„Aber am letzten Tag des Festes, der der höchste war, trat Jesus auf und rief: Wen da dürstet, der komme zu mir und trinke! Wer an mich glaubt, wie die Schrift sagt, von dessen Leib werden Ströme lebendigen Wassers fließen. Das sagte er aber von dem Geist, den die empfangen sollten, die an ihn glaubten; denn der Geist war noch nicht da; denn Jesus war noch nicht verherrlicht.“
Liebe Schwestern und Brüder,
Morgendämmerung hat eingesetzt, es wird heller. An einem Arbeitstag kurz vor Sechs fiept der Wecker. Mütter, Väter, Schulkinder, Arbeiter und Angestellt räkeln sich halb verschlafen auf der Matratze. Sie schütteln den Schlaf aus dem Körper und quälen sich müde aus der Decke. Die Beine schwingen sie auf den Boden und stehen langsam auf, ohne das Licht anzuschalten. Sie suchen die Toilette auf, wechseln ins Badezimmer, streifen den Pyjama ab und stellen sich fröstelnd und nackt unter die Dusche. Ohne hinzuschauen, drehen sie das Wasser an, und aus dem Duschkopf prasseln Wasserströme, die dem Blutdruck des vom Schlaf noch trägen Körpers einen kräftigen Schub verleihen, bei kaltem Wasser noch mehr als bei warmem.
Solch eine nasse Explosion, liebe Schwestern und Brüder, stelle ich mir unter „Strömen lebendigen Wassers“ vor: die schäumende, spritzende Wasserkraft, die am Morgen den schlaftrunkenen Nachtkörper wieder in ein Energiebündel verwandelt. Niemandem muß die eigene Nacktheit peinlich sein. Der Glaube wird in diesem Predigttext als eine Art Kneippkur verstanden: Er regt den Kreislauf an und spendet Energie wie die Dusche am Morgen. Wer glaubt, der hat keinesfalls zu heiß gebadet und muß nicht vor dem Leben fliehen. Wer glaubt, der hat sich mit Strömen lebendigen Wassers wecken lassen.
Der Evangelist Johannes verbindet unnachahmlich schnöden Alltag und himmlische Weisheit. Er erzählt vom frisch gebackenen Brot, gegrillten Fischen, anregendem Wein in vollen Krügen und eben auch vom klaren Wasser. Die Vater-und-Sohn-Theologie des Johannes nehmen die hörenden Menschen durch Essen und Trinken, Arbeiten und Waschen auf. Er entwickelt eine Flüssigkeitslehre von Wasser und Wein, weniger von Milch, aber auch von Blut, was allerdings an dieser Stelle nicht auftaucht. Seine Wasserweisheiten hat der Evangelist aus dem Alten Testament gewonnen. In der Bibel fließt so viel Wasser, da können die Leser leicht ins Schwimmen kommen.
Das lebendige Wasser aus dem Predigttext sollte nicht allzu schnell symbolisch überhöht werden. Im Hebräischen meint diese Wendung das frische, klare Wasser aus dem Fluß oder Bach, weich und angenehm zu trinken. Totes Wasser dagegen riecht faulig, abgestanden und schal. Es kommt aus einer trüben Quelle, oder es stand zu lange in einer Zisterne. In einer trockenen Gegend wie dem Land um Jerusalem und Jericho kann der sich glücklich schätzen, der in der Nähe einer Wasserquelle lebt. Ich lese eine kurze Passage aus dem Propheten Jeremia, eine der schönsten Wasserstellen (Jer 17,7-8): „Gesegnet aber ist der Mann, der sich auf den HERRN verlässt und dessen Zuversicht der HERR ist. Der ist wie ein Baum, am Wasser gepflanzt, der seine Wurzeln zum Bach hin streckt. Denn obgleich die Hitze kommt, fürchtet er sich doch nicht, sondern seine Blätter bleiben grün; (…).“ Wasser ist lebensnotwendig, für den Olivenhain, für das kleine Kind, für das Lamm und den Dromedar, für Kühe und Kälber, für durstige Menschen, glaubende wie nicht-glaubende. Zu Quellen und Brunnen müssen alle Zugang haben.
Dieses Leben benötigt weder Zaubertrank noch medizinische Tinktur, die tröpfchenweise verabreicht wird. Leben benötigt Ströme von Wasser. Anderthalb Liter täglich: Darin kommen Alltagsroutine, Lebensweisheit und medizinische Notwendigkeit zusammen. Auf diese Alltagsweisheit baut die Glaubenslehre des Evangelisten: Sie ist nah am Wasser gebaut.
