Von guten Mächten wunderbar geborgen ist das Leben trotzdem verdammt hart - Predigt zu Gen 16,1-16 von Elke Markmann

Von guten Mächten wunderbar geborgen ist das Leben trotzdem verdammt hart - Predigt zu Gen 16,1-16 von Elke Markmann
16,1-16

Liebe Gemeinde!

1. Hagar

Sie hat früh gelernt: Du musst tun, was Dir befohlen wird! Aber diese eine Aufgabe ist anders: Sie wird Mutter des Erben! Ihr Leben bekommt einen neuen Glanz. Kaum beginnt sie zu strahlen, verdunkelt die Herrin ihr Leben. Es bleibt nur die Flucht. „Lieber sterbe ich als noch länger gedemütigt zu werden.“ Gott sieht ihr Elend und hört ihre Klage. Gott schickt einen Engel, der sie stärkt. Wie wohltuend!
Gott schickt sie zurück in die Sklaverei. „Geh zurück und lass dich demütigen!“ Von guten Mächten wunderbar geborgen ist das Leben trotzdem manchmal verdammt hart!

2. Predigttext

Ich lese den Predigttext aus dem 1. Buch Mose:

Doch Sarai, Abrams Frau, hatte ihm keine Kinder geboren. Sie hatte aber eine ägyptische Sklavin, deren Name war Hagar. Da sagte Sarai zu Abram: »Sieh doch, Adonaj verhindert, dass ich Kinder bekomme. Geh doch zu meiner Sklavin, vielleicht wird durch sie mein Haus gebaut.« Und Abram hörte auf die Stimme Sarais. Als Abram zehn Jahre im Land Kanaan gewohnt hatte, nahm deshalb Abrams Frau Sarai ihre ägyptische Sklavin Hagar und gab sie ihrem Mann Abram zur Frau. Da ging er zu Hagar und sie wurde schwanger. Doch als sie merkte, dass sie schwanger war, verlor ihre Herrin an Gewicht in ihren Augen. Da sagte Sarai zu Abram: »Die Gewalt, die mir geschieht, treffe dich! Ich selbst habe dir meine Sklavin ins Bett gelegt. Doch kaum merkt sie, dass sie schwanger ist, verliere ich an Gewicht in ihren Augen. Adonaj soll richten zwischen mir und dir.« Abram sagte zu Sarai: »Deine Sklavin ist doch in deiner Hand. Mach mit ihr, was dir gefällt.« Da demütigte Sarai sie so, dass sie die Flucht ergriff, weg von ihr.
Adonajs Bote fand sie an einer Wasserquelle in der Wüste, an der Quelle auf dem Weg nach Schur, und sprach sie an: »Hagar! Du Sklavin Sarais, woher kommst du und wohin willst du?« Sie sagte: »Weg von Sarai, meiner Herrin! Ich bin auf der Flucht.« Da sprach Adonajs Bote zu ihr: »Kehr zurück zu deiner Herrin und lass dich von ihrer Hand demütigen.« – Da sprach Adonajs Bote erneut zu ihr: »Ungeheuer vermehren will ich deine Nachkommen, so dass man sie vor Menge nicht zählen kann.« – Da sprach Adonajs Bote wieder zu ihr: »Sieh dich an, du bist schwanger und wirst einen Sohn gebären, den sollst du Ismaël nennen, ›Gott hört‹, denn Adonaj hat deine Demütigung gehört. Der wird ein Wildesel-Mensch sein, er gegen alle, und alle gegen ihn. Allen Kindern Sarais und Abrams zum Trotz wird er sich niederlassen.«
Da schließlich gab sie Adonaj, der Gottheit, die mit ihr redete, einen Namen: »Du bist El Roï, Gottheit des Hinschauens.« Denn sie sagte: »Sogar bis hierher? Ich habe geschaut hinter der her, die mich anschaut.« Daher heißt der Brunnen: ›Brunnen der lebendigen Schau‹. Siehe, er liegt zwischen Kadesch und Bered. Und Hagar gebar dem Abram einen Sohn, und Abram nannte seinen Sohn, den Hagar geboren hatte, Ismaël, ›Gott hört‹. Abram war 86 Jahre alt, als Hagar für Abram den Ismaël gebar.

Gen 16, 1-16 (Bibel in gerechter Sprache)

3. Kein Happy End für Sarah?

Kein Happy End für Hagar. Kaum beginnt sie zu strahlen, wird Sarahs Zorn immer dunkler. Hagar leidet. Da bleibt scheinbar nichts Tröstendes. Sogar Gott schickt sie wieder zurück in die Unterdrückung. Hagar merkt deutlich, dass sie keine andere Wahl hat. Aber es hat sich etwas verändert. Sie weiß jetzt, dass sie nicht allein ist. Sie hat erfahren, dass Gott weiß, wie es ihr geht. Sie spürt Gott an ihrer Seite. Die Aussicht „Dein Sohn wird Vater eines ganzen Volkes werden!“ scheint mir wie Hohn. Söhne, Väter und Volk! – und sie, die unterdrückte Frau? Wird sich denn für sie nichts ändern? Kann Gott nicht jetzt handeln?
So viele Frauen sind in schwierigen Situationen: Sklavinnen, Leihmütter, Unterdrückte, Verfolgte, Gequälte und Misshandelte. Für sie ändert sich ebenfalls nichts. Sie leben in schwierigen und menschenverachtenden Verhältnissen. Manch eine wünscht sich, dass Gott eingreift und die Machtverhältnisse ändert. Stattdessen wird Hagar von Gott einfach zurück geschickt. Man könnte es so lesen, als würde Gott damit die schwierigen Verhältnisse, die Gewalt und die Unterdrückung legitimieren.
Aber es ist anders: Für Hagar hat sich etwas geändert. Die äußeren Umstände sind immer noch so, wie sie vorher waren. Hagar geht zurück und lebt ihr Leben, zu dem sie anscheinend bestimmt ist. Sie ist Sklavin, auch wenn sie den Erben in sich trägt. Das Wissen, von Gott gesehen und gehört zu werden, gibt ihr Kraft. Sie ist gestärkt und weiß, dass sie nicht allein ist. So kann sie ihr Leben annehmen. So kann sie den Erben zur Welt bringen und die Demütigungen ertragen.

Ganz kurze Zwischenmusik, evtl nur ein dissonanter Zwischenklang

4. Shireen Abu Akleh

Sie ist Journalistin. Sie erzählt über den Alltag in Palästina. Sie weiß, es ist gefährlich. Für die Besatzungsmacht Israel gilt sie als feindliche Aktivistin. Dabei macht sie ihre Arbeit. Als Journalistin macht sie das sichtbar, von dem offiziell nicht geredet wird. Sie berichtet von Übergriffen und Unrecht. Sie erzählt auch kleine Hoffnungsgeschichten. Sie zeigt, dass palästinensisches Leben zwar massiv eingeschränkt und bedroht ist, aber dass viele Menschen in Palästina leben und träumen. Viele hören ihre Stimme und sehen ihre Berichte. Sie fühlen sich von ihr gesehen. Damit ermutigt sie die Unterdrückten, weiter auszuhalten und weiter zu hoffen. Sie gibt ihnen Lebensmut. Shireen Abu Akleh ist gläubige Christin und weiß: Gott sieht das Elend. Gott hört die Klage. Sie hat es sich zur Aufgabe gemacht, nicht nur vor Gott zu klagen, sondern auch öffentlich zu machen, was Gott sieht und hört: Elend und Not, Klage und Fragen.
Sie wird ermordet. Bei ihrer Beerdigung werden Trauernde bedroht und angerempelt. Über den Tod hinaus gibt sie Hoffnung weiter: „Schweigt nicht! Berichtet weiter!“ In ihrem Leben und ihren Berichten hat sie Menschen miteinander verbunden. Sie hat öffentlich gemacht, was verborgen war. Dadurch ist etwas gewachsen, was die Besatzungsmacht und auch ihr Mörder nicht verhindern kann.
Kein Happy End für Shireen Abu Akleh. Aber die Hoffnung lebt weiter.

