Abstand und Nähe zu Gott - Predigt zu Hebräer 4,14-16 von Karoline Läger-Reinbold
4,14-16

1. Versuchung

Mit fünf Lügen fing es an. Mittlerweile sind es im Schnitt zehn oder mehr, an jedem einzelnen Tag. Falschaussagen. Manipulierte Berichte. Verdrehte Tatsachen. Geschönte Darstellungen. Oder, mit dreistem Selbstbewusstsein formuliert: alternative Fakten.

Die Washington Post hat sie gesammelt und gezählt, überprüft und  festgestellt: Donald Trump, der amerikanische Präsident, sagt nicht die Wahrheit.1 Wissentlich, willentlich, warum auch immer: in den etwas mehr als zwei Jahren seiner Amtszeit hat er inzwischen etwa 8.000mal öffentlich gelogen.   

Das ist bemerkenswert. Und wir nehmen das irgendwie hin: wir, die Amerikaner und eigentlich die ganze Welt. Fast hat man sich schon ein bisschen gewöhnt. Da spricht und twittert eben einer, dem man nicht alles glauben kann.

Am Mittwoch hat die Fastenzeit begonnen. Sieben Wochen wird sie dauern, bis wir dann Ostern das Auferstehungsfest feiern. Sieben Wochen, in denen Christinnen und Christen sich erinnern lassen an den Leidensweg Jesu. Eine besondere Zeit.

Sieben Wochen ohne. Nach alter Sitte sind es Fleisch und Wurst, auf die verzichtet wird in der Passionszeit. Alkohol, Schokolade, Fernsehen. Kleinigkeiten, die uns bewusst oder unbewusst den Alltag versüßen. Uns ablenken, milder stimmen, weicher.

Sieben Wochen ohne. Die Fastenaktion der evangelischen Kirche plädiert in diesem Jahr für Freimut: „Mal ehrlich! Sieben Wochen ohne Lügen“. Sieben Wochen die Wahrheit sagen. Ungefiltert. Einfach raushauen, was mir in den Kopf kommt, und was ich wirklich denke oder meine.

Ob ich mir das trauen will? Anstrengend kommt es mir vor, dieses Eintreten für die Wahrheit. Oder, vielleicht trifft es das besser: für meine Sicht auf die Realität. In den sozialen Medien ist das inzwischen ein richtiger Kampf. Zuhause und im Privaten kann es bedeuten, dass ich der Tochter schon beim Frühstück sage: „Also, dein Outfit heute, das geht gar nicht. So kannst du auf keinen Fall aus dem Haus“. Oder später zum Nachbarn im Treppenhaus: „Sie! Wo ich Sie jetzt endlich mal sehe! Das nervt mich total, dass Sie immer rauchen auf Ihrem Balkon. Bei uns ist der Qualm dann im Schlafzimmer.“ Das kann ich zwar denken – aber will ich das sagen?  

Schon lauert sie an der Tür, die Versuchung. Die Möglichkeit, nicht ganz ehrlich zu sein. Ein bisschen zu schummeln. Etwas dahinsagen, bloß damit Ruhe ist. „Wie gefällt dir mein neues Kleid?“ „Oh, super, ganz toll! Sieht wirklich klasse aus!“  

„Kleine Lügen tun nicht weh. Kleine Lügen sind wie Honig im Tee, wie ein Sahnebaiser, und sie machen das Leben leichter“, singt Max Raabe.2

Ja, die Versuchung ist groß. Oft ist da ein schmaler Grat zwischen Wahrheit und Flunkern, zwischen faustdicker Lüge und ehrlicher Auskunft. Einfach mal was behaupten, weil ich dann meine Ruhe habe. Oder einfach besser dastehe. Oder den Anderen auf Abstand bringen will.

Sich um Wahrheit bemühen, das ist anstrengend. Es bedeutet Arbeit an der Beziehung. Ich muss damit rechnen, dass der Andere gekränkt ist, sich aufregt. Diplomatisch sein und nicht verletzend, aufrichtig und doch offen für das Gegenüber, das ist nicht ganz leicht. Manchmal möchte ich lieber ein bisschen lügen, um mich und mein Gegenüber zu schonen.

Versuchung! Nun komm schon, Eva, probier‘s einfach aus! Säuselt die Schlange im Paradies.3 Was kann denn schon schiefgehen, du wirst nicht gleich sterben. Schon ist die Grenze  überschritten, ganz schnell kann das gehen.  

Und sieh da, die Schlange behält in einem Punkt sogar Recht: Adam und Eva werden nicht sofort mit dem Tod bestraft. Aber den Garten Eden werden sie verlassen. Und müssen jetzt mit Arbeit, Mühsal und Schmerzen leben.  

Der Abstand zu Gott, der ist größer geworden.

 

2. Der Mittler

Einer aber hat es geschafft, sagt der Hebräerbrief. Der war standhaft und stark und hat den Abstand wieder kleiner gemacht.  Obwohl er so schwach war wie wir. Ein echter, wirklicher Mensch. Einer wie du und wie ich. Jesus.

Das Evangelium4 erzählt, wie er dem Bösen begegnet. Und Jesus  bleibt stark. Verzichtet: auf Nahrung. Auf seine Macht, das Wunder zu tun, auf den Erweis seiner Größe und Herrlichkeit.  

