"Abschied zum Leben" - Predigt über Johannes 14, 15-19. von Martin Weeber.
14,15

"Abschied zum Leben" - Predigt über Johannes 14, 15-19. von Martin Weeber.

Von Abschieden durchzogen ist unser Leben – und selten fallen sie uns leicht.
  Wir hängen am Gewohnten und Vertrauten, unser Herz ist verwachsen und verwurzelt, eingesenkt in eine Lebensphase, eingesenkt in einen Ort, der zur Heimat geworden ist; es schlägt im Gleichklang mit den Herzen jener, die zu uns gehörten.
  Vom Abscheiden sprachen die Alten, wenn sie auf sanfte Weise vom Sterben sprachen:
  „Ich habe Lust, abzuscheiden und bei Christo zu sein“
  Der Tod wohnt jedem Abschied inne, doch bisweilen auch das Leben.
  Von einem Abschied, der zum Leben dient, reden die Worte unseres Predigttextes, reden die Worte Jesu, die er uns bewahrt.
  Noch einmal ist Jesus beisammen mit seinen Freunden, einen letzten Abend verbringt er gemeinsam mit ihnen. Er schaut zurück und er schaut voraus.
  Er schaut voraus auf seinen Abschied, auf sein Abscheiden.
  So spricht er zu seinen Freunden, so tröstet er sie:
  
  15 Liebt ihr mich, so werdet ihr meine Gebote halten.
  16 Und ich will den Vater bitten und er wird euch einen andern Tröster geben, dass er bei euch sei in Ewigkeit:
  17 den Geist der Wahrheit, den die Welt nicht empfangen kann, denn sie sieht ihn nicht und kennt ihn nicht. Ihr kennt ihn, denn er bleibt bei euch und wird in euch sein.
  18 Ich will euch nicht als Waisen zurücklassen; ich komme zu euch.
  19 Es ist noch eine kleine Zeit, dann wird mich die Welt nicht mehr sehen. Ihr aber sollt mich sehen, denn ich lebe und ihr sollt auch leben.
  
  Jesus weiß, was seine Freunde, was seine Jünger brauchen:
  Trost brauchen sie, genauer einen Tröster.
  Einen, der bei ihnen bleibt.
  Einen, der sie nicht verlässt.
  
  Bei einem bleiben: Schon darin steckt fast alles, was einen Tröster, einen guten Tröster ausmacht. Er bleibt. Er läuft nicht weg. Er hört. Er schweigt.
  Er ist so bei einem, dass alle Fremdheit sich verflüchtigt:
  Der Tröster wird „in euch sein“.
  
  Wir erleben uns als Menschen allermeist in Distanz zueinander:
  Hier bin ich. Dort bist Du. Ich bin nicht Du. Du bist nicht ich.
  Distanzen wahren zu können: Das macht das erwachsene Leben aus.
  Und dennoch:
  Ein nur distanziertes Leben verdiente seinen Namen kaum.
  Immer nur Fremdheit, immer nur Abstand, immer nur Distanz:
  Solch ein Leben wäre tot bei Lebzeiten.
  Solch ein Leben wäre trostlos.
  
  Der Tod ist der große Distanzierer:
  Der Anblick der Toten führt uns das vor Augen.
  Welch‘ ein Abstand zwischen uns und ihnen.
  Wie groß diese Distanz – und wie erschreckend nah zugleich der Tod dem Leben.
  
  Abschied nimmt Jesus von seinen Jüngern.
  Ein Abschied ist das, der dem Tode nicht ausweicht – und der dennoch das Leben im Blick hat:
  „Ich lebe und ihr sollt auch leben.“
  
  Leben ist Gegenwart, ist der Genuss von Gegenwart.
  Das Leben in der Gegenwart von Jesus muss für seine Freunde, seine Jünger ein Genuss gewesen sein.
  Keiner der leichten, süßen Oberflächengenüsse.
  Kein Genuss der glatten Leichtigkeit.
  Nein, ein Genuss der Tiefe muss das Leben in der Gegenwart Jesu gewesen sein.
  Ein Genuss, der die Jünger die Abgründe und die Gründe des Lebens hat sehen lassen.
  
  Und von all dem gilt es nun Abschied zu nehmen:
  Anders können die Jünger, die Freunde es nicht verstehen, wenn Jesus von seinem Abscheiden, von seinem Sterben redet.
  Von Abschieden durchzogen ist unser Leben – und selten fallen sie uns leicht.
  Und je länger wir leben, desto öfter sind die Abschiede, die uns zugemutet werden, endgültige Abschiede.
  
  „Ich lebe und ihr sollt auch leben.“
  
  Obwohl er von seinem Tode spricht, spricht Jesus von seinem Leben,
  von einem Leben, das durch den Tod nicht einfach beendet wird, von einem Leben, das durch den Tod zu einem ewigen Leben wird, zu einem Leben im Geist, zu einem Leben im Geist der Wahrheit.
  