5. Dietrich Bonhoeffer

Er sitzt im Gefängnis. Sein Widerstand gegen die Nazis ist lebens-gefährlich. Er kann nicht anders. Er hält an Gottes Liebe fest. Das Leben ist wichtig. Bonhoeffer hat klare Vorstellungen davon, wie eine Kirche sein soll und welche Aufgaben er als Theologe und Christ hat: Er kritisiert sowohl die Politik als auch konkret die Verfolgung von jüdischem Leben. Er bezieht Stellung und positioniert sich. Damit lebt er gefährlich. Aber er kann nicht schweigen. Er redet und schreibt. Er lehrt und tröstet. Auch aus dem Gefängnis heraus wird er nicht ruhig.
Dietrich Bonhoeffer weiß: Gott sieht das Elend. Gott hört die Klage. Er selbst macht öffentlich, was Gott sieht und hört. Er schreibt von Gottes Liebe und Trost. Sie halten ihn auch in schwerer Zeit. Das versucht er weiterzugeben.
Er wird ermordet. Seine Worte leben weiter. Von guten Mächten wunderbar geborgen ist das Leben trotzdem manchmal verdammt hart!
Kein Happy End für Dietrich Bonhoeffer. Aber seine Trostworte und seine Hoffnungsbilder berühren uns bis heute.

6. Von guten Mächten wunderbar geborgen

Ich sehe viele Menschen, die tagtäglich Schweres aushalten. Nicht nur in den Unrechtsregimen der Welt. Sie glauben an eine bessere Zukunft. Und sie lieben und wissen sich geliebt. Sie spüren: Ich bin gehalten von Gott. Ich bin von guten Mächten wunderbar geborgen. Der Alltag bleibt hart. Anders als im Märchen oder im Wunschtraum kommt keine Fee und kein Gott, der die Verhältnisse ändert. So viele Menschen treten für Gerechtigkeit und Frieden ein – und riskieren damit ihr Leben. Sie bleiben hartnäckig. Die Frauen im Iran, die für ihre Freiheit kämpfen. Sie selbst landen im Gefängnis, aber hoffen für ihre Töchter. Die Mütter in Russland, die für den Frieden beten und protestieren. Sie sorgen sich um ihre Männer und Söhne an der Front, im Krieg.
Von guten Mächten wunderbar geborgen ist das Leben trotzdem manchmal verdammt hart! Aber wir sind von guten Mächten wunderbar geborgen. Das ist manchmal nur sehr schwer zu fühlen und zu glauben. Menschen wie Hagar, Shireen Abu Akleh und Dietrich Bonhoeffer können uns Hoffnung und Trost geben: Sie haben erlebt, dass Gott sie stärkt. Sie haben erlebt, dass auch Sklaverei, Besatzung und Diktatur und Terror Gott nicht vertreiben. Gott bleibt da, an unserer Seite. Das hilft, weiter zu leben und zu hoffen, zu glauben und zu lieben.

Von guten Mächten wunderbar geborgen, erwarten wir getrost, was kommen mag.
Gott ist bei uns am Abend und am Morgen und ganz gewiss an jedem neuen Tag.

Amen.

Vier Fragen zur Predigtvorbereitung an Pfarrerin Elke Markmann

1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Als Vertretungspfarrerin kenne ich die Gemeinde nicht, vor der ich predige. Ich werde diese Predigt einmal in Hamm halten.

2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Ich habe in den Tagen der Vorbereitung eine Fortbildung zum Predigen besucht. Meine Grundidee ist in der Fortbildung entstanden, als wir mit „Ideen“ und „tiny tales“ gearbeitet haben. Ich bin gespannt, ob diese Form der kurzen Erzählungen trägt.

3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
In diesem speziellen Predigttext hat mich die Ambivalenz herausgefordert zwischen Gottvertrauen und der Tatsache, dass Gott die schreckliche Situation nicht ändert, sondern Hagar zurück schickt in die Sklaverei. Ist sie dazu „verdammt“, in dieser Situation zu bleiben? Über dieses „verdammt sein“ habe ich nicht gepredigt. Aber es begleitet mich weiter.

4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Aus den tiny tales sind ausführlichere Erzählungen geworden. Aus dem verdammt-sein ist die Osterbotschaft kaum gehört worden. Nun ist sie hörbarer, hoffe ich.

Perikope
14.04.2024
16,1-16

Was Gott dir zutraut - Predigt zu Gen 13,1-18 von Christiane Quincke

Was Gott dir zutraut - Predigt zu Gen 13,1-18 von Christiane Quincke
13,1-18

Sich erinnern

So zog Abram herauf aus Ägypten mit seiner Frau und mit allem, was er hatte, und Lot mit ihm ins Südland. Abram aber war sehr reich an Vieh, Silber und Gold. Und er zog immer weiter vom Südland bis nach Bethel, an die Stätte, wo zuerst sein Zelt war, zwischen Bethel und Ai, eben an den Ort, wo er früher den Altar errichtet hatte. Dort rief er den Namen des Herrn an.

Hattest du deine Verheißung vergessen, Abram?
Die Verheißung, die du bekommen hast, als du von deiner Heimat losgezogen bist. Und dann warst du endlich angekommen, so schien es. In Bethel und Ai im Land Kanaan. Hast dort einen Altar errichtet.
Brich auf, hatte dir Gott vorher gesagt. Brich auf und lass alles hinter dir.
Aber so ganz hast du dich ja nicht daran gehalten. Dein soziales Netzwerk solltest du verlassen, aber du hast dann nicht nur deine Frau mitgenommen, sondern auch Lot, deinen Neffen – und damit euer Vieh und euer Personal. Hast du den Verheißungen Gottes nicht ganz vertraut? Oder warst du einfach pragmatisch?
Aber dann kam die Hungersnot im verheißenen Land. Und ihr seid nach Ägypten gezogen. Wieder alle zusammen. Und dann doch nicht. Denn Sarai, deine Frau, hast du als Schwester ausgegeben und damit dem Pharao überlassen. Der Trick flog auf und es hätte nicht viel gefehlt, und der Pharao hätte euch zum Teufel gejagt. Aber auch hier hast du der Verheißung Gottes nicht wirklich vertraut, oder?
In dir sollen gesegnet sein alle Völker – das rief dir Gott zu.
Aber du? Segensreich warst du für den Pharao jedenfalls nicht. Gott schickte ihm Plagen auf den Hals, weil du ausgerechnet Sarai aufs Spiel gesetzt hast. 
Hast du dich nun an die Verheißungen erinnert? Reich bist du geworden, Abram. Es geht dir gut in Ägypten. Und doch verlässt du es wieder.
So wie viele auch heute ihr Land verlassen müssen und eine neue Heimat suchen. Und nicht immer verstehen wir, warum das so ist. Die Bibel, die deine Geschichte erzählt, scheint das nicht beurteilen zu wollen. Aber sie weiß, dass es immer wieder passiert: Menschen brechen auf und suchen sich eine neue Heimat – mit und ohne Verheißung. Sie suchen einen Ort, wo sie sicher sein können und genug zu essen haben, wo sie Freunde und Verbündete finden, wo sie eine Zukunft haben.

