„1000 Places To See Before You Die“ – Predigt zu 1. Korinther 7, 29-31 von Christoph Hildebrandt-Ayasse
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„1000 Places To See Before You Die“ – Predigt zu 1. Korinther 7, 29-31 von Christoph Hildebrandt-Ayasse

Das sage ich aber, liebe Brüder: Die Zeit ist kurz. Auch sollen die, die Frauen haben, sein, als  hätten sie keine; und die weinen, als weinten sie nicht; und die sich freuen, als freuten sie sich nicht; und die kaufen, als behielten sie es nicht; und die diese Welt gebrauchen, als brauchten sie sie nicht. Denn das Wesen dieser Welt vergeht. Ich möchte aber, dass ihr ohne Sorge seid.

Liebe Gemeinde,

die Zeit ist kurz.

Waren Sie schon an allen Orten, die man gesehen haben muss, bevor man stirbt? Vielleicht kennen Sie ja diesen Reiseführer mit dem Titel: „1000 Orte, die man gesehen haben muss, bevor man stirbt“. Darin finden sich die Top-Destinationen in der Welt, die jeder im Leben angeblich einmal besucht haben sollte, bevor das Leben zu Ende geht. Das Buch gibt es jetzt sogar mit einer „neuen Lebensliste für den Weltreisenden“. 1000 Orte sind offensichtlich nicht genug. Na, hoffentlich reicht die Lebenszeit, um auch diese Lebens-Liste mit den Reisezielen, die man gesehen haben muss, abzuarbeiten.

Die Zeit ist kurz.Inzwischen gibt es auch Bücher wie: 100 Dinge, die man im Leben einmal getan haben sollte; 100 Dinge die Frau oder Mann einmal im Leben getan haben sollte; 100 Dinge, die jedes Paar einmal tun sollte. Nun: die Zeit ist kurz; und offensichtlich muss man unbedingt noch jede Menge unternehmen und tun und machen im Leben. Was ist aber, wenn man nicht überall war, wenn man nicht alles gemacht hat, wenn man nicht alles getan hat? Ist man dann zu kurz gekommen im Leben? Hat man etwas verpasst; nicht nur: etwas, sondern ganz viel: Interessantes, Tolles, Wichtiges?

„1000 Places To See Before You Die“, so lautet der englische Originaltitel dieses ganz besonderen Reiseführers.

Und das ist natürlich mit einem Schmunzeln und mit einem Augenzwinkern gemeint. So, als könnte man das überhaupt. 1000 Orte die du sehen musst, bevor du stirbst - der Titel spielt auf eine ganz fein ironische Art mit einem sehr aktuellen Lebensgefühl. Das Leben ist kurz, aber du musst ganz viel erleben; musst ganz viel hineinpacken in das Leben. 1000 Orte sollte man besuchen und noch die neue, zusätzliche Lebensliste abhaken. 100 Dinge sollten Mann und Frau und Paare einmal im Leben getan haben. Kinder sollten im Kindergarten spätestens mit einer Fremdsprache beginnen; und ab der Grundschule darf es dann ruhig auch Chinesisch lernen.

Selbstoptimierung nennt man dieses Lebensgefühl, diese Lebenseinstellung. Unser Drang zur Selbstoptimierung treibt manchmal seltsame Blüten. Und während man den Hund am Halsband durch die Gegend führt, ermahnt einen die App über das Fitnessarmband am Handgelenk, dass man sein eigenes Sportpensum heute noch lange nicht erledigt hat.

Selbstoptimierung. Gilt das auch für den Glauben? Würde der Apostel Paulus  heute ein Buch schreiben mit dem Titel: 1000 Gottesdienste, die man im Leben einmal besucht haben sollte. Oder: 1000 Gebete, die man gesprochen haben sollte, bevor man stirbt? Wie meint er dieses: Die Zeit ist kurz? Und: Das Wesen der Welt vergeht? Meint er: Zeit ist Geld? Muss ich meine Zeit also perfekt ausnutzen? Oder meint er: alles vergeht. Deswegen lasse ich nichts zu sehr an mich heran. Oder: alles ist vergänglich. Deswegen genieße ich jeden schönen Augenblick. Da mag von allem etwas mitschwingen. Aber all das beschreibt nicht so ganz das, was Paulus meint. Paulus fasst das christliche Lebensgefühl in diese  seltsamen „als-ob-nicht“ Sätze:

„Auch sollen die, die Frauen haben, sein, als hätten sie keine; und die weinen, als weinten sie nicht; und die sich freuen, als freuten sie sich nicht; und die kaufen, als behielten sie es nicht; und die diese Welt gebrauchen, als brauchten sie sie nicht.“

Paulus macht deutlich: alles ist vergänglich in unserer Welt. Alles vergeht, aber es ist deswegen nicht wertlos.

