Liebe Gemeinde hier in der Michaeliskirche und an den Bildschirmen!
Ich schaue in den Spiegel. Auf meiner Glatze liegt ein dunkler Schatten. Was ist das schon wieder, verdammt!? Seit Monaten bekomme ich Che-motherapie, die Haare sind längst ausgefallen. Und jetzt das! Ich streiche panisch über meinen Kopf und begreife: Hey - das sind die neuen Haare, die da wachsen wollen. Sofort schmeiße ich die Perücke in die Ecke und laufe dünn und bleich, aber mit winzigen Igelborsten durch die Stadt. Ich bin schön! Danke, lieber Gott! Mit 29 Jahren habe ich das alles genau so erlebt. Ich bin glücklich. Nach wie vor. Sie sind mir geblieben, die Haare.
Die Schönheit, von der unser Bibelwort spricht, kann schier makellos sein. George Clooney, Nicole Kidmann - hach, sehen die toll aus… Natürlich kann man das auch zum eigenen Partner oder der Freundin sagen. Du bist schön, du hast wunderbare Augen, liebster Mann, hast eine fa-belhafte Figur. Das ist überschwängliche Freude an Gottes Ideenreichtum, die uns und andere so hat werden lassen, wie wir sind.
Aber es wäre viel zu wenig, wenn wir uns allein von Äußerlichkeiten be-geistern ließen. Ich habe eine liebe Freundin, deren Mann eigentlich we-nig von einem Filmstar hat. Er ist unglaublich geistreich, witzig und kann phantastisch mit Sprache umgehen. Und sie sagt: "Was bin ich froh. Dass vorher keine seine Schönheit entdeckt hat und ich ihn bekommen durfte!"
Schönheit ist im Wortsinn Ansichtssache. Wer liebt, der ist entzückt vom Aussehen des anderen, von Körper, Stimme, Bewegungen – von seinem, ihrem Wesen, der ganzen Art. Toll, diese feingliedrigen Hände, die unbe-zähmbaren Augenbrauen! Herrlich, diese Nase mit Aufwärtstrend ... Wer liebt, spielt mit grauen Haarsträhnen, fährt zärtlich Falten nach und streichelt den Bauch, der kein Waschbrett-, dafür ein Waschbärbauch zum zufriedenen Anlehnen ist.
Solch Schönheitssinn kommt auch zurecht mit Krankheiten, mit Gebre-chen. Kommt zurecht mit dem Anderssein des anderen. Ich habe einen kleinen Jungen mit Down-Syndrom getauft. Theo Benjamin heißt er, übersetzt: Gottesgeschenk, Sohn meiner Liebe. Seine bildhübschen Schwestern haben im Gottesdienst "Isn´t he lovely" gesungen, einen Hit vom blinden Soulsänger Stevie Wonder. Ja, er ist entzückend, Theo, mit seinen Juchzern, seiner Freude, seiner Knuddligkeit. Er würde fehlen, gäbe es ihn nicht.
Du bist schön. Ich hab´ Dich gern, wenn deine Augen strahlen oder müde sind und du täglich vor dem Fernseher einschläfst. Du bist schön, auch wenn du nicht stark und wild, sondern schwach und nicht mal zahm bist. Das ist das Geheimnis der Liebe – die Schönheit im anderen, an sich selbst jeden Tag neu zu entdecken. Siehe, meine Freundin, du bist schön. Siehe, mein Freund, du bist lieblich. Das wäre doch mal eine Begrüßung auch des eigenen Spiegelbildes …
"Du bist so schön", flüstern sich Liebende zu. In solchen Augenblicken spielen modische Ideale, plakatierte Versionen davon, wie ein Mensch zu sein habe, keine Rolle. Die Zeilen aus der Bibel sind so sinnlich, dass sie früher flugs auf die Liebe zwischen Gott und Mensch übertragen – und damit ihres erotischen Klanges beraubt wurden. Wie schade! Mann und Frau, so erzählt die Bibel am Anfang, sind ein Fleisch. Sexualität ist eine Gabe Gottes, die machtvoll zur Lebenskraft beiträgt.
Deswegen ist es wichtig, Gott ins Spiel zu bringen. Die Beziehung zu ihm macht es möglich, sich selbst und andere wirklich schön zu finden und nicht runterzumachen. Wir sind nach seinem Bild geschaffen, sind sein Abbild - schön und begabt, nicht vollkommen, aber besonders. Wir ent-falten unsere Gaben oft eindrucksvoll. Zugleich geraten wir immer wieder ins Trudeln. Scheitern. Sehen alt aus. Wir brauchen immer wieder Vergebung und Neuanfänge. Gottes Ebenbild: So dürfen wir uns in unse-rer schönen Unvollkommenheit nennen.
