erneuert.“
Amen.

Vier Fragen zur Predigtvorbereitung an Christian Stasch

1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Normaler Gottesdienst. Ich hatte beim Schreiben die ungeheure Größe der Loccumer Stiftskirche vor Augen. Da darf der Stil ruhig mal etwas „hymnisch“ sein …

2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Ich habe versucht, Ostern nicht zu problematisieren („Ist das wirklich geschehen?“), sondern habe mich davon tragen lassen, dass für Paulus Ostern als eine große Lebenskraft darstellt.

3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Glaube kann zur Resilienz beitragen – und Resilienz ist ein auch außerhalb der Kirche anerkanntes und viel diskutiertes Phänomen.

4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Ohne konkrete Beispiele (bei mir: drei) bleibt alles bloß Behauptung.

Perikope
21.04.2024
4,14-18

Reich Beschenkte geben leicht - Predigt zu 2Kor 8,7-9 von Susanne Wolf

Reich Beschenkte geben leicht - Predigt zu 2Kor 8,7-9 von Susanne Wolf
8,7-9

[Vor der Predigt singen wir Lied EG 27, 1-5]

Die Tür zum Himmel steht offen. Weihnachten ist das Fest der offenen Tür. Denn Gott beschenkt uns mit seinem Sohn. Der hat uns Gotteskindern aus den Völkern die Tür für immer aufgemacht.
Dafür setzt er viel ein und sich selbst vielem aus. Er wechselt seinen Platz vom Himmel auf die Erde. Er rückt uns auf den Leib, nimmt unser Fleisch und Blut an. Der Herr und Schöpfer über alle und alles wird zum Knecht aller. Er lässt sich mit Haut und Haar ein aufs Menschsein. Und ist darauf nicht vorbereitet.
Wie wir alle wird er lernen, wie Menschsein geht. Und wird es so sein, dass viele staunen: So also geht das. Man kann Mensch sein, ohne wie Gott werden zu wollen. An Jesus kann man das sehen, bis heute. Menschlich sein und dabei Gott vertrauen, dass er uns nichts vorenthält, sondern alles schenkt, was sein ist. Auch was Jesus mit Gott dem Vater verbindet, versteht er nicht als Privatbesitz. Das ist für ihn nichts Exklusives, nichts für ihn allein. Er will, dass wir alle seinen Vater auch unseren Vater nennen.
Mit Jesu Geburt schüttet Gott sein Füllhorn an Gaben aus. An Jesus dem Kind in der Krippe wie am Erwachsenen in seinen Dreißigern geht uns auf, wie ein Mensch nach Gottes Willen lebt. 
Ein Mensch, der bedürftig ist und bleibt. Abhängig von anderen. Angewiesen auf alles, was der Mensch zum Leben braucht. Und zugleich überreich beschenkt. Gewollt. Geliebt. Erfüllt von Gottes Güte.
An Weihnachten feiern wir das:  
Wir sind am Leben. Wir sind gewollt. Wir sind geliebt.
Am Fest von Jesu Geburt wird uns das jedes Jahr neu in Erinnerung gerufen. Wie reich wir sind, weil Gott uns mit einer Fülle an Gaben beschenkt.
Daran erinnert auch der Apostel Paulus seine Gemeinde in Korinth. Und er verknüpft diese Erfahrung der Fülle mit einer Bitte. Die Korinther mögen sich im Rahmen ihrer Möglichkeiten an der Kollekte für die Geschwistergemeinde in Jerusalem beteiligen. Hört aus 2. Korinther 8:

[Lesung des Predigttexts in der Übersetzung der Zürcher Bibel]
7
Ihr seid doch über die Massen reich in jeder Beziehung: reich an Glauben, Begabung zur Rede, Erkenntnis, an jeglichem Bemühen und an der Liebe, die wir in euch gewirkt haben. So beteiligt euch doch auch an diesem Werk der Gnade in reichem Mass! 8Ich sage das nicht als Befehl, sondern um durch die Spendefreudigkeit anderer die Echtheit auch eurer Liebe zu prüfen.
9Ihr kennt ja die Gnade unseres Herrn Jesus Christus: Um euretwillen ist er, obwohl er reich war, arm geworden, damit ihr durch seine Armut reich werdet.