Streiten

Lot aber, der mit Abram zog, hatte auch Schafe und Rinder und Zelte. Und das Land konnte es nicht ertragen, dass sie beieinander wohnten; denn ihre Habe war groß und sie konnten nicht beieinander wohnen. Und es war immer Zank zwischen den Hirten von Abrams Vieh und den Hirten von Lots Vieh. Es wohnten auch zu der Zeit die Kanaaniter und Perisiter im Lande.

Manche sagen, du hättest einfach auf Gott hören sollen, Abram. Dann wäre dir das nicht passiert. Hättest du Lot und seine Sippe nicht mitgenommen, gäbe es keinen Streit.
Ich finde das zu einfach. Und ich erkenne in eurer Geschichte die uralte Menschheitsgeschichte: Kain und Abel, Jakob und Esau, Josef und seine Brüder, Babylonier und Perser und Ägypter. Auch heute der immer gleiche Kampf um Ressourcen, die wir zum Überleben brauchen: Wasser, Getreide, Öl, Gas.
Fassungslos sehe ich, was in Israel geschehen ist. Voller Trauer sehe ich die weinenden Gesichter von israelischen und palästinensischen Frauen. Sie sind die ersten Opfer wie einst Sara und Hagar, die du gegeneinander ausgespielt hast.
Ja, der Nahe Osten – Geschwistervölker wie einst Abram und Lot – so erzählt es die Bibel: miteinander verbunden und doch prallen sie jahrtausendelang aufeinander. Blut und Tränen, Hass und Gewalt, Neid und Angst – und das Ganze unter einem Sternenhimmel, der doch mal was ganz anderes versprochen hat: Du sollst ein Segen sein…

Trennung

Da sprach Abram zu Lot: Es soll kein Zank sein zwischen mir und dir und zwischen meinen und deinen Hirten; denn wir sind Brüder. Steht dir nicht alles Land offen? Trenne dich doch von mir! Willst du zur Linken, so will ich zur Rechten, oder willst du zur Rechten, so will ich zur Linken.
Da hob Lot seine Augen auf und sah die ganze Gegend am Jordan, dass sie wasserreich war. Denn bevor der Herr Sodom und Gomorra vernichtete, war sie bis nach Zoar hin wie der Garten des Herrn, gleichwie Ägyptenland.
Da erwählte sich Lot die ganze Gegend am Jordan und zog nach Osten. Also trennte sich ein Bruder von dem andern, sodass Abram wohnte im Lande Kanaan und Lot in den Städten jener Gegend. Und Lot zog mit seinen Zelten bis nach Sodom.
Aber die Leute zu Sodom waren böse und sündigten sehr wider den Herrn.

Manchmal gibt es sie: die guten Lösungen. Manchmal ist die Trennung das Beste für alle Beteiligten. Du bist besonders großzügig, Abram, und lässt Lot die freie Wahl. Ein Angebot auf Augenhöhe, obwohl du der Ältere bist. Und vielleicht ist das sogar das Entscheidende: du nutzt deine Macht nicht aus. Du lässt ihm die Wahl und akzeptierst seine Entscheidung, egal welche er trifft. Damit Frieden wird.
Ja, eure Trennung ist wirklich freundschaftlich. Euer Tischtuch ist nicht zerschnitten. Ihr habt klar benannt, wo die Probleme liegen und eine Lösung für alle gefunden. Jede Mediatorin wäre stolz auf euch. Eine Trennung auf Augenhöhe. Eine Trennung im Respekt. Leider gelingt das eher selten.
Dein Neffe nimmt das reich bewässerte grüne Jordantal. Damit trifft er die falsche Entscheidung, wie sich später herausstellt. Sodom wird seiner Familie zum Verhängnis. Die Wahl nach dem Augenschein ist offenbar nicht immer die beste.
Aber entscheidend ist: Ihr bleibt verbunden – auch nach der Trennung.
Du, Abram, setzt dich für Lot ein: befreist ihn aus der Gefangenschaft und verhandelst sogar mit Gott, damit er gerettet wird. Du lässt nicht locker, bis Gott klein beigibt. Du bist sehr geschickt beim Verhandeln. Das hast du schon öfter gezeigt. Und diesmal liegt darauf der Segen.

Verheißen

Als nun Lot sich von Abram getrennt hatte, sprach der Herr zu Abram: Hebe deine Augen auf und sieh von der Stätte aus, wo du bist, nach Norden, nach Süden, nach Osten und nach Westen. Denn all das Land, das du siehst, will ich dir geben und deinen Nachkommen ewiglich. Und ich will deine Nachkommen machen wie den Staub auf Erden. Kann ein Mensch den Staub auf Erden zählen, der wird auch deine Nachkommen zählen. Darum mach dich auf und durchzieh das Land in die Länge und Breite, denn dir will ich’s geben.
Und Abram zog weiter mit seinem Zelt und kam und wohnte im Hain Mamre, der bei Hebron ist, und baute dort dem Herrn einen Altar.

Ja, du hattest deine Verheißung kurz vergessen, Abram.
Hattest vergessen, was Gott dir zutraut. Dass du ein Segen bist für alle.
So wie ich zu oft vergesse, dass ich Gottes Kind bin. Salz für die Erde, Licht für die Welt. Ich verliere Gottes Versprechen, weil ich mich zu klein und zu unbedeutend fühle oder weil die Ohnmacht zu stark ist oder meine Ratlosigkeit.

Aber darum bin ich froh, dass die Bibel von dir erzählt.
Du, der Erzvater von uns jüdischen, muslimischen und christlichen Geschwistern, du bist alles andere als perfekt. Aber dann erinnerst du dich. Und auch Gott lässt nicht locker und wiederholt seine Verheißungen - an dich und deine Familie. An Hagar und Sara auch. Und ja, auch an mich.
Und gemeinsam ziehen wir weiter mit Gott und den Erinnerungen an die Geschichten, die er mit uns schreibt. Wir ziehen weiter durch das Leben, über diese Erde, kommen zusammen, essen und trinken, wachsen mit unseren Kindern und pflegen die, die nicht mehr können. Wir streiten und versöhnen uns, trennen uns und ziehen weiter.
Und manchmal schaffen wir es sogar, dass Frieden werden kann. Dass wir uns auf Augenhöhe begegnen und gute Lösungen finden.
Viel zu selten geschieht es. Rabin und Arafat waren mal kurz davor. Und wir haben es hier erlebt: dass wir Christinnen und Muslime, Jesiden und Jüdinnen zusammen in der Synagoge waren – das sind kleine Lichtpunkte, goldene Momente, die durch die Risse zwischen uns leuchten. Ja, da lag Segen drauf.

Manchmal vergessen wir die Verheißung vom großen Schalom. Manchmal vergessen wir, dass Gott uns zutraut, ein Segen zu sein.

Doch momentan sieht es überhaupt nicht nach Frieden aus. Und darum bleibt mir nichts anderes übrig, als mich von dir an diese Verheißung erinnern zu lassen, Abram. Und ich klammere mich an ihr fest mit allem, was ich habe und was ich nicht bin.
Dass der große Schalom bleibt und da ist und vom Sternenhimmel leuchtet – das hoffe ich. Mit dir, Abram. Und mit allen, die darum beten.

Amen.

Vier Fragen zur Predigtvorbereitung an Christiane Quincke

1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?

Der brutale Überfall der Hamas auf Zivilist*innen liegt zum Zeitpunkt des Entwurfs gerade 2 Wochen zurück. Das Thema „Krieg“ und „Streit“ liegt aus meiner Sicht obenauf. Und ausgerechnet in diese Situation spricht nun ein Text, der von Streit und einer einvernehmlichen Lösung spricht, die nicht ohne weiteres übertragbar ist, aber doch sofort Assoziationen weckt.

2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?

