1. Advent: „Treffen sich zwei - ?“ - Predigt über Psalm 24 von Renate Kersten

Ps. 24 (als Wechselgebet im Eingangsteil)
Die Erde ist des HERRN und was darinnen ist,
  der Erdkreis und die darauf wohnen.
  Denn er hat ihn über den Meeren gegründet
  und über den Wassern bereitet.
  Wer darf auf des HERRN Berg gehen,
  und wer darf stehen an seiner heiligen Stätte?
  Wer unschuldige Hände hat und reinen Herzens ist,
  wer nicht bedacht ist auf Lug und Trug
  und nicht falsche Eide schwört:
  der wird den Segen vom HERRN empfangen
  und Gerechtigkeit von dem Gott seines Heiles.
  Das ist das Geschlecht, das nach ihm fragt,
  das da sucht dein Antlitz, Gott Jakobs.
  Machet die Tore weit und die Türen in der Welt hoch,
  daß der König der Ehre einziehe!
  Wer ist der König der Ehre?
  Es ist der HERR, stark und mächtig,
  der HERR, mächtig im Streit.
  Machet die Tore weit und die Türen in der Welt hoch,
  daß der König der Ehre einziehe!
  Wer ist der König der Ehre?
  Es ist der HERR Zebaoth;
  er ist der König der Ehre.
  
  „Treffen sich zwei - ?“
Liebe Gemeinde,
einen Adventskalender wünsche ich Ihnen – und mir wünsche ich den auch. Einen Adventskalender, nicht für eine Person allein, sondern für uns alle. Ich wünsche mir, dass wir uns die Zeit nehmen, einander die unwahrscheinlichsten und schönsten Begegnungen zu erzählen – Begegnungen mit Gott und anderen Menschen. Denn das ist das Ziel von Advent, „Ankunft“, dass am Ende eins beim anderen ankommt und dass zwei einander begegnen.
Ich will mit gutem Beispiel voran gehen und Ihnen eine solche Begegnung erzählen. Sie fand in einer Demenz-WG statt. Ich sollte bei der goldenen Hochzeit eines Ehepaares eine Andacht halten. Er hatte mehrere Schlaganfälle erlitten und sprach kaum noch. Sie hatte eine Demenz, erinnerte sich aber noch an vieles. Darauf, dass sie nun goldene Hochzeit hatten, war sie sehr stolz. Die Mitarbeitenden der Wohngemeinschaft katten eine Kaffeetafel gedeckt, deren Gäste sie selbst sein mussten. Es gab keine Kinder, und die Nachbarin, die anfangs noch Besuche gemacht hatte, war schon über ein Jahr nicht gekommen. Ein Akkordeon-Spieler war bestellt und spielte nach meiner Andacht Walzermelodien und Volksmusik zum Kaffee. Plötzlich hielt er inne und sagte: „Moment mal – ich kenne euch doch. Seid ihr nicht Peter und Lieselotte?“ – „Ja!“ sagte die Frau, und das waren tatsächlich ihre Vornamen. „Und wer sind Sie?“ – „Ich bin doch der Milan! Wir kennen uns doch aus T., da habt ihr doch immer Urlaub gemacht!“ Schlagartig waren die Pseudogäste der Kaffeetafel unwichtig geworden. Es gab einen echten Gast. Lieselotte und Milan unterhielten sich über alte Zeiten und gemeinsame Bekannte. Für einen Nachmittag war sie im wirklichen Leben angekommen. Sie fühlte sich wohl – und der Musiker war geradezu glücklich. Ein null-acht-fünfzehn-Auftrag war zu etwas ganz anderem geworden. Er selbst war nicht länger ein besserer CD-Player, zuständig für die akustische Untermalung. Nein, er war jetzt als Person gefragt und dabei.
Solch eine Begegnung erlebe ich als einen Advent, der seine Erfüllung findet. Alles, was es dazu braucht, ist längst da. Die Personen, die Zeit. Und doch kam es über Jahre nicht zusammen.
„Die Erde ist des Herrn, und was darinnen ist, der Erdkreis, und die darauf wohnen. Denn er hat ihn über den Meeren gegründet und über den Wassern bereitet.“  haben wir gebetet. Alles ist längst da. Schon vor uns. Wir leben auf dieser Erde, atmen ihre Luft, essen und trinken, was sie hervorbringt, wandeln und gestalten, was da ist. Ob wir zusammen kommen mit der Schöpfung, sie wirklich wahrnehmen, in Beziehung zu ihr leben? Und – ob wir mit ihrer Ursache, mit Gott zusammen kommen? Ich bin überzeugt, dass die Erde voll von Gott ist, von seinem Geist und von der Liebe Jesu Christi. Doch das allein sorgt noch nicht dafür, dass eine Begegnung stattfindet. Obwohl alles und alle da sind, ist die Begegnung kostbar wie ein Wunder. Das Aufleuchten Gottes in unseren Herzen, die Momente, in denen aus den Sätzen des Glaubensbekenntnisses echtes Vertrauen wird, in denen etwas bei uns ankommt und wir bei Gott – diese Momente sind kostbar.
