Gnade sei mit euch von dem, der da ist und der da war und der da kommt!

Liebe Gemeinde, was für eine Szene: Zwei Häftlinge spielen eine biblische Geschichte nach. Die Versuchung Jesu. Und zwischen den Zeilen spielen sie ihre eigene Geschichte.

Dima und Kemal sprechen aber nicht nur nach, was Jesus dem Teufel entgegnet. Sie deuten das Streitgespräch auch.

Kemal als Versucher treibt Dima – Jesus die wackelige Leiter hoch. Als der oben ist, setzt Kemal mit feiner Ironie noch einen drauf und sagt:
„Das alles wird dir gehören, wenn du dich vor mich hinkniest und anbetest, du Opfer“.

„Du Opfer“ – das steht gar nicht in der Bibel. Aber Kemal spürt genau, worum es dem Teufel geht: Er will Menschen und Gott auseinanderbringen.

Er will teilen und herrschen, Beziehungen zerstören, um dann selbst die Kontrolle zu übernehmen. Darauf kommt es dem Teufel an. Deshalb nennt die Bibel ihn „Diabolos“, den Auseinanderbringer.

Der setzt alles daran, Macht über Jesus zu gewinnen. Jesus soll sich ihm unterwerfen. Sein Innerstes opfern. Seine Seele verkaufen.

Und Jesus? Der wird richtig hart geprüft. Dabei hatte doch alles so gut angefangen. Als Jesus getauft wurde, öffnete sich plötzlich der Himmel.

„Du bist mein geliebtes Kind“, hat Gottes Stimme gesagt. Alle konnten es hören. Was für ein schöner Moment! Was für ein starkes Bild. Der Himmel hat sich geöffnet, alles ist möglich. Der  getaufte Jesus und Gott, den er Vater nennt – sie sind unzertrennlich.

Mein liebes Kind, mein lieber Sohn!

Reicht dieser Satz fürs Leben, auch wenn es hart auf hart kommt? Wird aus dem Kind ein aufrechter, freier Mensch? Ist die Liebe stark genug?

Das fragt Gott sich.

Und beauftragt den Auseinanderbringer.

Der soll mit aller Härte an Jesus prüfen, ob Gottes Wort standhält.

Jesus, der Prüfling, lässt sich nicht beirren. In der Wüste gibt es nur Sand und Steine. Und den weiten Himmel. Nichts kann ihn ablenken. Die Stille hilft ihm, zu sich zu kommen.

Dima dagegen braucht die Kälte. Sie erinnert ihn an Sibirien. An seine Widerstandskraft. An das, was in ihm steckt. In der Kältekammer behält Dima seinen kühlen Kopf.

Wenn ich unsicher oder durcheinander bin, hilft mir die Bewegung. Am liebsten zu Fuß und draußen. Ich sehe den weiten Himmel, die gute Aussicht. Ich spüre, wie mein Körper seinen Rhythmus findet. Und die Gedanken werden frei.

An so einem ruhigen Ort also prüft Jesus die Angebote des Versuchers. Er misst sie an dem, was Gott ihm versprochen hat. „Du bist mein geliebtes Kind“, hat Gott ihm gesagt. Sein Kind wird Gott nicht im Stich lassen. Im Leben nicht. Da kann uns nichts auseinanderbringen. Auch nicht im Tod.  Darauf verlässt Jesus sich und hält stand, bis der Teufel aufgibt.

Auch Dima wird hart geprüft. Ausgerechnet in einer Kirche. Hier ändert sich sein Leben

Dima hängt die Ikone zurück. Hätte er sie mitgenommen, wäre er aus dem Gröbsten raus. Dann wäre er der große King, der seinem Vater hilft. Und alle würden ihn bewundern.  Die Versuchung war riesengroß.

Die Ikone ist aber auch ein heiliges Bild. Als Dima sie ansieht, erkennt er in ihr etwas Göttliches. Dima entscheidet sich. Er will sich nicht mehr verwirren lassen. Er will sich des Gottesbildes nicht bemächtigen. Er lässt die Ikone an ihrem Platz. Man könnte sagen: Er lässt Gott an seinem Platz. Auch in seinem Leben.

Dima will sich nicht mehr unterwerfen, um über die Runden zu kommen.  Ihm ist sein Gewissen wichtig geworden. Und die Freiheit, sich zu entscheiden. Jetzt geht er seinen eigenen Weg.  

Darum stößt er etwas später auch die Leiter um. Sie sollte ihn zum Erfolg und  zum Reichtum führen. Aber auf dem Weg zu sich selbst braucht er keine Räuberleiter mehr.

Liebe Gemeinde, dieser Dima ist für uns in doppelter Hinsicht ein gutes Beispiel.

Er zeigt: Bei Versuchungen geht es niemals nur um Kleinigkeiten. Um Kavaliersdelikte. Oder um Benimmfragen.