  Denn „der Geist“, der „Geist der Wahrheit“ – das ist der andere Name jenes Trösters dessen Kommen Jesus seine Jüngern verspricht:
  Es gibt eine Gegenwart des Geistes, eine Geistesgegenwart, die den Tod überwindet.
  
  Jesus geht weg. Er geht hinein in die dunkle Nacht der Vernichtung.
  Und dennoch kehrt er wieder und bleibt da.
  
  Wir gehen zu auf das Pfingstfest.
  Am nächsten Sonntag ist es so weit.
  Da feiern wir dieses so unanschauliche Fest.
  Es ist ein Fest der Geistesgegenwart.
  Und in diesem Geist ist Jesus gegenwärtig.
  Er ist nicht mehr als Leib, nicht mehr als greifbarer Körper unter uns.
  Er geht nicht durch die Straßen unserer Dörfer und Städte.
  Und dennoch ist er bei uns.
  Er ist weg. Und dennoch ist er da.
  
  Das ist die große und kühne Behauptung unseres christlichen Glaubens:
  Dass Christus nicht einfach eine Gestalt vergangener Zeiten ist, sondern zu unserer erlebbaren Wirklichkeit gehört, dass er gegenwärtig ist, so wie Gott gegenwärtig ist, allezeit und allerorten.
  
  Wie mag das zugehen?
  Wie kann einer da sein, wenn er weg ist?
  „In der Erinnerung.“
  Das ist die erste Antwort auf jene Frage:
  „Wie kann einer da sein, wenn er längst schon weg ist?“
  Oftmals ist es bedrängend, oftmals beglückend, jedenfalls immer erstaunlich, wie stark ein Mensch im Modus der Erinnerung gegenwärtig zu sein vermag:
  Als ob er in der Erinnerung Konturen gewänne, die er zu Lebzeiten kaum hatte.
  Immer schärfer schält sich das Wesentliche heraus,
  immer stärker wird klar, was bleibt von einem Leben:
  Das Bild des Vaters, der Mutter, der ersten Lehrerin oder des Pfarrers, der einen einst konfirmiert hat. Diese Bilder verlieren mit der Zeit oft nicht ihre Deutlichkeit, sondern gewinnen sie mehr und mehr.
  Es ist ein erstaunlicher Prozess, wie das Bild von Jesus als dem Christus mit der Zeit immer deutlichere Konturen gewann, bis hin zu jenen klaren und entschiedenen Formeln, wie sie uns etwa das Nizänische Glaubensbekenntnis formuliert, wenn es Jesus beschreibt als „Gott von Gott, Licht vom Licht, wahren Gott vom wahren Gott“: Kristalline Formeln, die Erinnerungsmomente zusammenschauen in wuchtigen Worten.
  Formeln, die Jahrhunderte brauchten um zu entstehen, und für deren annäherndes Verständnis ein Menschenlebensalter kaum ausreicht.
  
  Wie kann einer da sein, wenn er weg ist?
  „In der Erwartung“.
  Das ist die zweite Antwort auf jene Frage.
  So lebhaft kann die Erwartung sein, dass sie uns den Erwarteten so nahe bringt, als sei er gegenwärtig und greifbar.
  Lang getrennte Liebende kennen jene Erwartungsgegenwart.
  Sie führen jetzt schon die Gespräche, die zu wirklichen Dialogen erst werden, wenn der Erwartete, wenn die Ersehnte eintrifft.
  
  Wie kann einer da sein, wenn er weg ist?
  „In seinen Wirkungen.“
  Das ist die dritte Antwort auf jene Frage.
  Und es ist sicherlich die nüchternste Antwort.
  All das, was wir als christliche oder christlich wenigstens geprägte Kultur kennen, ist eine Weise der Gegenwart Christi.
  So, wie einzelne Menschen immer wieder die Kultur, die Lebensweise und die Lebenseinstellung vieler Menschen prägen, so prägen die Wirkungen, die von Christus ausgegangen sind, ganze Epochen und ganze Kontinente bis heute.
  
  Wie kann einer da sein, wenn er weg ist?
  In der Erinnerung, in der Erwartung, in seinen Wirkungen.
  
  Jesus fasst all das zusammen, wenn er davon redet, dass der Geist der Wahrheit zu den Jüngern kommen und bei ihnen bleiben wird:
  Dieser Geist der Wahrheit wird an Jesus erinnern, er wird immer wieder große Erwartungen wecken, die sich auf Jesus richten - und er wird wirken.
  Er wird wirken durch die Taten der Liebe:
  Taten der Jünger, Taten der Freunde und Freundinnen Jesu.
  Taten, durch die Jesus unter uns ganz lebendig wirkt, heute wie damals:
  Und er wird wirken durch die herrlichen Worte dessen, der da spricht:
  „Ich lebe und ihr sollt auch leben!“
  Jesus geht. Sein Geist kommt.
  Und so wird aus dem Abschied vom Leben ein Abschied zum Leben.
  Amen.