Glauben, reden, erkennen, sich bemühen, lieben – das alles wirkt Gott und noch viel mehr. Die Liste seiner Gaben an die Korinther und an uns ist längst nicht fertig geschrieben. Sie ist eher ein Impuls, bei mir selbst nachzuschauen, woran ich reich bin.
Pastorin Josephine Teske aus Hamburg veröffentlicht auf ihrem Instagramkanal @Seligkeitsdinge sogenannte Goldmomente, die ihr zugeschickt werden. Kleine Geschichten, die die großen Worte unseres Glaubens in Alltagsbegegnungen golden aufscheinen lassen. Und die Wochenzeitung DIE ZEIT hat auf ihrer letzten Seite eine Spalte mit der Überschrift „Was mein Leben reicher macht“. Dort geben Menschen aus dem ganzen Lesegebiet Einblicke in beglückende Augenblicke. Bei vielen erlebe ich einen Nachklang bei mir selbst, innere Zustimmung, den Impuls, schau an, schau hin, das ist so schön.
Das Staunen in den Augen eines Kindes im Schokoladengeschäft, überwältigt von der Vielfalt des Angebots und doch zufrieden mit dem eigenen kleinen Geschenk. Eine Mutter, die das eine Lebensjahr mit ihrer Tochter, die dann starb, hütet wie einen kostbaren Schatz, auch noch nach 30 Jahren.
Die Busfahrerin, die ausnahmsweise dort hält, wo jemand dringend aussteigen muss. Der Dönerverkäufer, der den plötzlichen Hunger stillt und Schulden anschreibt. Der Schaffner, der in drangvoller Enge Humor und Leichtigkeit bewahrt.
Goldmomente, die das Leben leicht machen, wo es schwer ist, und ein Glück glitzern lassen, wo alles grau in grau erscheint. Es sind kleine Gesten der Großzügigkeit, die den Unterschied machen: Sie bringen Weite in beengte Situationen, lassen das Getriebe einen Moment innehalten. Freche Anmut schmuggelt sich in die Trägheit des „das machen wir aber immer so“. Jemand pocht nicht auf sein Recht, sondern lässt einem anderen den Vortritt. Rücksicht und Nachsicht helfen aufatmen. Vertrauen öffnet die Herzen anderer. „Mit Vergnügen“ – rufen die Leute einander zu mit einem Lachen.

So wird die Fülle der Gaben Gottes, die unter und an uns wirken, spürbar in unseren alltäglichen und zugleich so besonderen Erfahrungen. Alle auf ihre Weise durchsichtig für andere. Ein Echo der vielen eigenen.
Gottes Spuren zu entdecken in allen diesen Erfahrungen, dazu verlocken sie selbst. Und zum Staunen. All das geschieht unverhofft, unerwartet, überraschend, alles andere als selbstverständlich. Vom Staunen führt der Weg zum Danken. Das Danken ist eine schöne Weise des Echos auf solche Goldmomente. Danke, Gott! In der Bibel danken Menschen mit wenigen Ausnahmen ausschließlich Gott, auch für zwischenmenschliche Gaben und für die großen Hilfen: für Rettung aus Irrwegen, unverhoffte Liebe, Vergebung, das Leben selbst. Gott danken, das ist: Gott da sein lassen und mich dem Geheimnis aussetzen, das viele Namen trägt: die Ewige, der Lebendige, der Herr, die Schöpferin.
Im Dank fließt etwas von der Gabe zurück an Gott und reichert Gottes Überfluss an. So fließt es hin und her wie in einem Kreislauf. Was habt ihr, das ihr nicht empfangen habt? So fragt Paulus an anderer Stelle. Das ist auf unser ganzes Leben gemünzt. Alles ist Gabe. Auch wenn viele denken: Das hab ich mir doch alles selbst erarbeitet. Mir wurde nichts geschenkt. Doch, das Wichtigste hast du, ohne dass du dich mühen musstest.