„Beflügelt“ ist in diesem Fall ein zu starkes Wort, denn gerade wegen der starken Parallelität zu derzeitigen Ereignissen habe ich mich eher schwer getan. Irgendwann tauchte dann die Idee auf, dass ich ja mit Abram sprechen könnte und damit in einen Dialog trete, der mich vor allzu allgemeinen „Wahrheiten“ bewahrt.

3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?

Ich entdeckte, dass die Verheißung an Abram als Rahmenhandlung für diese Trennungsgeschichte entscheidend ist – auch in der Art und Weise, wie er mit dieser Verheißung umgeht. Darum komme ich auch immer wieder auf sie zurück.

4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?

Leider fehlte mir das direkte Coaching. So waren es im Wesentlichen meine eigenen Fragen: Halte ich aus, dass es keine perfekte Lösung gibt? Bin ich achtsam genug? Und welche Botschaft gebe ich mit? Dass der Schalom auch dann gilt, wenn er durch die Realität radikal in Frage gestellt wird, und wenn man ihn gerade nur erbitten kann – das ist mir wichtig geworden.

Perikope
29.10.2023
13,1-18

Sternstunde des Glaubens - Predigt zu 1. Mose 15,1-6 von Anne-Kathrin Kruse

Sternstunde des Glaubens - Predigt zu 1. Mose 15,1-6 von Anne-Kathrin Kruse
15,1-6

1Nach diesen Ereignissen kam das Wort des Herrn in einer Vision zu Abram: »Fürchte dich nicht, Abram! Ich selbst bin dein Schild. Du wirst reich belohnt werden.«2Abram erwiderte: »Herr, mein Gott! Welchen Lohn willst du mir geben? Ich werde kinderlos sterben, und Elieser aus Damaskus wird mein Haus erben.«3Weiter sagte Abram: »Sieh, du hast mir keinen Nachkommen gegeben, sieh doch, deshalb wird mich mein Verwalter beerben.«4Da kam das Wort des Herrn zu Abram: »Nicht Elieser wird dich beerben, sondern dein leiblicher Sohn wird dein Erbe sein.«5Dann führte er Abram nach draußen und sagte: »Betrachte den Himmel und zähle die Sterne –wenn du sie zählen kannst!« Er fügte hinzu: »So zahlreich werden deine Nachkommen sein.«6Abram glaubte an den Ewigen, und das rechnete ihm Gott als Gerechtigkeit an.
(Übersetzung: Basis Bibel)
 

Worüber man nicht spricht

„Ach, Sie haben keine Kinder?“ fragt ein älteres Ehepaar,
das Tim und Anna im Urlaub treffen. „Nein“, erwidert Anna.
Und ahnt schon, was jetzt kommt.
Der mitleidige Blick, weil einem ohne Kindersegen
das „eigentliche“ Leben angeblich verwehrt bleibt.
Die Vorwurfshaltung,
die jedem kinderlosen Paar oberflächlichen Egoismus unterstellt:
Statt Verantwortung zu übernehmen, ginge es nur um die eigene Karriere.
Und immer wieder die gespielt harmlosen Nachfragen der Verwandtschaft.
So kennen es Anna und Tim –
und haben keine Lust mehr, darauf zu antworten.
Zu sehr schmerzt die immer wieder enttäuschte Hoffnung.
Als hätten sie versagt,
als sei es das Einfachste auf der Welt, Eltern zu werden.
Liebe nach Fahrplan,
Medikamente, die den Hormonhaushalt durcheinanderbringen.
In-Vitro-Fertilisation als letzte Hoffnung, die oft genug scheitert.
All das lastet auf ihrer Liebe.
Und doch wollen sie noch nicht aufgeben.
Ein letzter kleiner Funke Hoffnung ist noch da.

Verdunkelte Hoffnung

Auch Abram und Sara waren kinderlos.
Lech l‘cha!, war das erste Wort Gottes an Abram.
„Geh hinaus aus deiner Heimat, deiner Familie.“
Gott hatte sie gesegnet und ihnen Wohlstand,
Land und eine große Kinderschar versprochen.
Ja, ein ganzes Volk soll aus ihnen beiden hervorgehen.
Tatsächlich ist aus dem Flüchtling Abram ein wohlhabender Mann geworden.
Aber was nützt ihm all der Reichtum, wenn die Kinder ausbleiben?
Mit leeren Händen steht er da.
Zu alt, um noch auf Kinder zu hoffen.
Verzweifelt und in Sorge.
Womöglich sind sie nicht nur die erste,
sondern auch die letzte Generation im Land,
das Gott ihnen versprochen hat.
Dabei haben sie alles getan für das lang ersehnte Kind:
Elieser, den Verwalter, adoptiert,
damit das Erbe wenigstens gesichert ist,
wenn sie einmal nicht mehr sind.
Aber er ist eben nicht ihr eigenes – wie Gott es versprochen hat.
Sogar eine Leihmutter haben sie engagiert.
Hagar, die Sklavin von Sara, muss Ismael, den Sohn von Abram, zur Welt bringen.
Keine gute Idee, vor allem für die beiden Frauen nicht.
Hagar führt sich wie die neue Lieblingsfrau von Abram auf.
Die verletzte Sara lässt sie dafür von Abram buchstäblich in die Wüste schicken.
Dort wäre sie mit ihrem kleinen Sohn umgekommen -
wenn Gott nicht eingegriffen hätte.
Du bist ein Gott, der mich sieht.“ (Gen 16,13) bekennt sie dankbar.

Aber Gott sieht offenbar nicht die Not Abrams.
Zweimal bittet der ihn: „Schau doch hin!
Sieh dir doch mit eigenen Augen an,
dass wir womöglich niemals Kinder bekommen werden!“
Niemals.
Ein schreckliches Wort. Endgültig wie der „Tod“.
Tod ist ewiges „Niemals“.
Fegt alle Hoffnung vom Tisch.

Fürchte dich nicht – sorge dich nicht!

„Fürchte dich nicht!
Lech l‘cha
! Geh hinaus aus allem, was dich festhält.
Aus deiner Angst, deiner Sorge.“
So ein Aufbruch fällt schwer.
Ich weiß nicht, was kommt.
Die Sorge bleibt, denn sie ist wirklich und sie ist berechtigt.
Hitze, Dürre und verheerende Waldbrände bedrohen uns,
Starkregen und tödliche Überschwemmungen,
im Meer versinkende Inseln -
wie sieht da die Zukunft unserer Kinder und Enkel aus?
Können wir überhaupt noch verantworten, Kinder in diese Welt zu setzen?
Die Welt fährt Achterbahn – und niemand stoppt sie.
„Wach auf, geh hinaus aus der lähmenden Selbsttäuschung,
alles könnte so bleiben, wie es ist.
Geh von dir weg, um zu dir zu kommen!
Ich nehme deine Sorge ernst.
Ja, ich teile sie.
Aber fürchte dich nicht, hab keine Angst, ich lass dich nicht allein.“

Unterm Sternenzelt

Und dann nimmt Gott Abram behutsam an der Hand.
Wie ein Freund, Seite an Seite.
Führt ihn ins Freie.
Hebt ihm die Augen auf.
Und zeigt ihm den nächtlichen Sternenhimmel.
„Betrachte den Himmel und zähle die Sterne –wenn du sie zählen kannst!
Abram schaut versunken nach oben.
Sternlein zählen – unmöglich!
Gott allein kann es, der höher ist als all meine Vernunft.
Kennt sie mit Namen. Übersieht kein einziges.
Schließlich flüstert ihm Gott ins Ohr:
So zahlreich werden deine Nachkommen sein.“
Das Bett in meinem Kinderzimmer stand genau unter einem Dachfenster.
Zum Einschlafen konnte ich den unendlichen Sternenhimmel sehen.
Überdacht von einer grandiosen Welt.
Unter diesem blauen Sternenzelt habe ich beten gelernt.
Das Bild vom Sternenzelt – es wird Abram für immer leuchtend vor Augen stehen.
So unendlich unzählig und unfassbar viele Funken der Hoffnung!
Zum Sternenhimmel aufsehen, heißt Gott ansehen, der über allem thront.

