Abel, steh‘ auf, wir müssen neu anfangen - Predigt zu 1. Mose 4, 1-16a und Lukas 10, 25-37 Walter Meyer-Roscher
4,1-16a

Zwei Geschichten, in denen von brutaler Gewalt, der ein Mensch zum Opfer fällt, berichtet wird, bestimmen diesen Sonntag im Kirchenjahr. Der Predigttext aus dem AT ist die uralte Erzählung von Abel, den sein Bruder Kain aus Missgunst und Überheblichkeit erschlägt. Im Sonntagsevangelium ist dann die Rede von einem Mann, der zwischen Jerusalem und Jericho unter die Räuber fällt und halbtot am Weg liegen bleibt.

Nur zwei Episoden aus einer unendlichen Geschichte von Hass und Gewalt, Brutalität und Vergeltung – einer Geschichte, die ganze Völker immer wieder in Angst und Schrecken versetzt, die uns alle nicht zur Ruhe kommen lässt? Nein, es sind keine Episoden, die man dann auch getrost vergessen könnte. Es sind vielmehr symbolische Geschichten, die einen großen Bogen vom nicht wieder gutzumachenden Anfang bis zu einer Hoffnung auf Veränderung schlagen wollen.

Am Anfang steht Kain mit seiner Tat und mit seiner scheinheilig-egoistischen Frage: Soll ich meines Bruders Hüter sein?

Abel steh auf, damit es anders anfängt zwischen uns allen – ein Wunsch, der die erste Gewalttat revidieren und unsere Geschichte von Anfang an verändern möchte. Abel steh wieder auf, dann könnten sich doch neue hoffnungsvolle Wege für ein friedliches Miteinander der Menschen auftun. Dann würde auch die alte Frage: „Soll ich meines Bruders Hüter sein?“ eine neue Antwort finden können.

Hilde Domin gibt diesem Wunsch und dieser Hoffnung in einem Gedicht Ausdruck:

 

            Abel steh auf, wir müssen neu anfangen.

            Täglich müssen wir neu anfangen können.

            Täglich muss die Antwort noch vor uns sein

            Und die Antwort muss JA sein können.

            Wenn du nicht aufstehst, Abel, wie soll die Antwort,

            Diese einzige wichtige Antwort sich je verändern?

            Wenn du nur aufstehst und sie rückgängig machst,

            Die erste falsche Antwort auf die einzige Frage

            Auf die es ankommt.

            Steh auf, damit Kain sagt, damit er es sagen kann:

            JA, ich bin dein Hüter, Bruder,

            Wie sollte ich nicht dein Hüter sein?

            Abel steh auf, damit es anders anfängt zwischen uns allen.

 

Ja, wenn die unzähligen Opfer brutaler Gewalt wieder aufstehen könnten, die Opfer von Vorurteilen und Hass. Wenn sie doch wieder aufstehen könnten, die unbarmherziger Egoismus und kalte Liebelosigkeit zu Boden getreten, in einen unverdienten Tod getrieben haben. Dann könnten wir doch mit eigenen Augen sehen, dass es im Zusammenleben von Menschen anders werden kann. Aber dieser verzweifelte Wunsch findet keine Erfüllung.

Die unschuldigen Opfer von Hass und Gewalt stehen nicht wieder auf, wie wir dies manchmal erhoffen. Abel liegt tot am Boden, und er bleibt dort auch liegen. Das ist wie ein Fluch, der unsere Menschheitsgeschichte von Anfang an belastet. Der Wunsch, er könnte wieder aufstehen und damit das Geschehen von Gewalt und Totschlag rückgängig machen, wird nicht erfüllt. Und doch stirbt die Hoffnung nicht, dass es einmal anders und neu zwischen uns allen anfangen könnte, dass Hass und Gewalt unser Zusammenleben nicht endgültig  zerstören, dass Egoismus und Lieblosigkeit nicht das letzte Wort haben.

Diese Hoffnung greift Jesus im Sonntagsevangelium auf. Er kleidet sie in eine gleichnishafte Erzählung, die Geschichte vom barmherzigen Samariter. Seltsamerweise erwähnt Jesus die Gewalttäter nicht weiter. Jesus erzählt nur, dass ein Mann an der öden Wüstenstraße von Jerusalem nach Jericho unter die Räuber fällt. Die schlagen ihn, ziehen ihn aus und lassen ihn halbtot liegen. Dann ist von diesen Tätern nicht mehr die Rede. Unser spontaner und ganz menschlicher Wunsch nach einem Eingreifen von Ordnungskräften, nach Verhaftung und gerechter Strafe, wird in diesem Gleichnis ignoriert. Die Räuber verschwinden in der Anonymität, aus der sie so plötzlich aufgetaucht sind. Offenbar geht es Jesus nicht um die Täter, sondern um die, die auf die Tat und das unschuldige Opfer zukommen.

Der Priester und der Levit, offizielle Vertreter der Religion, rechtschaffene, geachtete und sicher auch fromme Menschen sehen das Opfer und sehen weg. Warum?