Weil wir in diesem göttlichen Überfluss stehen, ist es nur ein Kleines, von den eigenen Gaben abzugeben, nach dem Maß unserer Möglichkeiten. Paulus fordert von den Korinthern nicht: Verausgabt euch, macht euch arm, gebt alles ab, was ihr habt, um Christus gleich zu werden. Christus wird ja gerade arm, damit wir reich werden, woran wir sonst Mangel litten. Paulus lockt vielmehr zum Mittun, zur Teilhabe an dem göttlichen Überfluss:

So beteiligt euch doch auch an diesem Werk der Gnade in reichem Maße.

Beteiligt euch – gebt euern Teil. Seid ein Teil von Gottes Werk, das längst an euch und anderen sichtbar ist. Macht mit, wie ihr könnt. Wie nur ihr es könnt. Überreich beschenkt – in reichem Maße weiterschenken. Paulus setzt durch seine werbenden Worte längst voraus, was er erst bewirken will: dass die Korinther sich den Geschwistern in Jerusalem so verbunden sehen im Werk der göttlichen Gnade, dass sie ihren Dank in eine Spende übersetzen und damit wiederum Anteil an der überfließenden Gabe Gottes haben.
Übersetzt in unsere Tage: Wo immer wir spenden, wo immer wir uns engagieren, fließt etwas aus dem empfangenen Reichtum aus Gottes Gnade weiter, da werden Beschenkte zu fröhlich Gebenden, geliebte Gotteskinder zu Liebenden. Gott sei Lob und Dank dafür. Amen.

Vier Fragen zur Predigtvorbereitung an Susanne Wolf

1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Den Gottesdienst am 2. Christfesttag feiern wir als Predigtgottesdienst mit Abendmahl und vielen weihnachtlichen Liedern. Er ist konzipiert für solche, die Weihnachten noch einmal in Ruhe genießen und für sich vertiefen und feiern wollen.

2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Mich haben die Predigtmeditationen von Felix Roleder und Stefanie Wöhrle (Predigtstudien) sowie von Magdalene Frettlöh (Göttinger Predigtmeditationen) inspiriert. Vor allem das Augenmerk auf den vorhandenen Reichtum an Gaben und die Teilhabe am göttlichen Gnadenfluss wurde mir dabei wichtig.

3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Die Entdeckung, auf welch charmante Weise Paulus ein Spendenprojekt einführt, anpreist und seine Gemeinde dazu verlockt. Das hat mir einen frischen Blick auf den Vers „Einen fröhlichen Geber hat Gott lieb“ eröffnet.

4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Coaching war leider nicht im Angebot. Die bisherige Tradition sollte unbedingt fortgesetzt werden.

Perikope

Der helle Schein in unseren Herzen - Predigt zu 2Kor 4,3-6 von Christoph Hildebrandt-Ayasse

Der helle Schein in unseren Herzen - Predigt zu 2Kor 4,3-6 von Christoph Hildebrandt-Ayasse
4,3-6

Gnade sei mit euch und Friede von Gott unserem Vater und dem Herr Jesus Christus. Amen.

Der Predigttext zum Epiphaniasfest steht im zweiten Korintherbrief. Dort schreiben der Apostel Paulus und sein Kollege Timotheus an die Gemeinde in Korinth:
3 Ist nun unser Evangelium verdeckt, so ist's denen verdeckt, die verloren werden,
4 den Ungläubigen, denen der Gott dieser Welt den Sinn verblendet hat, dass sie nicht sehen das helle Licht des Evangeliums von der Herrlichkeit Christi, welcher ist das Ebenbild Gottes.
5 Denn wir predigen nicht uns selbst, sondern Jesus Christus, dass er sei der Herr, wir aber eure Knechte um Jesu willen.
6 Denn Gott, der da hieß das Licht aus der Finsternis hervorleuchten, der hat einen hellen Schein in unsre Herzen gegeben, dass durch uns entstünde die Erleuchtung zur Erkenntnis der Herrlichkeit Gottes in dem Angesicht Jesu Christi.

