10.05.2015, Blaubeuren: "Klartext reden"

Liebe Gemeinde,

Klassentreffen, Jahrzehnte nach dem letzten Schultag. Kurz davor ein tiefer Blick in den Spiegel: Wie trete ich auf? Was zeige ich den anderen von mir?

Soll ich Fotos mitnehmen? Und welche?

Ob der Kriegsdienstverweigerer auch kommt? Zwei Verhandlungen hat er durchgestanden. Ob er immer noch kompromisslos ist? Für Frieden ganz ohne Waffen und eine Welt ohne Gewalt?

Klassentreffen: Das ist oft mehr als ein harmloser Ausflug in die Kindheit. Mehr als eine Bühne. Klassentreffen: Das ist ein Tag der Zwischenbilanz. Denn es stehen Fragen im Raum: Was ist aus dir geworden? Hast du deine Träume umgesetzt? Und bist du deinen Idealen treu geblieben?

Manche sagen ja: Idealen folgt man nur in der Jugend. Wenn man noch frei ist. Wenn morgens noch kein Postfach voller Mails wartet, mittags keine Kinder aus der Kita abgeholt werden müssen oder abends die Spülmaschine überquillt.

Sie sagen: Ideale hat man, bis einen die Realität einholt.

Solange man nicht mit ansehen muss, wie die Großbaustelle am Ende doch die Bäume frisst.

Solange man nicht erfährt, dass alle Verhandlungen umsonst waren und die Soldaten doch zu den Waffen greifen.

Große Ideale hat man nur, solange man nicht enttäuscht worden ist? Also nur in der Jugend?

Thea, als Du das gehört hast, hast Du spontan gesagt: „Wenn das so ist, will ich nicht alt werden.“ Ein starker Satz!

Wir Älteren sind erst einmal etwas verlegen geworden. Und wir haben uns gefragt, wie unsere Ideale unser Leben geprägt haben.

Was du damit indirekt gesagt hast: Ich will meine Ideale nicht anpassen. Ich will mich mein Leben lang an meinen Idealen ausrichten.

In Johannes dem Täufer hast Du dafür ein starkes Vorbild. Er war selbstbewusst, aber er überschätzte sich nicht. Er hatte einen wachen Verstand und er spürte Stimmungen. Mit seinem groben Prophetengewand war dieser Mann eine wandelnde Predigt. Seine knappen Worte zielten auf einen Neuanfang ohne falsche Kompromisse. „Tut Buße!“, „Kehrt um!“, „Ändert euer Leben!“

Harsche, steile Worte, die Finger zum Himmel gerichtet. Und doch strömten die Menschen zu ihm.

Mal angenommen, Du hättest ihn auch besucht und ihn gefragt: Wie kann ich meine Ideale umsetzen? Johannes hätte dir vielleicht gesagt: Zieh dich immer mal wieder zurück. Geh in die Wüste, wenn Du deinen Weg nicht mehr siehst. Oder sogar davon abgekommen bist. Es wird auch dir leichter fallen, an stillen Orten neu anzufangen. Lass dich nicht von den Städten mit ihrer Glitzerwelt verführen.

Wähle das einfache Leben.

Welches Glück bringen schon Samt und Seide?

Jeder Morgen kann der letzte sein. Für jeden von uns und für unsere Welt. Denn so wie es ist, kann es nicht weitergehen. Es liegt zu viel im Argen. Gott will, dass du wahrnimmst, was du siehst. Auch wenn es nicht immer einfach ist.

Such dir Gleichgesinnte. Gemeinsam wird es euch leichter fallen, von falschen Wegen umzukehren und Euren Idealen zu folgen.

Es sind herbe, deutliche Worte, die von Johannes überliefert sind.

Klartext mit einem hohen Anspruch.

Schwer verdaulich in der Johannes eigenen Weltuntergangsstimmung!

Und dennoch: Johannes hat Menschen zu allen Zeiten fasziniert. Sogar Jesus kam zu ihm und ließ sich von ihm taufen. Die Evangelien erzählen, dass in diesem Augenblick der Himmel aufging. Ein großartiger Moment.

Unser Brunnen zeigt genau diese Situation. Einem Schüler (von hier) fiel dabei etwas auf: Johannes wirkt hier viel größer als Jesus.

Es scheint, dass Jesus sich ganz hineinbegeben hat in die Begegnung mit Johannes, bei der er, Jesus, der Empfangende war. Als habe er Johannes gebraucht, um getauft zu werden, als habe er Johannes gebraucht, um den Himmel offen zu sehen, den eigenen Weg finden und gehen zu können.