Wir wissen es nicht. Jesus sagt es auch nicht. Wir wissen nur: Beide sind „Gottesdiener“, vertraut mit der Ordnung und Liturgie des Gottesdienstes. Beide kennen Gottes Gebote und sind auch mit ihrer Auslegung vertraut. Aber sie sehen weg – aus Angst, dass auch sie an dieser gefährlichen Straße zu Opfern brutaler Gewalt werden könnten? Vielleicht! Aus Gleichgültigkeit, weil sie Anderes und ihrer Meinung nach Wichtigeres zu bedenken haben? Oder weil sie sich nicht zuständig fühlen und die erste Fürsorge lieber denen überlassen, die dafür ausgebildet sind und deren Beruf die professionelle Hilfe ist? Es gibt viele denkbare Gründe und nicht wenige berühren, treffen uns, treffen eine Mentalität, die sich in unserer Gesellschaft breit gemacht hat: Wegsehen, sich nicht angesprochen fühlen, anderen die Verantwortung zuschieben. Soll denn ausgerechnet ich meines Bruders Hüter sein?

Vielleicht ist ja das Wegsehen für Jesus eine besondere Form der Eskalation von Gewalt in unserer Welt. Abel steht nicht wieder auf. Aber der eigentliche Skandal ist, dass immer mehr Menschen sich von den Opfern an der Straße der Gewalt gar nicht mehr angesprochen fühlen, dass sie wegsehen, dass menschliches Mitgefühl verloren geht.

Der Samariter hätte durchaus einen Grund wegzusehen und vorüberzugehen. Der da halbtot an der Straße liegt, ist ein Mann aus dem jüdischen Volk, und er, der Samariter, ist nur ein Fremder, der nicht dazugehört. Seine Volks- und Glaubensgemeinschaft ist nur eine kleine Randgruppe mitten im Gebiet der großen jüdischen Glaubensgemeinschaft, immer wieder ausgegrenzt, diskriminiert, mit Missachtung gestraft.

Ausgerechnet dieser Fremde hat einen wachen Blick  für das Leiden anderer und ein offenes Herz, das mitfühlt und mitleidet. Das unschuldige Opfer jammert ihn, so drückt es Jesus aus. Seine Gefühle richten sich unmittelbar auf den, der seine Zuwendung und Hilfe braucht. Da fallen die Schranken, die zwischen Menschen und menschlichen Gemeinschaften gezogen werden und uns dann oft das Leiden anderer gar nicht empfinden lassen: Die gehören nicht zu uns, zu weit weg oder auch selbst schuld – und wie die Ausflüchte auch heißen mögen, um sich das Elend derer, die unter die Gewalttäter gefallen sind, vom Leibe zu halten.

Auf der Straße der Gewalt nicht die Augen verschließen, sondern hinsehen, mitfühlen und da helfen, wo wir die Nächsten sind. Das will Jesus am Beispiel des Samariters verdeutlichen. Nicht am Ausmaß und an der Eskalation der Gewalt verzweifeln, sich nicht in eine egoistische Resignation zurückziehen, sondern da helfen, wo es unmittelbar notwendig ist. Nächstenliebe richtet sich immer auf den, der vor unseren Augen unter Gewalt und Hilflosigkeit leidet. Der Mann, dem der Samariter so fürsorglich hilft, mit Versorgung der Wunden, mit Nahrung und mit finanzieller Hilfe – dieser Mann kann im Gegensatz zu Abel wieder aufstehen, obwohl er schon halbtot am Boden lag. Da konnte sich etwas verändern im Leben eines Gewaltopfers, weil ein anderer hingesehen und erkannt hat: Ich bin ja sein Nächster. Ja, ich bin meines Bruders Hüter und ich frage nicht mehr nach seiner Rasse, seiner Volkszugehörigkeit, seiner Religion.

Hier muss eure Hoffnung ansetzen, sagt Jesus. Ihr selbst könnt sie gestalten durch Hinsehen und Zuwendung, durch Mitfühlen, Mitleiden und Fürsorge. Für die, die immer nur auf das schreckliche Ausmaß der Gewalt in unserer Welt starren und die dabei gleichgültig werden, mag das keine die Verhältnisse umkehrende Veränderung sein. Aber es ist die Möglichkeit, eine Antwort auf die Anfangsfrage des Schriftgelehrten im Sonntagsevangelium zu finden: Was muss ich tun, damit ich das ewige Leben ererbe.

Für euch, sagt Jesus, ist die Nächstenliebe, wie der Samariter sie beispielhaft gestaltet, die beste Möglichkeit, den Weg in erfülltes, sinnvolles mitmenschliches Leben zu finden. Dazu gehört die neue Antwort auf die uralte Kainsfrage „Soll ich meines Bruder Hüter sein?“:

JA, ich bin dein Hüter, wie sollte ich nicht dein Hüter sein?!

Amen

 

Perikope
26.08.2018
4,1-16a