Gott an meiner Seite

Woher nimmt Abram den Mut, aus seiner Sorge aufzubrechen
und sich Gott erneut anzuvertrauen?
Er stellt ihm keine Bedingungen.
Hat keine Erwartungen mehr an ihn.
Es heißt: „Er glaubte an den Ewigen.“
Er vertraut sich ihm mit Haut und Haaren an.
So wie Gott ihn an der Hand nimmt und ins Freie führt,
so wird er wie ein Freund an seiner Seite bleiben, was immer da kommen mag.
„Lech l‘cha, geh, sieh von deiner Angst ab, denn ich sorge für dich.“
Ob Gott ihm jemals einen Sohn schenken wird,
bleibt offen und ist nicht mehr entscheidend für sein Leben.
Abram: „Ich danke dir, ich gebe mich in deine Hand.
Mit dir wird es ein guter Weg.
Und ich will ihn mit dir gehen.“
Gott: „Das werde ich dir nicht vergessen.“
Gott lässt keinen guten Willen ohne Dank.

Es mag sein, dass Tim und Anna kein leibliches Kind bekommen werden.
Sehnsucht wird nicht immer erfüllt.
Das gehört zu der bitteren Wahrheit unseres Lebens jenseits von Eden.
Abschied zu nehmen von dem Wunsch,
ein Kind zu bekommen und aufwachsen zu sehen,
– dazu braucht es Zeit zu trauern.
Und liebe Menschen auf diesem Weg.
Auch Gott kann so ein Begleiter sein.
Auf dem Weg dahin, dass es andere „Kinder“ im Leben gibt,
die wir hinterlassen.
Die unser Leben reich machen
in der Liebe, die wir weitergeben.
Die das weiterführen, was wir angefangen haben.
Den Garten pflegen, die Früchte von den Bäumen ernten,
die wir einmal gepflanzt haben.
Die sich dafür einsetzen, dass diese Welt nicht vor die Hunde geht.
Ganz viele Funken Hoffnung, die das Leben lieben – auch ohne ein leibliches Kind.

Gerechtigkeit liebt das Leben

„Abram glaubte an den Ewigen, und das rechnete ihm Gott als Gerechtigkeit an.“
Gerechtigkeit heißt, nach Gottes gutem und gerechten Willen leben.
Gerechtigkeit will nicht mit sich allein bleiben.
Sie liebt die, die aufbrechen und tun, was in ihrer Kraft steht.
Sie liebt das Leben und das Lachen.
Als Sara und Abram erfahren, dass sie tatsächlich ein Kind bekommen,
da können sie nicht anders, als von Herzen laut zu lachen.
Unvorstellbar, was Gott da verspricht!
Aber ihr Lachen öffnet sich auch für das , was sie für unmöglich halten.
Für eine Heiterkeit, die den Ernst der Welt nicht leugnet – und doch verwandelt.
So wird auch ihr Kind heißen: „Isaak – der Lachende!“
Lachen ist das Kind des Gottvertrauens.
Lachen, dass einem die Tränen kommen.
Strahlende Gesichter.
Von unzähligen Funken der Hoffnung beschienen.
Von Sorge befreit.

Amen.

Vier Fragen zur Predigtvorbereitung an Anne-Kathrin Kruse

1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
In meinem näheren und weiteren Umfeld erlebe ich immer mehr Frauen und Männer, die ungewollt kinderlos bleiben. Ich erlebe ihr Leiden und wie dieses Problem gesellschaftlich tabuisiert wird. Im Alten wie im Neuen Testament hingegen zieht es sich durch und gehört als schmerzliche Erfahrung zum Leben. Zu der Frage, wie es nach mir weitergeht und was ich hinterlasse, gehören für mich auch die Unwetter, die viele Urlauber in den Sommerferien hautnah miterlebt haben und sich deshalb Sorgen machen. Im Kontext des Wochenspruchs möchte diese Sorge ernstnehmen.

2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Beflügelt hat mich das Sternenzelt und die sehr basale Erinnerung an die Gebetserfahrung in der Kindheit. Und das Lachen Abrams (Gen 17,17) und Saras (Gen 18,12f), das ich im Anschluss an G. Strenger (G. Strenger, Jüdische Spiritualität, 49f) nicht nur als Ausdruck der Skepsis verstehe, sondern auch als Öffnung zu ungeahnten Möglichkeiten.

3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Spannend bleibt für mich das biblische Verständnis von Gerechtigkeit, das immer sozial gedacht ist in der Beziehung zwischen Mensch und Gott wie zwischenmenschlich. Das darüber hinaus integraler Bestandteil von Glauben und Handeln ist und hier mitnichten einen christlich konstruierten Gegensatz darstellt.

Perikope
17.09.2023
15,1-6

gekämpft – gezeichnet – gesegnet | Predigt zu 1. Mose 32,23-32 von Anne-Kathrin Kruse

gekämpft – gezeichnet – gesegnet | Predigt zu 1. Mose 32,23-32 von Anne-Kathrin Kruse
32,23-32

Im Gedenken an Dorothee Sölle, der großen Kämpferin, zum 20. Todestag am 27.4.2023

(Lesung der Perikope im Gottesdienst)

Im Dunkel der Nacht

Tief ist die Schlucht des Jabbok, finster und einsam die Nacht.
Der Fluss durchschneidet die jordanischen Berge und fließt in den Jordan.
An der Wasserscheide, wo sich Jakobs Zukunft entscheiden soll,
kauert er sich in der Dunkelheit zusammen.
Wartet auf den Morgen.
Nichts regt sich.
Nur das Rauschen des Flusses ist zu hören.
Was tut Jakob?
Liegt er auf der Lauer
und bohrt seine Augen in die Finsternis?
Er denkt nach, lässt sein Leben vor seinem inneren Auge vorüberziehen.

Schon als Kind hat er mit seinem älteren Zwillingsbruder Esau konkurriert,
schon im Mutterleib ging das los.
Als „Mamas Liebling“ hat er seinen Vater Isaak betrogen
und Esau als Erstgeborenen den väterlichen Segen
und damit das väterliche Erbe abgeluchst.

Zwanzig lange Jahre sind seitdem vergangen.
Wirtschaftlich hat er es zu Wohlstand gebracht.
Aber seine familiären Beziehungen sind kaputt.
Seitdem ist er auf der Flucht vor dem Zorn von Esau,
der ihm nach dem Leben trachtet.
Zwanzig Jahre zwischen Betrug und der Hoffnung auf Versöhnung.
Zwanzig Jahre und eine Nacht voller Angst und verzweifeltem Mut.
Müde ist er geworden.
Nach Hause will er, ins Land seiner Väter.
Und reinen Tisch machen.

Mir kommt das alles sehr bekannt vor – dieses krumme Leben von Jakob.
Und Ihnen vielleicht auch!
Diese Brüche im Leben, bei denen wir Flüsse durchqueren müssen,
die Rivalitäten mit den Geschwistern, wer das Lieblingskind der Eltern sei,
Kämpfe mit den Eltern.
Und die Sehnsucht, mit all dem Frieden machen zu können – wie Jakob.
Damit aus dem Geschwisterkonflikt kein Geschwisterkrieg wird.
Jakob hat sich gut vorbereitet, nichts dem Zufall überlassen.
Hat sich Worte zurechtgelegt. Geschenke vorbereitet.
Hat in der Dämmerung eine Furt durch den Jabbok gefunden
und sie alle, die Frauen, die Kinder und das Vieh, sicher hinübergebracht.
Ist wieder zurück in die Einsamkeit.