Es geht immer ums Ganze. Was wir tun oder lassen hat immer Folgen für unsere Beziehungen. Zu uns selbst, zu unserem Gewissen. Zu anderen Menschen. Und zu Gott.

Dima redet sich ja nicht damit raus, dass er nur ein `armes Migrantenkind´ ist und deshalb gar nicht anders kann als zu stehlen. Dima wählt den aufrechten Gang. Und erweist sich darin als ein mutiger Nachfolger Jesu.

Solchen Mut wünsche ich uns auch: Den Mut, auf Gott zu setzen. Auf sein Wort zu vertrauen. In der Beziehung zu Gott einen Weg in die Freiheit zu finden, selbst in beklemmenden Situationen.

Das bedeutet nicht, dass wir darauf verzichten müssen, Einfluss zu nehmen in der Welt. Ganz im Gegenteil. Wir können uns dabei an Jesus ausrichten. Uns wie er festmachen an Gottes Zuspruch für jeden Menschen: Du bist mein geliebtes Kind. Die Macht, jeden Menschen als ein Kind Gottes anzusehen, nehmen wir aus Gottes Hand.

Wenn wir das im Sinn haben, dann entlarven wir eine Versuchung unserer Zeit. Wer diesen jungen Mann ansieht, merkt vielleicht ein Klischee einrasten: Der kommt aus Russland? Dann gehört er bestimmt zur Mafia. Die klauen und sind gewalttätig.

Durch solche Zuschreibungen werden ganze Menschengruppen auf wenige Merkmale festgelegt. Die Russen. Die Türken. Die Araber. Die Asylsuchenden. Sie geraten in eine Schublade. Und dann können wir sie uns vom Leib halten. Weil wir nicht wissen, wer da auf uns zukommt. Und was.

Was fremd ist, ist unheimlich. Und dann übernimmt die Angst das Regiment. Aber wenn wir Angst haben, hat der Auseinanderbringer ein leichtes Spiel: Die wollen uns überrennen. Die machen uns fertig. Dann machen wir sie doch lieber fertig. Oder wir lassen sie erst gar nicht rein.

Manchmal höre ich Menschen sagen: „Da kann man eh´ nichts machen“. Oder: „Man muss eben mit dem Strom schwimmen. Die Hassparolen sind so laut. Die Gewalt so brutal. Da heule ich lieber mit den Wölfen.“ In meinen Ohren klingt das bedrückend. Und ängstlich. Und furchtbar resigniert.

„Aufzugeben ist das Schlimmste, was einem Menschen passieren kann bei dem Versuch, ein Mensch zu werden.“ hat die Theologin Dorothee Sölle mal gesagt. „Die Bibel hat für sich, dass sie unsere größte Versuchung, die Hoffnungslosigkeit bekämpft.“

In unserem Kirchenkreis versuchen wir darum, Menschen die Angst voreinander zu nehmen. Hier in Marl sind wir so frei und laden Flüchtlinge in evangelische Gemeindehäuser ein. In anderen Städten helfen wir Menschen aus dem Irak, aus Syrien und Afghanistan, unsere Sprache zu lernen.

Sie sollen selbst zu Wort kommen. Und wir erleben, wie erleichtert viele Menschen sind. Auf beiden Seiten.

Die Angst wird klein, die Hoffnung groß. Dass es doch gemeinsam geht. Dass noch jede Menge Platz ist bei uns.

Dass Unterschiede zwischen Menschen nicht bedrohlich sein müssen. Sondern bereichernd sind. Wenn wir nur darauf achten, dass niemand verloren geht. Dann widerstehen wir nämlich der Versuchung, unsere Seele an den Auseinanderbringer zu verkaufen.

„Du bist mein geliebtes Kind.“ An dieses Machtwort Gottes können wir uns halten, wenn Versuchungen uns locken wollen. Du bist mein geliebtes Kind.

Beten hilft auch. Jesus hat uns Worte dafür geschenkt: „Führe uns nicht in Versuchung!“, so beten wir im Vater Unser.
Wir können sicher sein: Was uns Angst macht, was uns durcheinander bringt, was uns innerlich zu zerreißen droht,  ist in Gottes Ohr gut aufgehoben.

Immer wieder, jeden Tag. Gott weiß ja, dass wir es täglich neu üben, Menschen zu sein. Gotteskinder zu bleiben.

Wir haben öfter die Wahl, als wir denken. Davon erzählt die Geschichte von der Versuchung Jesu. Und Dimas Geschichte auch. Gott sei Dank sind sie beide nicht zu schön, um wahr zu sein.

Und der Friede Gottes, der höher ist als all unsere Vernunft, der bewahre unsere Herzen und Sinn in Christus Jesus.

Amen.

Perikope
01.02.2015
4,1-11