Liebe Gemeinde,

über Verlorene, Ungläubige und Verblendete wird in unseren Kirchen wohl eher selten gepredigt. Es klingt in unseren Ohren eher herabwürdigend und überheblich, so von anderen Christen oder Menschen anderer oder keiner Religion zu sprechen. Die Worte erinnern an Glaubenskriege und religiöse Verfolgungen. Da schwingen Diskriminierungen und Verdächtigungen mit. Alle Religionen habe da eine dunkle und gewalttätige Seite, da, wo sie andere als Verlorene, Ungläubige und Verblendete brandmarken. Das war nicht nur in der Geschichte so. Als „ungläubig“ bezeichnet zu werden stellt bis heute eine Gefahr auch gerade für Christen in aller Welt dar.

In unseren Kirchen rufen wir heute zu religiöser Toleranz auf und zum interreligiösen Dialog. Wenn jemand einen anderen oder gar keinen Glauben hat, so ist das zu akzeptieren. In einer Welt, die immer näher zusammenrückt, gilt: kein Weltfrieden ohne Religionsfrieden. In diese bekannte und einleuchtende Formel fasste der Theologe Hans Küng die Notwendigkeit zum interreligiösen Dialog. Die Religionen müssen sich verständigen und gemeinsam nach Wegen zum Frieden suchen. Im Interreligiösen Dialog kann man entdecken, dass manche Religionen ganz ähnlich klingende Inhalte haben. „Gott und den Nächsten lieben“, das ist eine Aufforderung an die Gläubigen, die sich in unterschiedlichen Formulierungen bei vielen Religionen findet. Aber bei allem, was ähnlich klingt, bleiben doch die Unterschiede zwischen den Religionen bestehen. Wir glauben nicht alle irgendwie an das Gleiche, ein gemeinsames Göttliches. Nein, andere Religionen können sehr anders, sehr fremd sein. Da gibt es sehr verschiedene Vorstellungen und Aussagen über Gott und die Welt, über Leben und Tod. Wichtig ist der Respekt vor der religiösen Überzeugung der anderen, auch wenn sie sehr fremd ist. Das Gespräch mit anderen Religionen kann nicht gelingen, wenn wir andere religiöse Aussagen einfach vereinnahmen und leichthin sagen: Das ist ja bei denen irgendwie auch wie bei uns im Christentum. Mit dieser Einstellung nehmen wir weder andere Religionen noch die eigene Glaubensüberzeugung ernst. Und ist es nicht gerade diese Ist-doch-egal-Haltung, die das Evangelium verdeckt? Verloren, ungläubig und verblendet wären dann wir, da wir weder den eigenen christlichen Glauben noch andere Religionen wirklich ernst nehmen.

Wir als christliche Gemeinden in Deutschland müssen uns ja erst daran gewöhnen, dass die Welt um uns herum immer multireligiöser und auch unreligiöser wird. Wir christlichen Gemeinden werden immer kleiner. Das nehmen wir schmerzhaft wahr. Wir werden zu einer Minderheit. Aber, in der Minderheit zu sein, das trifft für die meisten christlichen Gemeinden in der Welt zu. Und ich denke, es lohnt sich, von Gemeinden in der weltweiten Kirche zu hören, was es bedeutet, als Christen in einem Umfeld zu leben, das mehrheitlich nicht an Christus glaubt.

Ich blicke heute an Epiphanias, dem Fest der Erscheinung des Christus für alle Welt, nach China. Ein Theologe aus der Volksrepublik China berichtet, dass in seiner Kirche andere durchaus als Ungläubige oder Verblendete bezeichnet werden können. Es gibt in China einige christliche Sekten, die den Menschen „den Sinn verblenden“ (v4) und ihnen schaden, wie z.B. die „Kirche des Allmächtigen Gottes“, so erzählt er. Vielleicht haben Sie ja von dieser sogenannten Kirche auch hier in Deutschland schon gehört. Ihre Mitglieder treten als „verfolgte Christen“ in Kirchengemeinden auf und entfalten dann ihre sektenartige und verstörende Missionstätigkeit. Es stimmt: Ihre Mitglieder werden in China verfolgt, weil der Staat dort keine religiösen Aktionen außerhalb der strengen Religionsgesetze gestattet, aber auch aufgrund von Straftaten außerhalb der Religionsgesetze.