Die Erzählung von Jesu Versuchung macht klar: Da liegen Welten zwischen ihm und mir. Jesus ist einer, der hat wirklich Kraft und macht sein Ding. Es wäre sinnlos, sich mit ihm zu vergleichen. Als Gottes Sohn gehört er einer anderen Liga an. Und darum setzt er dem Bösen etwas entgegen.

Der Hebräerbrief sagt: Er ist der große Hohepriester. Den Himmel hat er durchschritten und ist unser Mittler. Er überwindet, was uns von Gott trennt. Er kommt von oben, kennt die Distanz zwischen Höhe und Tiefe, von den Kindern zum Vater. Und er ist versucht worden, wie wir.

Jesus weiß also, wovon die Rede ist, wenn ich ihm das Elend meines Unvermögens klage. Meine Schwäche, meine Schmerzen, meine Inkonsequenz und all das Weinerliche. Er kennt die Lebensfragen; mehr noch: all das Nervige. Die Belanglosigkeiten. Den ganzen Kram, mit dem ich mich herumschlage, all das, was belastet.  

Ein Hohepriester. Aber einer, der nicht abgehoben ist. Der nicht weit weg ist von dem, was mich bewegt und beschäftigt. Und gleichzeitig ist er am nächsten dran – an Gott. Denn nur der Hohepriester darf im Tempel das Allerheiligste betreten. Zum großen Versöhnungstag bringt er das Sühnopfer dar. So wird es beschrieben in der Thora. Der Hebräerbrief erinnert an dieses kultische Amt und erklärt mit diesem Bild, was es mit Jesus auf sich hat.

Der ist ganz nah bei Gott, und er ist ganz nah bei uns. Er ist der Mittler für Gottes Gnade und Barmherzigkeit. Der Abstand zwischen Mensch und Gott, Jesus macht ihn gering. 

 

3. Gnade

Und: Darum lasst uns festhalten, sagt der Hebräerbrief. Lasst uns festhalten am Bekenntnis zu diesem Gottessohn und Menschen, der da vom Himmel kommt und doch für uns da ist.

Lasst uns festhalten. Ein bisschen rührend klingt das. Ich denke an die alte Dame mit dem Hut, wie sie im Café sitzt und sich festhält an ihrer etwas altmodischen Handtasche. Ab und zu streicht sie liebevoll über das glatte Leder und sagt sich: es ist alles noch da.

Lasst uns festhalten an diesem Schatz, den wir da haben von unseren Müttern und Vätern. Wir können stolz darauf sein, haben nichts zu verstecken.  

Haltet fest, haltet durch! Bleibt verbunden in diesem Glauben, das ist die Botschaft des Hebräerbriefs. Die Menschen, zu denen dieses Schreiben spricht, sind Christinnen und Christen der zweiten oder dritten Generation, zweite Hälfte des 1. Jahrhunderts. Menschen, denen es nicht leichtfällt, ihren Glauben zu leben, weil ihre Umwelt sie kritisch beäugt. Weil die Nachbarn und Freunde, vielleicht auch Partner und auch Familie sagen: was für einen merkwürdigen Kult ihr da habt. Aber die Glaubenden sagen: Lasst uns doch festhalten daran. Mut-mach-Worte sind das.

Lasst uns festhalten an dem, was uns geschenkt wird, schreibt der Hebräerbrief, und lasst uns freimütig hinzutreten zu dem Thron der Gnade, auf dass wir Barmherzigkeit empfangen und Gnade finden und so Hilfe erfahren zur rechten Zeit.

Darum also geht es: Gnade. Barmherzigkeit. Hilfe. Jesus, der Mittler zwischen Gott und Menschen, er macht den Abstand wieder kleiner. Sein Thron der Gnade ist nicht weit entfernt. Weil Jesus weiß, wie es sich anfühlt, Mensch zu sein, darum ist er voller Sympathie. Er leidet mit uns an den offenen Fragen, an unseren hilflosen Versuchen, an unseren Lügen und an unserer Unvollkommenheit.

Gnade, Barmherzigkeit, Hilfe zur rechten Zeit. Fehlerfreundlichkeit. Langen Atem hat dieser Jesus für mich, und jederzeit ein gutes Wort. Und ich verstehe: Ehrlichkeit bedeutet auch, dem anderen eine Chance zu geben. Meine kritischen Worte zu prüfen, bevor ich sie anderen entgegen schleudere. Der Versuchung widerstehen, mich selbst zum Maß aller Dinge zu machen. Gnade nicht nur für mich, sondern für alle – und gerade auch für die, mit denen es schwer ist.

Sieben Wochen Passionszeit – sieben Wochen ohne Lügen. Mehr Ehrlichkeit und vielleicht auch mehr Demut. Vermutlich nicht für Donald Trump. Aber für jeden von uns, der darauf hofft, dass der Abstand zu Gott am Ende überwunden wird.  

Sieben Wochen, in denen wir uns festhalten an dem, der da geht. Vom Himmel auf die Erde und ans Kreuz, zurück zum Vater und immer wieder zu uns. Abstand und Nähe zu Gott.

Gnade und Hilfe für jeden, der glaubt. Amen.

 

1 I https://www.washingtonpost.com/politics/2018/12/21/president-trump-has-…

2 I https://www.universal-music.de/max-raabe/videos/kleine-luegen-292279

3 I Genesis 3,1-24: AT-Lesung für den Sonntag Invokavit.

4 I Matthäus 4,1-11: Evangelium für den Sonntag Invokavit.

Perikope
10.03.2019
4,14-16