Und auf dieser Grundlage stimmt Jesus das Trinklied des Heiligen Geistes an. Dieses allerdings enthält Widersprüche und trifft darum auf Unverständnis bei den Jüngern. Die energiespendende Dusche mit dem Heiligen Geist versteht sich nicht von selbst. In der erzählten Gegenwart spricht Jesus mit den Jüngern. Für Johannes, den Schriftsteller, weiß Jesus stets, daß er über die Gegenwart der erzählten Szene hinausredet. Die Leser und Hörerinnen des Evangeliums sind schon mitangesprochen. Das bedingt Verständnisschwierigkeiten auf allen Seiten: Jünger und Leser verstehen nicht richtig. Aber der Evangelist erklärt geduldig. Die Jünger im Evangelium kennen den Heiligen Geist noch nicht. Die Leser des Evangeliums können nicht richtig nachempfinden, wie es war, dem Lehrer aus Nazareth als leibhaftige Person zu begegnen.
Die später geborenen Glaubenden sind um ihres Glaubens willen angewiesen auf den Heiligen Geist. Sie brauchen diesen Geist nicht nur tröpfchenweise, wie die Großmütter, die jeden Abend vor dem Schlafengehen einen Fingerhut voll Klosterfrau Melissengeist tranken. Der heilige Geist ist weder ein Likör, noch ein teurer Whisky oder ein Grand Cru aus dem Burgund. Letztere müssen erst jahrelang im Faß und dann auf eine Flasche gezogen gekühlt im Keller liegen, bevor sie in kleinen Schlucken zum runden Geburtstag oder der Hochzeit des Sohnes getrunken werden. Liebe Gemeinde, Sie erinnern sich an die Geschichte der Hochzeit von Kana; auch sie erzählt der Alltagstheologe Johannes (Joh 2,1-12). Der Speisemeister beschwert sich beim Bräutigam, daß er den Gästen den besten Wein bis zuletzt vorenthalten habe. Dabei war es Jesus selbst, der in seinem ersten öffentlichen Wunder Wasser in Wein verwandelt hatte. Den Heiligen Geist muß man sich vorstellen wie eine tägliche Dusche mit weichem, klaren Wasser. Der Heilige Geist sprüht, sprudelt, regnet, belebt, manchmal heiß, manchmal kalt. Der Geist tröstet, sagt Jesus an anderer Stelle im Evangelium (z.B. Joh 14,26). Und das heißt: Das Wasser löscht den Durst, es reinigt und belebt, es hilft zu nüchternem und klarem Bewußtsein. Wein, ab dem dritten Glas, betütert und berauscht. Der heilige Wasser-Geist ernüchtert – und das nachhaltig. Der Körper braucht das Wasser, um nicht zu vertrocknen. Glaube braucht den Geist, um nicht in frommer Rechthaberei, klerikaler Bürokratie oder endlosen Diskussionen in gestalteter Mitte zu erstarren.
Nun allerdings steht der Heilige Geist nicht wie die tägliche Dusche im Badezimmer zur Verfügung, wo das Wasser nach dem Betätigen der Armatur eiskalt oder lauwarm aus dem Duschkopf strömt. Aus der Predigtgeschichte ergeben sich einige Hinweise zur geistlichen Wasserkunde: Zuerst weist der Evangelist auf die Verbindung zwischen Jesus von Nazareth und dem Heiligen Geist hin. Ohne „Verherrlichung“, wie er es nennt, ohne Kreuz und Auferstehung Jesu, ist der Heilige Geist nicht zu haben. Der Geist wirkt dort, wo Menschen ahnen, hoffen und glauben, daß Gott die Leiden dieser Welt überwinden will und zu diesen Verheißungen steht. Der Heilige Geist stellt sich nicht auf Knopfdruck ein – und schon gar nicht von selbst. Den Trost des Geistes arbeitet Gott nicht am Fließband ab.
Den Glaubenden hilft das Gebet. Das ist die Armatur, die den Geist in Bewegung setzt. Es heißt im bekanntesten und schönsten aller Pfingstlieder, das am Sonntag Exaudi, eine Woche vor dem Pfingstfest, selbstverständlich schon zum Brausen der Orgel gesungen werden kann: „Nun bitten wir den Heiligen Geist/ um den rechten Glauben allermeist,/ dass er uns behüte an unserm Ende,/ wenn wir heimfahr‘n aus diesem Elende./ Kyrieleis.“ (EG 124,1) Im Lied vereinen sich die Sängerinnen und Sänger zum „Wir“ der Gemeinde. Jesus richtete seine Rede über den tröstenden Geist an die Gemeinschaft der Jünger, die bei Johannes zu einer Gemeinschaft von Freunden stilisiert werden. Wie Gott seine Sonne aufgehen läßt über Gute und Böse (Mt 5,45), so regnet es das Wasser des Heiligen Geistes über Gemeinschaften von Menschen. Häufig zielt es nicht auf einzelne Glaubende, sondern auf Gemeinschaften, Gemeinden. Und ein letztes ist wichtig: Beim Duschen am Morgen stellt die lauwarme Mittelstellung des Hebels einen guten Kompromiß zwischen der Erinnerung an das warme Bett und der Notwendigkeit kühlender, kräftiger Belebung dar. Die Bibel verhält sich gegenüber dem Lauwarmen sehr, sehr skeptisch (Apk 3,16). Der Heilige Geist ist nicht zu kanalisieren und auch nicht zu temperieren. Er fließt nicht zwingend durch Kirchen- und Gemeindeleitungen; er verbreitet sich dort, wo er will (Joh 3,8). Der Heilige Geist ist keine klerikale Bewässerungsanlage, sondern daran zu erkennen, daß er an den ungewöhnlichsten Orten für heiße und kalte Überraschungen sorgt. Der Geist bewirkt zugleich Offenheit und Kraft; er weckt die Glaubenden aus allen Formen der bleiernen, geistlichen Müdigkeit.