Wenn man sich einmal mit den Inhalten dieser „Kirche des Allmächtigen Gottes“ auseinandersetzt, dann stößt man dort auf viel Wirres und wenig Christliches und auf das für solche religiösen Sondergemeinschaften immer typische Erwählungsbewusstsein von der Errettung vor dem Satan und der bösen Welt. Vielleicht gelingt es manchen Kirchengemeinden bei uns, diesen Menschen aus China zu helfen und ihnen eine neue geistliche Heimat zu bieten, wenn sie sich bei ihnen melden.

Die christliche Kirche in China ist seit den 80er Jahren sehr stark gewachsen. Christen werden in China die Protestanten genannt. Die katholische Kirche wird als eine eigene Religion betrachtet. Die christliche Kirche, also die Protestanten, zählt heute weit über 35 Millionen Mitglieder und viele Freunde, die aber nicht offiziell Mitglieder werden wollen und sich als Christen registrieren lassen, weil sie sonst Nachteile durch den Staat befürchten. Zu den registrierten Christen in der offiziellen, staatlich anerkannten Kirche kommen die vielen Millionen Christen aus den nichtoffiziellen Hauskirchen sowie die kleinere katholische Kirche. In der Volksrepublik China sind fünf Religionen offiziell gestattet und werden von der kommunistischen Partei überwacht: Taoismus, Buddhismus, Islam, Katholizismus und das Christentum, also die Protestantische Kirche. Sonntags sind die Gottesdienste in den evangelischen Kirchen voll. An manchen Orten müssen mehrere Gottesdienste hintereinander gehalten werden. Missionarisch setzt man sich ein, dass die Gemeinden noch weiterwachsen. Außerdem werden sonntags Jugendgruppen, Bibelstunden, Chorstunden und andere Aktivitäten angeboten. Für Christen gehört der Sonntag der Kirche und der Gemeinde. Das ist eine bewusste Entscheidung, denn für viele Chinesen ist der Sonntag der einzige freie Tag in der Woche. Und wie könnte man ihn besser verbringen als in der Gegenwart Christi und im hellen Licht des Evangeliums?

Es ist der „Gott der Welt“, der Christen sonntags vom Gottesdienst und von der Gemeinde fernhält, indem er ihnen den Sinn verblendet. So sehen es chinesische Christen. „Geld“ heißt einer dieser Götter der Welt. „Warum nicht sonntags noch zusätzlich Geld verdienen oder einkaufen gehen? Warum sollte man seine wertvolle Zeit Gott Opfern?“, fragen sich manche Christen in China. „Freizeit“ heißt eine andere Göttin der Welt. Ich denke, es lohnt sich darüber nachzudenken, welche „Götter und Göttinnen der Welt“ unsere Aufmerksamkeit und unseren Einsatz verlangen, unseren Sinn verblenden und uns den Blick auf Jesus verstellen. Und wenn ich unsere Christenheit mit Gemeinden in China oder an anderen Orten der Welt vergleiche, dann ist, so denke ich, bei uns die „Gleichgültigkeit“ eine der Göttinnen der Welt. Eine Gleichgültigkeit, die sagt: „Es ist doch egal, was ich oder andere glauben.“ Ich finde es bemerkenswert, welchen hohen Stellenwert der Gottesdienst, das Gebet und die Gemeindeversammlungen in der chinesischen Kirche und in anderen Kirchen weltweit noch haben als die Orte, an denen das Evangelium verkündigt wird und aufleuchtet.

