27.09.2015, Meldorf: "Ernte gut – alles gut?"
15,21-28

27.09.2015, Meldorf: "Ernte gut – alles gut?"

Hier in Dithmarschen leben viele Bauernfamilien. Wenn ich sie besuche, lassen sie mich an ihrem Leben teilhaben.  Besonders was Sie, liebe Landfrauen, mir erzählt haben, gab mir die Idee, Sie mit Luise bekannt zu machen:

Der Kohl war reif, und Luise saß auf ihrer Bank mit dem Blick übers Feld.

Da kam Hannah vorbei gehüpft. Sie war fünf. Ihre Eltern hatten vor kurzem den Resthof nebenan gekauft. Mit einer großen Vision: Sie wollten eine Marmeladenmanufaktur aufmachen. Nach langen Jahren in der Großstadt jetzt endlich wunderbar authentisch leben.

Luises Hände kneteten die Kittelschürze. Der Kohl war reif, und sie sollte nicht mehr. Du hast genug gearbeitet, hieß es. Aber ihre Hände vertrugen keinen Müßiggang. Durchwittert und lebendig waren sie. Kräftig und faltig. Hannahs kleine Finger erkundeten vorsichtig die Schwielen. Hannah fand Luises Hände schön.

Mit 22 hatte es Luise nach Dithmarschen verschlagen. Aus dem Land der dunklen Wälder. Hinter die Deiche. Seither war sie hier. Jahr ein, Jahr aus helfen, Setzlinge zu pflanzen. Furchen ziehen. Kohl hacken. Kohl schichten. Weißkohl. Rotkohl. Alle Sorten. Acker um Acker. Hektar nach Hektar. Ihre Hände wirkten, als ob sie ganz Dithmarschen umgegraben hätten. Inzwischen gab es Fabrik große Maschinen dafür. Ob man die noch Traktoren nennen konnte? Ihre Hände jedenfalls wurden nicht mehr gebraucht.

Hannahs Füße steckten in Gummistiefeln. Im Spätsommer! Dabei regnete es nicht einmal.

Ob dieses Kind wohl schon mal Marschboden zwischen seinen Zehen gespürt hatte?

Ganz in Gedanken hing Hannah über einer Pfütze. Staute Wasser. Knetete Klumpen. Blies erdigen Staub darüber.  Sie schöpfte und schuf sich eine kleine Welt aus der Erde vor Luises Haus. Was für ein besonderes Kinderglück war das heutzutage. Wie bei mir früher, erinnerte Luise. Sie fand Hannahs kleine, erd geschwärzte Hände schön. So unverfälscht und ursprünglich. Erdenlust pur.

„Hannah!“ „Alles okay, Mama. Hannahs Mutter kam um die Ecke geschossen.  „Du darfst hier nicht spielen.“ Die junge Frau bebte. War mitten in Hannas Erdklumpen-Buddelmatsch-Reich getrampelt.

„Wie du wieder aussiehst! Wie soll ich denn jetzt diesen Dreck wieder von deinen Händen runter bekommen?!“ Hannahs und Luises Blicke verbündeten sich. Hannah wurde ins Haus gezerrt. Luise vergrub ihre Hände in den Taschen und versuchte sich zu entsinnen, ob ihre Mutter jemals das Wort ‚Dreck’ in den Mund genommen hatte.

Dreck. Wie geringschätzig das klang. Als ob Erde ohne Wert sei. Wenig nützlich. Dieser biologische Kleinstkosmos. Zwanzig Zentimeter tief. Aus Nährstoffen und Mikroorganismen.

Das sind genau die zwanzig Zentimeter, von denen du und ich satt werden, Madam! So, so. Ich habe also mein Leben lang in Dreck gewühlt. Luises Lippen wurden ganz schmal.

Ob ihr Nachbar, Dithmarscher Landwirt in sechster Generation, wohl auch der Meinung war, er verdiene sein Brot mit Dreckarbeit?

Warum denkt so mancher nur, wer in der Landwirtschaft arbeite, sei der Depp mit der Hacke in der Hand. Warum begriffen viele nicht, dass es inzwischen ein diplomierter Agrarwissenschaftler war, der mit moderner Landtechnik einen Kohlhof oder andernorts einen Obsthof, eine Milchwirtschaft oder ein Weingut bewirtschaftete, der sich über Schädlingsbekämpfung, Fruchtfolgen und Futtermittel Gedanken machte, machen musste, damit die Äcker, die Bäume, die Weiden auch weiterhin trugen. Wahrscheinlich passte das nicht ins Bild. Es störte offenbar die Bauernromantik, war wohl für so manchen wie eine vierspurige Autobahn quer durch den persönlichen Heimatfilm.

Luise wusste, wer ertragreich ernten wollte, war abhängig. Von der Beschaffenheit des Bodens. Von der Qualität der Saat. Zu viel Regen war genauso schädlich wie zu wenig wie diesen Sommer. Erde, Wasser, Luft. Hieraus wuchs alles, was den Menschen ernährt.

Heute nicht anders als gestern, vorgestern und vorvorgestern.