An einfachsten verstehen wir Paulus vielleicht bei dem Satz: kaufen, als behielten wir es nicht. (Und das verbinde ich zur Verdeutlichung hier gleich mit dem Aufruf zum Bazar aus dem neuen Gemeindebrief. Dort heißt es: „Für unseren Kunst-und-Krempel-Markt bitten wir um ansehnliche „Antiquitäten“ aller Art.“) Eigentlich wissen wir, dass wir die Dinge, die wir kaufen, irgendwann nicht mehr in Händen halten. Schön, wenn manches Lieblingsstück in die Hände der Enkelkinder weiter wandert. Dass wir unser Herz nicht an Dinge hängen können, das wissen wir hoffentlich schon beim Bezahlen; und können uns trotzdem an einem schönen Kauf freuen.

Paulus selber lebte ja recht bescheiden. Er verdiente sich sein Geld als Zeltmacher. Verheiratet wollte er nicht sein. Das passt nicht zu mir, schreibt er an der gleichen Stelle, an der unser Predigttext steht. Die Zeit ist kurz, und ich muss von Jesus predigen und die frohe Botschaft verkündigen. Da bleibt keine Zeit für eine Ehe. Seine Lebensweise hält für die beste. Aber er möchte das niemandem vorschreiben. Für andere Christen sieht es anders aus, schreibt er. Wichtig ist für ihn die Verkündigung.

Das Lebensgefühl, dass Paulus hier vermitteln will, schließt nichts aus. Liebe, Trauer, Freude und Haben-Wollen: das gehört für Paulus zum Leben. Er sagt: Ja, so ist es. Ganz und gar so, wie du es erlebst; aber unter der Perspektive Gottes ist da noch mehr. Ja, wir freuen uns, wenn uns danach ist. Und gleichzeitig wissen wir um die Not. Ja, wir sind traurig und weinen, wenn uns danach ist. Und gleichzeitig wissen wir um das Kinderlachen in der Nachbarschaft. Alles hat sein Recht und seine Zeit und gehört gleichzeitig in Gottes großer Welt zusammen. Ja, wir sind glücklich in der Ehe. Und wissen doch um die Begrenztheit: bis der Tod uns scheidet.

Ich las kürzlich, dass manche jungen Menschen nicht heiraten, weil sie immer den noch perfekteren Partner suchen. Alles soll optimal sein und alles soll perfekt sein. Beruf, Partnerschaft und Familie. Vor lauter Selbstoptimierung verpasst man dann das Leben. Vor lauter Reisezielen verpasst man die Erholung. Vor lauter guten Ratgebern weiß man nicht mehr, was man selber will.

Vielleicht könnte uns da ja wirklich eine Buch helfen, wie: 1000 Gebete, die man gesprochen haben sollte, bevor man stirbt. Bei der Lektüre sollte es aber nicht darum gehen, ein Gebet nach dem anderen abzuhaken. Eigentlich reichte auch schon ein Gebet. Es sollte, wie bei jedem kurzen oder langen, vorformulierten oder frei von der Leber weg gesprochenen Gebet darum gehen, sich bei Gott geborgen zu wissen. Dass die Zeit kurz ist, wie Paulus schreibt, und dass das Wesen der Welt vergeht, das muss nicht unsere Sorge sein. Wir sind in seiner Hand und seiner Zeit geborgen.

Der Herbst ist ein Spiegelbild dafür. Die prächtig gefärbten Blätter zeigen das, was Paulus hier mit diesen „als-ob-nicht“ Sätzen ausdrückt: genießen, aber nicht festhalten.

 

Rainer Maria Rilke hat dies in seinem Herbstgedicht so ausgedrückt:

Die Blätter fallen, fallen wie von weit,

als welkten in den Himmeln ferne Gärten;

sie fallen mit verneinender Gebärde.

 

Und in den Nächten fällt die schwere Erde

aus allen Sternen in die Einsamkeit.

 

Wir alle fallen. Diese Hand da fällt.

Und sieh dir andre an: es ist in allen.

 

Und doch ist Einer, welcher dieses Fallen

unendlich sanft in seinen Händen hält.

 

Amen