Als die Weisen aus dem Morgenland, unsere traditionellen „Heiligen Drei Könige“ unterwegs waren, da gab es noch einen anderen „Gott der Welt“, den König Herodes. Er sah in dem Kind in der Krippe, in Jesus Christus, dem Ebenbild Gottes die direkte Konkurrenz zu seiner Macht. „Macht“ ist auch eine „Göttin der Welt“. Die Weisen aus dem Morgenland aber vertrauten ihr nicht, der Macht des Herodes, sondern ließen sich von Gott vor seinen dunklen Absichten warnen. Das Licht, dieser helle Schein in ihren Herzen, der ihnen an der Krippe im Stall zu Bethlehem entzündet wurde, war stärker und wärmer als die kalte Macht des Herrschers. Dort, an der Krippe, war alles licht und warm und gut. Ein Zustand, den wir in unserer Welt so oft vermissen. Licht und warm und gut, obwohl es im Stall zu Bethlehem dunkel und kalt und erbärmlich war. „Gott will im Dunkel wohnen und hat es doch erhellt“, so heißt in dem Lied „Die Nacht ist vorgedrungen“ von Jochen Klepper. „Gott will im Dunkel wohnen und hat es doch erhellt“, dies haben auch die Christen in China in den Zeiten der Verfolgung erlebt, als die Gemeinden im Untergrund wuchsen, weil sie das Licht des Evangeliums als Hoffnung in schwerer Zeit weitergaben. Und das erleben sie bis heute.

Die Weisen aus dem Morgenland haben in ihren Herzen diesen hellen Schein mit in ihre Heimat genommen. In der kirchlichen Tradition gelten sie daher als die ersten Missionare außerhalb des Heiligen Landes. Diese Tradition enthält eine sehr stimmige und freundliche Wahrheit: Freude steckt an. Wer sich von Herzen freut, der strahlt Freude aus. Unsere Bibelstelle heute ist ja wie eine Lichterkette. Zuerst entzündet Gott sein Licht in der Finsternis wie am ersten Tag der Schöpfung. Weiter leuchtet Gottes Licht in Jesus Christus, seinem Ebenbild. Und dieser Schein leuchtet in den Herzen der Menschen, die sich ihm zuwenden. Und sie geben das Licht weiter, so dass auch andere Gott in Jesus Christus erkennen. Angefangen hat es mit den Weisen aus dem Morgenland, so erzählt es die Tradition. Und weiter geht es heute mit uns. Also: Frohe Weihnachten! Und: Viel Freude im Herzen!

Amen

Vier Fragen zur Predigtvorbereitung an Pfarrer Christoph Hildebrandt-Ayasse

1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Die Gottesdienste am Epiphaniasfest werden in der Württembergischen Landeskirche meist gemeindeverbindend als Distriktgottesdienste gefeiert. Anwesend sind überwiegend die „Treuen“ und zum Hören und Nachdenken Bereiten. Manche Gemeinden feiern Epiphanias als Tag der Weltmission und setzen internationale Akzente aus der weltweiten Kirche. Erwartet wird meiner Erfahrung nach, dass der Gottesdienst am Anfang des neuen Jahres stärkt und den Blick in und für die Welt öffnet.

2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Beflügelt haben mich die Predigtgespräche mit Prediger Huang, dem Ökumenischen Mitarbeiter aus China in unserem Dienst (https://www.dimoe.de/aktiv-werden/gottesdienst-und-unterricht) und die biblische, gemeindebezogene und pragmatische chinesische Theologie. Dazu kommen Überlegungen meiner Landeskirche, Gemeindearbeit zu internationalisieren, d.h.: wahrzunehmen, dass das „helle Licht des Evangeliums“ (2. Kor. 4,4) nicht nur in unseren Gemeinden brennt, sondern an vielen Orten. Wo lassen wir es leuchten?

3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
„Wir predigen nicht uns selbst…“ wieder ganz neu entdeckt als persönliche, kritische Anfrage.
„Wie sehen Christen aus Deutschland deiner Meinung nach den „Gott dieser Welt“?“ Eine Anfrage aus der weltweiten Ökumene.
Den „hellen Schein“ im eigenen und in anderen Herzen entdecken und weitergeben.

4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Es war hilfreich, dass die Predigtcoach den Anfang der Predigt infrage stellte. Darf eine Predigt „negativ“ beginnen? Ich denke, einer Epiphaniasgemeinde kann man das zumuten. Dass Paulus von den „Ungläubigen“ etc. spricht, ist der Diasporasituation der kleinen Christengemeinden geschuldet – damit umzugehen, müssen wir Landeskirchen gerade schmerzhaft erlernen. Trotzdem bleibt die Anfrage: Verdeckt der negative Klang den „hellen Schein“? „Positiv, konstruktiv-predigen“ als Aufgabe.

Perikope