Weil wir sie erlebt haben und wieder erleben wollen, deswegen sind wir hier, behaupte ich. Wir reservieren Orte und Zeiten dafür. Wir laden das Wunder ein, laden Gott selbst ein. Und wir arbeiten gegen unsere Neigung, gottfern zu leben. Hören Geschichten, sprechen Gebete, manchmal voller Sehnsucht, manchmal mit einem Sehnen nach der Sehnsucht. Komm doch, Gott! Begegne uns! Mach unser Leben heil und heilig! Wir erzählen die Geschichten von besonderen Orten und trauern über ihre Zerstörung. Gott kann uns überall begegnen. Ist überall. Die besonderen Orte – heilige Berge, Pilgerwege, Kirchen und Kapellen – sind wie ein Tattoo Gottes  auf der Erde. „Gott ist hier!“ steht auf die Erdhaut tätowiert. „Gott ist hier! Gott kann dir begegnen!“
Das Treffen mag leichter in Gang kommen, wenn ich mich bereite. Darauf hoffen alle religiösen Menschen, und es werden erfahrungsgesättigte Regeln aufgestellt, was hilft, den Kontakt zum Göttlichen zu finden. „Wer darf auf des Herren Berg gehen? Und wer darf stehen an seiner heiligen Stätte? Wer unschuldige Hände hat und reinen Herzens ist, wer nicht bedacht ist auf Lug und Trug und nicht falsche Eide schwört: der wird den Segen vom Herrn empfangen und Gerechtigkeit von dem Gott seines Heiles. Das ist das Geschlecht, das nach ihm fragt, das da sucht dein Antlitz, Gott Jakobs.“  Mag sein, es hilft. Viele berichten, dass es hilft. Gott ehrlich suchen. Nach Gott fragen. Sich nicht mit Halbheiten und Lügen beschäftigen, sich nicht zu sehr mit sich selbst beschäftigen. Es ist wie bei jeder Begegnung: Wer nur mit sich selbst beschäftigt ist, wird wenig vom anderen haben. Es gibt auch unglückliche Geschichten, Nicht-Begegnungsgeschichten. „Ich war so mit meinem Beruf beschäftigt, dass ich meine Kinder im Grunde nicht aufwachsen erlebt habe. Und nun finde ich keinen rechten Kontakt mehr“, sagte mir ein Mann. Ich wünsche ihm, dass er das Wunder erlebt, dass sich der Kontakt wieder einstellt. Auch Fromme, einzelne und Gemeinden, können sich unendlich mit sich selbst beschäftigen. Auch da, wo von Lug und Trug und falschen Eiden noch nicht die Rede sein kann, kostet das Kreisen um sich selbst viel Kraft. Und manchmal wird die Hoffnung darauf, dass Gott sich in der Welt wieder spüren lässt, in solchen Zeiten dünner und dünner.
Deswegen: „Machet die Tore weit und die Türen in der Welt hoch, dass der König der Ehre einziehe! Wer ist der König der Ehre? Es ist der HERR, stark und mächtig, der HERR, mächtig im Streit. Machet die Tore weit und die Türen in der Welt hoch, dass der König der Ehre einziehe! Wer ist der König der Ehre? Es ist der HERR Zebaoth; er ist der König der Ehre.“ Noch drei Adventswochen haben wir. Wochen, in denen viel zu viel los sein wird – man muss kein Prophet sein, um diese Vorhersage zu treffen. Wir werden es möglicherweise nicht schaffen, die Tore unserer Wahrnehmung so weit zu öffnen wie in einem Urlaub, wenn alles zur Ruhe kommt und sich unerwartet das Gefühl einstellt, dass die Erde Gottes ist, und dass es gut ist, auf ihr zu wohnen. Heute, am ersten Advent, öffnen wir mit unserem Gesang die Tore weit. Ab morgen begnügen wir uns wieder mit den Türchen im Adventskalender. Ob der Kalender, den ich Ihnen und mir wünsche, zustande kommt? Jeden Tag eine Begegnungsgeschichte aus Ihrem, aus meinem Leben. Denn wenn wir einander begegnen, ist immer Jesus Christus dabei. Die irdischen Wunder erinnern uns an den Himmlischen. Und jeden Tag eine Zeit, einen Ort, die sagen: Ich bin bereit. Komm zu mir, Heiland. In meine Wohnung, in mein Haus, in mein Herz. In unsere Gemeinde. Amen.