Deswegen, liebe Schwestern und Brüder, lassen sie uns durchbuchstabieren, was das heißen könnte. Die letzten Monate der Pandemiewellen haben bei vielen eher für Müdigkeit und Einsamkeit als für Energie und neue Projekte gesorgt. Dieser Zustand wird so nicht anhalten. Wir benötigen die Bereitschaft, uns überraschen und neu motivieren zu lassen. Wir müssen denen helfen, in Pflegeheimen und Krankenhäuser, die schon lange über den Rand der Erschöpfung hinaus arbeiten, um dafür zu sorgen, daß sich das Virus nicht weiter ausbreitet. Das kann der Applaus vom Parkplatz aus sein, die beim Haupteingang vorbeigebrachte Pizza, aber auch der vom Balkon gesungene Choral. Überhaupt das Singen und Musizieren, auf das wir in den Gottesdiensten sehnsüchtig warten. Geistliche Musik wird die Überraschung sein: Wie schön, nach dem Ende der Pandemie einen gemeinsam gesungenen Choral mitzuhören, mitzusingen und mitzubeten. Ein Choral, eine Kantate, ein Lobpreis-Song – das ist ein klares Wasser, das erfrischt und jegliche Form von Apathie vertreibt.
Es braucht Aufmerksamkeit und Geduld, manchmal mehr das Abwarten als das übereilte, vorschnelle Handeln. Der Geist, der erfrischt und munter macht, stellt das Leben in eine größere Perspektive. Sie reicht über solche Pandemiezeiten, die unsere Geduld strapazieren, und über den Tod hinaus. Im Predigttext heißt es, daß auch die Jünger noch nicht wußten, daß Jesus verherrlicht werden sollte. Genau dieses Wissen macht den Unterschied des Glaubens. Es erfrischt und gibt neuen Mut. Alle, die glauben, folgen dem, der in Kreuz und Auferstehung vorangegangen ist. Und das wird gegenüber allem, das beim Alten bleiben soll, noch für manche Überraschung sorgen, sei es im Gebet, sei es in der Gemeinde, sei es an Orten, wo es kein kirchlicher Aktenordner vermutet hätte. Das ist die einfache Einsicht des Evangeliums: Geist ist Klarheit, Mut und Überraschung.
Und der Friede Gottes, welcher höher ist als unsere Trägheit, klarer als unser Denkvermögen und überraschender als unsere Phantasien, bewahre eure Herzen und Sinne frisch gebraust in Christus Jesus. Amen.
1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Mir stehen Menschen vor Augen, die sich überraschen lassen, die nicht jeden Sonntag die üblichen homiletischen Formeln hören wollen. Ich habe versucht, einige Ideen über den Heiligen Geist zu artikulieren, die Menschen dazu anregen, über ihr tägliches Leben nachzudenken.
2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Ich habe mich durch die Wasserstellen der Bibel in Auszügen hindurchgelesen und war überrascht, an wie vielen Stellen Wasser vorkommt. Damit kommt zusammen, daß Wasser wieder zu einem sehr aktuellen ökologischen Thema geworden ist. Ich habe versucht, dieses nicht moralistisch auszuwalzen, sondern das Moment der Überraschung stark zu machen. Der Geist ist ein Geschenk, kein klerikaler Machtfaktor.
3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Man kann sich über das Bild des Duschens am Anfang mokieren. Auf der anderen Seite zähle ich das zu den Zumutungen, denen sich nach dem Johannesevangelium Hörer und Prediger gleichermaßen aussetzen müssen. Und zur Überraschung des Geistes gehört dann auch die unkonventionelle Reaktion.
4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Es war gut, die Predigt nach drei Wochen ein zweites Mal zur Hand zu nehmen. Ich bin der Überzeugung, daß sich der Wassergedanke als homiletisches Leitmotiv bewährt hat, selbst dann, wenn die Predigt dann nicht den Regeln entspricht, die andere Homiletiker aufstellen. Man sollte dem ersten Einfall vertrauen.