Und es ist eine Verpflichtung. Wir sollen Gott, der uns geschaffen hat, nicht lästern. Andere nicht runtermachen, sondern ihre Schönheit sehen oder aus ihnen herauslieben, auch, aus uns selbst. Ich kenne einen Be-amten einer Justizvollzugsanstalt, der Jugendlichen in der Arbeitsthera-pie handwerkliche Fertigkeiten nahe bringt. Mit Blick darauf, dass sie ein drogen- und gewaltfreies Leben anfangen sollen, bewundert er den Tä-towierer für seine Malkunst, den Schläger für die Geduld beim Bienen-stockbauen und den Junkie für seine Liebe, mit der er Engel aussägt.
Er kitzelt aus den Gefangenen heraus, was sie an Gutem schaffen können – zu ihrer eigenen Überraschung. Vielleicht hilft uns die Einsicht, dass kein Mensch makellos durchs Leben kommt. Jeder trägt Falten, Narben, Wunden auf Körper und Seele, hat Flecken auf der weißen Weste und bleibt Gottes Ebenbild. Wozu wäre himmlische Gnade und vorurteilsfreie Zuneigung gut, wenn man sie nicht dringend bräuchte? Du bist schön! Schluss mit dem Runtermachen!
Mit einer kleinen Zeile unseres Bibelwortes habe ich Schwierigkeiten. Da heißt es: "Wie eine Lilie unter den Dornen, so ist meine Freundin unter den Mädchen". Lilie heißt im Hebräischen Shoshannah, Susanne, so, wie ich. Aber warum bezeichnet der Liebste in seinem Überschwang die an-deren als Dornen? Man sollte das Schönsein des geliebten Menschen oder das eigene Selbstbewusstsein nicht auf Kosten anderer feiern. Setzen Sie also gerne auch Rosa, Yasmin, Iris oder Fleur ein… Oder Maike, Karin, Monika, Beate. Sagen Sie Ihren Namen und fühlen sich gemeint!
Du bist schön. Und wenn man selber oder ein anderer das so gar nicht empfindet? Dann hilft es, getrost auf Gott zu schauen. Er wird in dubiose Familienverhältnisse hinein geboren, hat als erste Gäste am hölzernen Himmelbett unterbezahlte Hirten, trifft sich zum Essen mit Aussätzigen, Huren und Zöllnern. Er hat keine Lust auf Rollenfestlegungen, weil die nie den ganzen Menschen zeigen. Ein Mensch sieht, was vor Augen ist, Gott sieht das Herz an. Er sieht den ganzen Menschen – und darum wer-den auch die Leute anders, mit denen er zu tun hat.
Gott liebt die innere Schönheit heraus. Ein Betrüger wie Zachäus tischt freundlich auf und entdeckt, wie er sein berufliches Leben zum Guten verändern kann. Eine ehemalige Zwangsprostituierte macht ihren Hauptschulabschluss. Du bist schön! Das, was du kannst ist wunderbar. Das neue Fastenmotto nimmt Gott tief ernst. Unsere Fastenaktion gibt einen kräftigen Anstoß, unsere Vorstellungen von einem allseits passen-den, gefälligen Menschen in Frage zu stellen.
Du bist schön – auch wenn du in dich gekehrt und keiner der "Immer-gut-drauf"-Typen bist. Du bist schön, weil du in Streitigkeiten zur Ruhe beiträgst, weil du pfeifst auf das, was "in" ist. Du bist schön, weil du ein Herz hast für die Nöte anderer, weil du gibst und nicht allein nimmst. Wir sind Gottes Söhne und Töchter, von ihm geliebt, bevor wir auch nur einen Fuß auf diese Erde setzen - und nachdem wir sie verlassen haben.
Mit dem Motto unserer diesjährigen Fastenaktion im Ohr kann man ge-trost sämtliche Selbstoptimierungsprogramme zum Sondermüll bringen - und andere mit der Aufforderung verschonen, endlich etwas aus sich zu machen. Die Urheberschaft unseres Lebens ist unstrittig himmlisch, auch wenn wir keine Engel sind - oder selten. Wir sind schon wer! Mehr könn-ten wir gar nicht sein als Gottes Kinder, einer wie die andere und zugleich keine wie der andere. Einmalig, unverwechselbar sind wir - wie wunderbar. Zu wissen, dass Gott die Existenz eines jeden Menschen will und bejaht, stärkt das eigene Selbstbewusstsein.
Und es macht Laune, auch anderen als Ebenbild Gottes zu begegnen: sie in ihrer Vielfalt zu bewundern. Verzichten wir darauf, uns und andere madig zu machen, mit mieser Stimmung unser Leben zu verplempern. Stattdessen können wir aus Gottes genialem Werk tief gehende Lebens-freude schöpfen und die Kraft, das zu ändern, was wirklich geändert werden muss. Menschen sind schön geschaffen als Frau, als Mann, als Kind. Was für eine verblüffende Wonne! Danke, Herr, unser Gott.
Und: Amen.