Nur diese eine Nacht noch

Nur diese eine Nacht noch, Jakob, dann wirst du wissen,
ob Esau dir mit seinen 400 Mann und seinem Schwert
oder mit offenen Armen entgegeneilt.
Bis dahin bleibt dir nichts als Warten, einsam, schutzlos und voller Angst.
Und beten (1. Mose 32,11-13): Ich bin zu gering.
Flehen und ringen mit Gott: Errette mich von der Hand meines Bruders…
denn ich fürchte mich vor ihm!

Ihn an seine Verheißungen erinnern: Du hast gesagt; Ich will dir wohltun…
Mit allem hast du gerechnet in dieser Nacht, Jakob –
nur mit diesem einen nicht.
Einem unberechenbaren Unbekannten,
der dich plötzlich aus dem Dunkel hinterrücks überfällt.

Kampf um Leben und Tod

Zwei Männer ringen miteinander, stöhnend, keuchend verhaken sie sich,
drücken sich die Luft ab, zerren an Armen und Beinen,
rammen die Fäuste in die empfindlichen Stellen,
um den anderen kampfunfähig zu machen.
Kämpfen schweißnass und mit offenen Wunden
die ganze Nacht, auf Leben und Tod
bis zur totalen Erschöpfung.
Schließlich kugelt der Unbekannte Jakob brutal und schmerzhaft das Hüftgelenk aus,
sodass er von nun an durchs Leben hinkt.

Der hinterhältige Überfall erinnert mich an Klaus,
von dem ich unendlich viel Wertvolles gelernt habe.
Klaus, das Energiebündel!
Und eine Kämpfernatur.
Ein Leben lang hat er mit Gott und den Menschen gekämpft –
und strotzte dabei nur so vor Lebensfreude.
Aber dann wurde er überfallen, aus dem Dunkel hinterrücks,
von einer Krebserkrankung.
Ein Angriff auf Leben und Tod mit unerträglichen Schmerzen
eine Bedrohung, die einem die Luft abdrückt und die letzten Kräfte raubt.
Aber Klaus ist nicht ausgewichen.
Gekämpft hat er – bis zuletzt.

Der Unbekannte

Aber mit wem?
Wer ist der große Unbekannte, den Klaus nicht einfach gelassen hat?
Ein nächtlicher Besucher, ein lichtscheuer Dämon, ein Engel?
Gar der Satan? Oder Gott?
Wer überfällt und wer segnet?
Und ist es überhaupt denkbar,
dass er dem über ihn hereinstürzenden Unglück so standhält,
ihm so viel Liebe zum Leben entgegensetzen kann, dass es sich verwandelt?

So viele Fragen, die ohne Antwort bleiben.
„Denen, die Gott lieben“, schreibt Paulus,
„müssen alle Dinge zum Besten dienen.“ (Röm 8,28)
Wirklich alles? Auch die Krankheit, auch die Vernichtung?
Jakob muss so etwas geglaubt haben.
Sonst hätte er nicht diese Stärke haben können,
mit all seiner Macht dem Unbekannten standzuhalten.
Als die Morgenröte anbricht, ist Jakob nicht einfach froh,
diesen Dämon loszuwerden
und trotz verrenkter Hüfte gerade noch davonzukommen.
Er atmet nicht einfach erleichtert auf
und lässt diesen Ungeist ziehen.
Jakob will mehr.
Wenn dieser Ungeist Gott ist, dann will er ihn anders haben.
Denn: Jakob liebt Gott!
Er sagt nicht: So ist das da eben mit diesem Gott, den kannst du vergessen!
Er ringt mit ihm, bedrängt ihn, dass er nicht nur seine dunkle Seite zeigt,
sondern sein barmherziges liebendes Angesicht.
„Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn.“
Und Gott segnet und rettet ihn – vor dem Zorn seines Bruders Esau:
Als dieser seinen Bruder sieht, wie der ihm mühsam und schutzlos entgegenhinkt,
packt ihn das Erbarmen und sie fallen sich weinend in die Arme.
Jakobs Schwäche rettet ihm das Leben.

Leider funktioniert das nicht immer:
Die Schwäche der Ukraine gegenüber einer Großmacht wie Russland
macht sie nur umso begehrlicher.
Ohne die Völkergemeinschaft wäre sie längst verloren.
Trotz aller Konfliktforschung und Friedenspädagogik
erleben wir unser Scheitern.

Wer ist der Gott Jakobs, der Gott Israels?
Wer überfällt und wer segnet?
Die Antwort liegt in dem Ringen, das wir Beten nennen.
Mit Gott ringen, damit Gott Gott ist – das ist eine Antwort auf die Frage.
Beten heißt:
mit dem dunklen Gott um das Leben eines geliebten Menschen ringen.
Gott das Leiden der Menschen in der Ukraine vorhalten.
Ihn an die erinnern,
die nach den Erdbeben in der Türkei und in Syrien alles verloren haben
und allen Grund haben, sich von Gott und den Menschen verlassen zu fühlen.
Je mehr wir lieben, desto mehr beten wir – und kommen ins Tun.
Beten und kämpfen gehören zusammen.
Uns Gott in den Weg stellen und ihn festhalten:
„Sag, dass du Liebe bist und nicht Terror“! (D. Sölle, s. Anm. unten S.81)

Gott von Angesicht zu Angesicht

Dieser eigentümliche Gott Jakobs und Israels –
er ist kein anderer als der Gott Jesu, eines Sohnes Israels.
Kein anderer als der Vater Jesu Christi,
der all das selbst durchkämpft und durchlitten hat,
was Jakob zu kämpfen und zu leiden hatte.

Tief ist die Schlucht des Jabbok, finster und einsam die Nacht.
Klaus hat gekämpft.
Damit Gott Gott ist und sein wahres Gesicht zeigt.
Hat mit Gott gerungen und ihn nicht losgelassen.
Und ist gestorben.
Jakobs Kampf am Jabbok war seine Lieblings- und Lebensgeschichte.
Sein Beerdigungsspruch stand lange fest
und hat ihn auch im Sterben nicht verlassen.
Als er an Pnuel vorüberkam, da ging ihm die Sonne auf.
Pnuel heißt „Angesicht Gottes“.
Als Klaus an Pnuel vorüberkam, da hat er Gott gesehen –
von Angesicht zu Angesicht,
im gleißendem Licht der Sonne.

Von Gott gezeichnet, verwundet, errettet, gesegnet.
Unsere Namen in seine Hand geschrieben.
Wir dürfen ihn sehen –
von Angesicht zu Angesicht.
Quasi wie neugeboren.
Amen.
 