Aber Luise sah mit großem Stirnrunzeln, dass die Sinnkrisen des Ackerbauern nebenan und der übrigen Landwirte heutzutage von ganz anderer Natur waren. Wer von der Land- oder Viehwirtschaft leben wollte, war eingezwängt zwischen Normanforderungen und Abnahmequoten, zwischen tariflichen Arbeitszeiten und Mindestlöhnen für Erntehelfer. Brauchte große Maschinen, um die riesengroßen Ackerflächen zu bearbeiten. Brauchte die Banken, um die Maschinen zu finanzieren. Brauchte zigtausend Hektar um zig Tonnen Kohl Jahr für Jahr zu ernten, um die Jahre lang laufenden Kredite abzubezahlen. Wer sich diesem Kreislauf stellte, kam mit der Hacke in der Hand nicht mehr weit.

Was würde aus denen, die nach ihr kamen? Wer wollte sie ernähren? Es schien Luise wie ein Fluch. Leute wie Hannahs Mutter wollten unbedingt zurück zur Natur, aber wie in ein Freilichtmuseum. War ihnen bewusst, was Werden und Vergehen bedeutete?

Ihr Landwirtsnachbar musste bis spät in die Nacht rechnen und war kaum noch fähig von seinen Erträgen zu leben. Seine Möhren mussten nach einem wunderbaren Sommer auf dem Acker bleiben, weil sie zu gut gewachsen waren.

Zu groß für die Weiterverarbeitung der Nahrungsmittelindustrie. Kein Absatz möglich. Selbst Verschenken war noch zu teuer. Unterpflügen war das günstigste Minus. Welch ein Hohn. Welch eine Schmach angesichts Hungernder überall auf der Welt. Luise wusste, dass es den Nachbarn innerlich umtrieb.

Wohin sollte dieser Wahnsinn zwischen fröhlicher Landpartie und Überökonomisierung bloß führen? Wovon würde sich Hannah eines Tages ernähren müssen, wenn sie erwachsen war? Von Synthetiknahrung ?

Luise mit ihren über achtzig Jahren dachte an Hannahs Schöpferhände und ihr fiel ein, was ihre Großmutter abends beim Zubettgehen oft vorgelesen hatte:

Lesung Susanne Thießen

Es war zu der Zeit, da Gott der HERR Erde und Himmel machte. Da machte Gott der HERR den Menschen aus Erde vom Acker und blies ihm den Odem des Lebens in seine Nase. Und so ward der Mensch ein lebendiges Wesen.

Und Gott der HERR nahm den Menschen und setzte ihn in den Garten Eden, dass er ihn bebaute und bewahrte.

Genesis 2, 4b.7.15 in der
Übersetzung von Martin Luther
in der revidierten Fassung von 1984,
© Dt. Bibelgesellschaft Stuttgart 1985

Pastorin Ina Brinkmann

Auch auf Platt hatte ihr die Großmutter diese Geschichte vorgelesen: Denn so klang sie noch viel wundersamer:

 

Lesung Susanne Thießen

Eendaags möök Gott, de Herr, Eerd un Heben. Do möök Gott, de Herr, den Minschen ut Stoff vun dat Eerdriek he blaas em lebennigen Aten in sien Nääs. Un so warr de Minsch en lebennig Wesen. Do nehm Gott, de Herr, den Minschen un bröch em nah den Gaarn Eden, den schull he bearbeiden un bewahren.

Dat Ole Testament,
översett ut den Uurtext vun Karl-Emil Schade,
rutgebe vun den Arbeidskrink
„Plattdüütsch in de Kark“ in Nordelbien,
3. Auflage 1996,
Wachholtz Verlag Neumünster 1995

Ja! dachte Luise und schaute auf ihre schwieligen Hände. Ut Stoff vun dat Eerdriek. Wir sind aus Erde gemacht. Aus diesem Stoff. Jeder. Ich auch. Und die Madam, Hannahs Mama, genauso wie mein Landwirtsnachbar. Wenn ich mal nicht mehr bin, dann bin ich immer noch da, nur anders. So.

Von Erde bist du genommen, zu Erde wirst du werden. So klang das neulich auf dem Friedhof, als das ganze Dorf Karl zu Grabe trug. Da hatte Luise diese Sätze traurig gefunden. Aber eigentlich waren sie doch tröstlich.

Denn wir sind nichts anderes als die Krume, die wir bebauen. Das verbindet uns mit allem, was wächst und gedeiht und auch wieder vergeht. Es verbindet uns mit denen vor uns und die nach uns kommen. Ob nun Landmensch oder Stadtmensch, wir alle gehören in den Kreislauf der Natur. Wir sind ein Teil von Gottes Schöpfung. Daraus entsteht, was wir wissen und wissen können.

Eine Handvoll Erde und der Atem Gottes. Welche Lust darin steckt. Und welche Verantwortung. Erschaffen. Schaffen. Forschen und Erfahren. Die kleine Hannah hatte auch solch eine Lust gehabt als ihre Hände das Buddelmatsch-Erden-Reich schufen. Sie war davon beseelt und baute und bewahrte, weil sie es liebte, womit sie umging.

In jedem von uns steckt doch ein bisschen der Geist Gottes.

Luise stand auf und sog die Luft tief in ihre alten Lungen. Ihr Blick ging weit über den Acker hinweg. Ihr war als ob die Weite der Zukunft sie streifte. Der Kohl war reif, und sie empfand just jetzt tiefe Liebe.

D A N K E. Aus tiefstem Herzen entfuhr es ihr.

Ob Hannah wohl schon Gottes Geschichte mit dem Erdreich kannte? Wenn wir uns hier auf meiner Bank treffen, erzähle ich sie ihr. Amen