Sogar Jesus, so sah es der Schüler, hat von einem anderen etwas angenommen, war bereit, sich helfen zu lassen.

Dann, meinte der Schüler nachdenklich, könne es ja auch ihm leichter fallen,

von anderen Hilfe anzunehmen, wenn es einmal nötig sei.

Dieser langsam formulierte Gedanke hat mir gefallen: „Dann kann ich mir auch mal was sagen lassen.“

Sich gegenseitig helfen, einander an die Hand nehmen, sich etwas sagen und sagen lassen so verstehen wir uns auch in unserer Schulgemeinde in Blaubeuren.

Unser Seminar war früher ein Kloster.

Hier haben sich seit vielen Jahrhunderten Menschen zusammengetan, um gemeinsam zu glauben, zu beten, zu lernen, sich zum Leben zu helfen.

Und sich Mut zu machen, neue Wege einzuschlagen.

Neue Wege: Davon erzählt ein griechisches Lied von Giorgos Seferis:

An dem versteckten Strand bekamen wir Durst am Mittag, doch das Wasser war fade.

Auf den goldenen Sand schrieben wir ihren Namen; wie schön wehte die Brise und die Schrift erlosch.

Mit welchem Mut, mit welcher Kraft, welchen Wünschen und Leidenschaften begannen wir das Leben.

Fehler! Und wir änderten das Leben.

Text Giorgos Seferis, Musik Mikis Theodorakis

Wir sahen die Fehler. Und wir änderten. Es gibt Momente, in denen ist es möglich, das eigene Leben zu verändern. Den eigenen Weg, die eigene Bestimmung zu finden. Sicher war Jesus nicht der einzige, der damals in der Wüste den Himmel offen sah. Wenn der Himmel aufgeht, dann weiß man plötzlich, was gut und richtig ist und was man zu tun hat. Wofür es sich lohnt, einzutreten. Und wo man hinwill. Mit fünfzehn, fünfzig oder achtzig Jahren.

Ideale gelten nicht nur für junge Leute. Sondern lebenslang. Es lohnt sich, sich mit ihnen auseinandersetzen, von Zeit zu Zeit. Runde Geburtstage, Klassentreffen, Jahreswechsel , das sind Momente, wieder einmal darüber nachzudenken, Bilanz zu ziehen und vielleicht eine Kurskorrektur vorzunehmen. Schritte in eine neue Richtung zu wagen, und vielleicht nach Jahren das machen, was wir immer schon wollten und für richtig hielten. Egal wie alt wir sind.

Und wenn heute solch ein Tag für eine Zwischenbilanz wäre? Ja, was halten wir für richtig, was wollen wir für uns und für die Welt? Wie soll sie aussehen? Und wo müssen wir uns gemeinsam ändern? Widersprechen, Farbe bekennen?

Jonas, du hast mir vorhin aus der Seele gesprochen: Die Art, wie manche in unserem Land Flüchtlingen begegnen, wie Menschen in Europa weitergeschoben oder zurückgeschickt werden, schreit zum Himmel.

Es gibt, zum Glück, auch anders. Ein im Iran geborener, aber in Deutschland aufgewachsener Arzt hat erzählt, dass er als Schulkind Schwierigkeiten mit der deutschen Sprache hatte. Eine Nachbarin hat ihm Nachhilfeunterricht gegeben.

Ohne seine Nachbarin und ihre Hilfe hätte er seinen Schulabschluss nicht machen können. Und könnte heute in unserem Land kein Leben retten.

Ideale, Überzeugungen, Glaubenssätze: Sie werden manchmal ganz praktisch. Ideale sind mehr als nur eine vage Hoffnung. Sie können die Wirklichkeit verändern und uns und die Welt Gott näher bringen.

Schauen wir noch einmal auf Johannes.

Als er Jesus getauft hat, hat er ihn überragt. Aber dann ist er zurück getreten, demütig und bescheiden. Und hat auf ihn als den Größeren gewiesen.

„Benedictus. Gelobt sei, der da kommt im Namen des Herrn“. So hat Johannes über Jesus gesagt. Denn mit Jesus hat Gottes neue Welt schon angefangen. Und wir können in sie eintreten. Klar. Und ausgerichtet auf das Wesentliche.

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle menschliche Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus, unserem Herrn.

Amen.

Perikope