Gebet

Jede von uns hat einen engel
lass uns ihn erkennen
auch wenn er als blutgieriger dämon kommt
jeder von uns hat einen engel
der auf uns wartet
lass uns nicht vorbeirasen am jabbok
und die Furt versäumen

Auf uns wartet ein engel

Jeder von uns kämpft mit gott
lass uns dazu stehen
auch wenn wir geschlagen werden
und verrenkt
jede von uns kämpft um gott
der darauf wartet
gebraucht zu werden

Auf uns wartet ein kampf

Jeder von uns wird gesegnet
lass uns daran glauben
auch wenn wir aufgeben wollen
gib uns die Dreistigkeit mehr zu verlangen
mach uns hungrig nach dir
lehr uns beten: ich lass dich nicht
das kann doch nicht alles sein

Auf uns wartet ein segen

Jeder von uns hat einen geheimen namen
er ist in gottes hände geschrieben
die uns lieben lesen ihn
eines Tages wird man uns nennen
land der Versöhnung
bank die ihren Schuldnern vergibt
brunnenbauerin in der wüste

Auf uns wartet gottes name

Aus: Zum Gedenken an Dorothee Sölle, Hrsg. Wolfgang Grünberg und Wolfram Weifle
(Hamburger Universitätsreden Neue Folge 8. Hrsg: Der Präsident der Universität Hamburg S. 82f
PDF-Ansicht der Datei HamburgUP_HUR08_Soelle_Kampf.pdf (uni-hamburg.de) Abgerufen am 13.3.2023

Vier Fragen zur Predigtvorbereitung an Anne-Kathrin Kruse

1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Mit der neuen Perikopenordnung ist Gen 32 in den Osterfestkreis gelangt und fordert damit die Frage heraus, wie christologisch dieser Text gepredigt werden kann und darf. Voller dunkler Rätsel wirft er Fragen nach Gott auf, auf die es keine leichtfertigen Antworten gibt. Immerhin gibt er Anhaltspunkte für Jesu Ringen mit Gott, dafür, wie leiblich-körperlich Auferstehung gedacht werden kann, und dass Ostern alles andere ist als ein Happy End.

2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Das Gedenken an Kämpfernaturen wie Dorothee Sölle und Klaus hat mich dahin geführt, den Kampf mit dem eigenen Gottesbild im Gebet ins Zentrum zu stellen. Gegen die Tendenz, die dunklen Seiten Gottes auszublenden, erklärt Gen 32 alle einfachen Erklärungen für obsolet und nimmt damit Menschen in der Krise ernst. Damit sehe ich den Überfall weder als vorhersehbare Strafe für Jakobs Vergehen, noch als ausschließlich psychisches Geschehen. Inspiriert hat mich die Predigt D. Sölles zum Text (s. Anm.)

3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Häufig sind aggressive Stellen in biblischen Texten nicht nur abstoßend, sondern auch besonders interessant, weil sie Aufschluss geben über Verdrängtes.
Reizvoll wäre auch, entsprechend der jüdischen Auslegung zu Jakob und Esau als Israel und die Völker zu predigen.

4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Besonders wertvoll war – neben klugen Hinweisen auf mögliche Straffungen –, die Wahrnehmung des Textes durch das Coaching abzugleichen – auch wenn es bei dieser Komplexität des Textes durchaus auch zu unterschiedlichen Einschätzungen kommt.

Perikope
16.04.2023
32,23-32

Wohlan denn, Herz, nimm Abschied und gesunde! - Predigt zu 1. Mose 1-4a von Henning Kiene

Wohlan denn, Herz, nimm Abschied und gesunde! - Predigt zu 1. Mose 1-4a von Henning Kiene
1-4a

Der Herr sprach zu Abram: Geh aus deinem Vaterland und von deiner Verwandtschaft und aus deines Vaters Hause in ein Land, das ich dir zeigen will. Und ich will dich zum großen Volk machen und will dich segnen und dir einen großen Namen machen, und du sollst ein Segen sein. Ich will segnen, die dich segnen, und verfluchen, die dich verfluchen; und in dir sollen gesegnet werden alle Geschlechter auf Erden. Da zog Abram aus, wie der Herr zu ihm gesagt hatte, und Lot zog mit ihm. 1. Mose 12,1–4a

Den Geruch meiner Kindheit habe ich in der Nase. Das Scheuerpulver roch scharf nach Chlor, die Oma nach 4711 und das Schwimmbad nach Kokosnussöl. Wenn die Haustür zuschlug, klapperte das lose Schloss und auf der Straße nagelte der Dieselmotor in einem LKW. Als ich zuhause ausziehen wollte, hatte ich Angst vor den Tränen meiner Mutter und den traurigen Augen meines Vaters. Ich ging, als beide nicht da waren, das hatten wir verabredet. Ein letztes Mal machte ich die Runde durch die Wohnung. Das Scheuerpulver, die Flasche 4711, das Schwimmbad um die Straßenecke werden nun Vergangenheit sein. Beim Zuschlagen der Haustür waren die Augen schwer. Es wird alles gut werden, aber auch schwer sein. In der Magengrube aber spürte ich ein leises Ziehen, es mischte sich als wohliger Kitzel in den Abschied, ich spürte eine kaum zu bremsende Zuversicht. Die Lust auf Zukunft wurde stärker als die Fäden, die mich an Vergangenem festhalten wollten. Es war wie eine unbekannte Kraft, die mich sanft, aber energisch in die Zukunft schob.

Alles was ich für das neue Leben brauchte, trug ich in einem Koffer und der alten Reisetasche. Auch das Büchlein mit dem Gedicht von Hermann Hesse war dabei:

„Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne,
Der uns beschützt und der uns hilft, zu leben.“

Aufbruch geht, wenn einem eine Verheißung Antrieb gibt, die verspricht Segen und lässt schon im Aufbruch ein Gelingen ahnen. Selbst die Untiefen des Lebens, selbst die Umbrüche, die wie eine Ahnung den Aufbruch begleiten, bremsen nicht. Verheißung gehört in das Lebensgepäck, wie bei Abraham und Lot, die von Ur aufbrechen. Sie verließen die quirlige Metropole im Zweistromland und waren sich der Verheißung Gottes sicher. „Ade, Vaterland, lebe wohl Verwandtschaft“, vielleicht haben auch Abraham und Lot noch einmal zurückgeblickt und gewunken, vielleicht flossen Tränen. Ich bin mir sicher, die Gerüche und Geräusche der Stadt Ur trugen beide mit, aber die Verheißung war stärker. Es ist wie im Evangelium, das wir gehört haben. Die Aufforderung Jesu überwindet die Trägheit, die sich einstellte. Die verzagenden Fischer hören: „Fahre hinaus, wo es tief ist, und werft eure Netze zum Fang aus!“ Sie wurden nicht enttäuscht.

Damals habe ich mir im Abschied das Hesse-Gedicht von den „Stufen“ leise aufgesagt und mich selbst ermuntert:

„Des Lebens Ruf an uns wird niemals enden,
Wohlan denn, Herz, nimm Abschied und gesunde!“

Als Anfang März in diesem Jahr die ersten geflüchteten Frauen und Kinder aus der Ukraine vor unserem Rathaus standen, ahnte ich, wie hart das für sie ist. Abschied im Jahr 2022 heißt: Heimatverlust, vielleicht für lange Zeit, Männer weg, Lebenslust weg, Kreditkarte geht noch, aber dann steht auf dem Display „außer Funktion“, keine Sicherheit, keine Sprache mehr, die Brücke ist abgebrochen. Keine Ermutigung war in ihren Gesichtern zu lesen. Das Wort „Zeitenwende“, mit dem der Bundeskanzler diese Tage beschrieb, passte. Die Gesichter der Kinder waren ohne Neugier, die Augen riesengroß und matt, sie versuchten ein leeres Lächeln und hielten sich an der Mutter fest, klammerten sich an Omas Hand. Welche Gerüche ihnen wohl fehlen? Die kräftigen Gewürze, der Krach der lustigen Schulklasse, das Quietschen der Straßenbahn, das von der Straße in die Wohnung hineindringt. Ein Pass, der Kinderausweis, die Geburtsurkunde waren an der Grenze verloren. Es war, als wäre in der Panik der Flucht auch das Vertrauen auf der Strecke geblieben. Ohne Verheißung aufbrechen, ohne den Rückenwind der Hoffnung in ein fremdes Land gehen? Unvorstellbar! Es ist nicht unser Wohlstand, es ist dieser lange Frieden, in dem wir leben, den ich wie eine persönliche Verheißung nahm, ich dachte, es würde in Europa für immer so bleiben und ich fühlte mich so sicher. Dieses sichere Gefühl ist angeschlagen. Die Ermutigung Jesu aus dem Evangelium heute schiebt die Gedanken in eine neue Richtung. In allem Frust, dass ihre Vorräte schrumpfen, sagt Jesus: „Fahre hinaus, wo es tief ist, und werft eure Netze zum Fang aus!“

Gerne hätte ich unsere Gäste aus der Ukraine nach den Gerüchen und Geräuschen gefragt. Sind es südliche Gewürze, deren Duft durch Charkiw, Odessa, Mariupol, Kiew ziehen? Doch ich schwieg, die Verheißung ist uns abhandengekommen. Abraham hörte „geh aus deinem Vaterland und von deiner Verwandtschaft und aus deines Vaters Haus in ein Land, dass ich dir zeigen werde“, ihnen aber dröhnten die Sirenen vom ersten Luftalarm noch in den Ohren, der Duft des geliebten Mannes, der sie beim schnellen Abschied fest mit beiden Armen drückte, ist ihnen noch in der Nase. Verheißung? Fehlanzeige.

Abrahams Aufbruch aus der Stadt Ur bleibt lebendig, seine letzte Runde durch die alte Heimat, ein letzter Blick aus dem Fenster auf den alten Innenhof, ein Winken am Bahnhof, sein Blick in den Rückspiegel, in dem alle Erinnerungen noch einmal auftauchen. Die Verheißung, die Gott ihm mit auf den Weg gab, ist stark. Er wird ein Segen sein. Das hatte er gehört. Diese Zusage lässt ihn tief durchatmen. Selbst dann, wenn die Zukunft anders ist, als ich sie mir gedacht hatte, tut der Moment voller Erwartung gut. Dann fällt hinter Abraham die Tür ins Schloss. Seine Schritte sind fest und sicher. So geht ein Mensch, der voller Zuversicht ist.

Jetzt aber fliehen sie vor Krieg, Angst und Bomben, aus kaputten Häusern, eingestürzten Kirchen, von Arbeitsplätzen, die ausgebrannt sind. Infrastruktur liegt in Schutt und Asche. Verheißungen haben es heute schwer. Zeitenwenden sehnen sich nach Verheißung. Ich will mich nicht von der Angst treiben lassen. Niemand kann es sich leisten, die Angst als Antriebskraft zu akzeptieren. Denn Angst kommt von Enge. Ich muss mich nicht einengen lassen. Und: Gott führt in die Weite, die suche ich. Zeitenwende kann nicht einfach heißen: „Wir liefern Waffen“ „Wir rüsten die Armee auf“. Zeitenwende heißt auch: „Wir suchen Wege zum Frieden und schaffen Zuversicht, öffnen uns neuen Perspektiven, schöpfen Hoffnung.“ Gott malt dem Abraham seine Zukunft mit großen Bildern aus und sagt: „Ich will dich zum großen Volk machen.“ Mehr Verheißung geht nicht.

Heute scheint die Verheißung zu schwächeln. Mit dem Wort von der Zeitenwende stellt sich kein wohliger Kitzel ein, der wie damals die Magengrube durchzieht. Nichts streckt sich neugierig in die Zukunft aus. Es gibt Zeiten im Leben, die sind ohne Perspektive, dann schrumpft das Wort „Verheißung“ zu einer wehmütigen Erinnerung zusammen. Heute ist es einfacher sich zu fürchten als Mut zu gewinnen. Man lebt in heilen Häusern in unversehrten Städten und Dörfern und zittert schon jetzt vor dem kommenden, vielleicht kalten, Winter. Erinnerungen an die Verheißungen sind zu einem kostbaren Gut geworden.

Damals schien das einfach, als junger Erwachsener las ich Hermann Hesse, fühlte mich getragen. Manchmal klingt das, als käme es aus weiter Ferne und ist schon fast vergessen:

„Der Weltgeist will nicht fesseln uns und engen,
Er will uns Stuf´ um Stufe heben, weiten.“

Heute lese ich von Abraham, der aus der Stadt mit dem Namen Ur aufbrach. Abraham hatte eine Zusage im Gepäck: „Geh aus deinem Vaterland und von deiner Verwandtschaft und aus deines Vaters Hause in ein Land, das ich dir zeigen will.“ Ein sicheres Land, das wäre für viele Menschen schon viel. Hätte die Mutter aus Charkiw einen Bruchteil von diesem: „Ich will segnen, die dich segnen, und verfluchen, die dich verfluchen“, uns allen wäre geholfen. Wären wir unserer Sache und unseres Glaubens nur ein wenig sicherer, uns allen ginge es besser. Vielleicht erleben wir eine Zeitenwende, ohne den starken Rückenwind einer Verheißung zu spüren. Viele Menschen, die ich kenne, sehen die Zukunft nur noch düster. Und ich sehne mich sehr nach der Verheißung und einem Wort Jesu: „Fahrt hinaus, wo es tief ist, und werft eure Netze zum Fang aus!“

Jesus schickt seine Jüngerinnen und Jünger nicht in seichte Gewässer, sondern dahin, wo die See tief ist und dunkel, wo die Abgründe gefährlich drohen. Heute höre ich wieder die Zusage an Abraham, sein: „Geh in ein Land, das ich dir zeigen will.“ Er hat nie gesagt, dass alles leicht wird und einfach. Dieser erste Mut von damals wird auch bei Abraham mehr als einmal auf die Probe gestellt. Ich erlebe unsere Zeit, als wären wir in schwere See, tiefe Wasser und eine große Herausforderung geraten. Es gibt Zeiten mit reduziertem Mut. Und doch liegt der Duft von 4711 in der Luft und der scharfe Geruch des Scheuerpulvers meiner Mutter häng schwer in der Nase. Abraham hört das Zuklappen der Haustür, er hat diesen Aufbruch nie vergessen.

Es ist eine Zeitenwende. Wieder ist da so ein aufregendes Kribbeln in der Gegend des Magens, das ist wie eine Verheißung, und das Bändchen mit dem Gedicht von Hermann Hesse ist auch noch da:

„Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne,
Der uns beschützt und der uns hilft, zu leben.“

Das, was nach diesem Aufbruch kommt, heißt immer noch Zukunft. Da ist nicht Untergang angesagt und Einsamkeit, da verspricht Gott seinen Segen. Abraham ist sich sicher, er ist mit Gottes Verheißung unterwegs. Eine Tür fällt ins Schloss, der alte Mut und das uralte Vertrauen melden sich in ihm zu Wort. Wenn er genau hin gespürt hat, dann war da wieder so ein wohliger Kitzel in der Magengrube, voller Zuversicht.

Vier Fragen zur Predigtvorbereitung an Pastor Henning Kiene

1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Die Gemeinde vor Ort ist verreist oder muss auch vom Sonntag für die Gäste, die die Insel Usedom genießen, arbeiten. Die Gemeinde wird sich vorwiegend aus Gästen und Patienten der Kurklinik zusammensetzen.

2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Der Gedanke, dass Verheißungen bleiben und nicht zu vernichten sind. Auch die Entdeckung, dass Verheißungen in Krisen geraten und wieder an Gewicht gewinnen.

3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Die Wiederentdeckung des Gedichtes „Stufen“. Es ist ebenso schlicht, wie ermutigend.

4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Die Coach hat mir exegetisch eine Richtung vorgeschlagen, die mir sehr geholfen hat. Das etwas Schwebende, das zu einer Zeitenwende dazu gehört, wollte ich jedoch erhalten.

 

Perikope
17.07.2022
1-4a