Alles ist mir erlaubt - Predigt zu 1. Kor 6, 9-14 von Prof. Dr. Traugott Jähnichen und Nathalie Eleyth
6, 9-14

Alles ist mir erlaubt - Predigt zu 1. Kor 6, 9-14 von Prof. Dr. Traugott Jähnichen und Nathalie Eleyth

 

Liebe Gemeinde,

„Alles ist mir erlaubt", radikaler kann man die Freiheitsbotschaft des Evangeliums nicht aussagen. „Alles ist mir erlaubt", dieser Satz klingt wie ein Paukenschlag, ungeahnte Freiheitsräume eröffnend und vielleicht auch ein wenig verstörend. Kaum jemand würde diesen Satz – etwa bei einer Umfrage im Kollegen- der Studierendenkreis – mit der Bibel oder gar mit dem Apostel Paulus in Verbindung bringen. Das Christentum und besonders die Kirchen stehen ja eher im Verdacht, eine Verbotsreligion zu sein. Offensichtlich ist da etwas schief gelaufen…, und natürlich, ich sehe es in manchen skeptischen, fragenden Blicken, der Satz geht ja noch weiter, es kommt ja noch ein großes „aber"?

Doch nicht so schnell: „Alles ist mir erlaubt!" Paulus schreibt diesen Satz zwei Mal in unserem Predigttext, im gesamten Korintherbrief sogar vier Mal, mit großem Nachdruck. Egal ob es sich um eine Parole der Korinther gehandelt oder ob Paulus einen solchen Satz in seinen dortigen Predigten gesagt hat – Paulus weist diesen Satz nicht zurück, er stellt ihn nicht in Frage, auch wenn er gewisse Missverständnisse in der Art, wie die Korinther diesen Satz verstehen und leben, anspricht. Aber der Satz bleibt stehen. Was ist damit gemeint?

Zunächst geht es um etwas ganz Konkretes, um die Speisen. „Alles ist mir erlaubt" bedeutet: Keine Verbote, keine Vorschriften, was ich wann und wie essen oder trinken darf. Keine unreinen Speisen, keine sonstigen Verbote, auch keine Fastenregeln – man kann das eine oder andere zwar tun oder lassen – aber hier gilt: „Alles ist mir erlaubt." Wir können uns wohl kaum vorstellen, welche Befreiung dies für viele Menschen in der Antike, insbesondere für Juden und für Menschen aus den Völkern, die sich an der Thora orientieren wollten, bedeutet hat: Alles ist erlaubt, man kann ohne Nachfragen und ohne Not mit anderen zusammen essen und trinken, neue Formen des gemeinschaftlichen Miteinanders sind eröffnet. Und auch heute gilt: Keine Verbote, was Speisen und Getränke angeht, auch der Genuss von Alkohol oder anderen Genuss- oder sogar Rauschmitteln steht unter dem Satz: „Alles ist mir erlaubt". Allerdings - und hier kommt das erste „aber" ins Spiel: … „aber nichts soll über mich Macht gewinnen." Demjenigen, den Alkohol oder andere Genussmittel beherrschen, geht ja die christliche Freiheit, der Grundton der Botschaft des Evangeliums, verloren. „Alles ist erlaubt", aber ich muss wissen, was ich bedenkenlos gebrauchen und genießen kann oder was andererseits über mich Macht gewinnt.

Aber auch hier gibt es nach Paulus keine festen Regeln - „alles ist erlaubt" - nur ich selbst muss mir Grenzen setzen und entscheiden, womit ich frei umgehen kann und wo wirkliche Gefahren meiner eigenen Freiheit liegen. Das ist sicherlich nicht einfach, es fordert viel von jedem, und deshalb meinten viele in der Christentumsgeschichte, doch besser entsprechende Verbote aufschreiben zu sollen. Aber Paulus ist hier durch und durch von der Freiheit des Evangeliums bestimmt, „Alles ist mir erlaubt, aber nichts darf Macht über mich gewinnen." Das ist eine anspruchsvolle, aber alle Christenmenschen in ihrer Freiheit Ernst nehmende Formulierung. Paulus stellt die christliche Freiheit in den Mittelpunkt, deshalb ist mir alles erlaubt und in meine Verantwortung gestellt.

Alles ist mir erlaubt…?! Von diesem liberalen Geist war die liturgische Konferenz der Evangelischen Kirche in Deutschland seinerzeit offenbar nicht erfüllt. Bei der Erstellung der Ordnung gottesdienstlicher Texte hat sie den heutigen Predigttext aus dem Korintherbrief einfach zensiert. Die Verse 15 bis 17 wurden aus der Perikope schlicht ausgeklammert.

Und da Dinge, die verschwiegen werden, besonderen Reiz haben, sollen sie an dieser Stelle verlesen werden:

15 „Wisst ihr nicht, dass eure Leiber Glieder Christi sind? Sollte ich nun die Glieder Christi nehmen und Hurenglieder daraus machen? Das sei ferne.

16 Oder wisst ihr nicht: wer sich an die Hure hängt, der ist ein Leib mit ihr? Denn die Schrift sagt: ‚Die zwei werden ein Fleisch sein.‘

17 Wer aber dem Herrn anhängt, der ist ein Geist mit ihm."

Und ich verlese auch nochmal die folgenden Verse bis Vers 19a:

18 „Meidet verantwortungslose Sexualität. Jede Sünde, die ein Mensch tut, ist außerhalb seines Leibes. Wer aber verantwortungslose Sexualität praktiziert, der sündigt gegen den eigenen Leib. Oder wisst ihr nicht, dass euer Leib ein Tempel des Heiligen Geistes ist…"

Was die EKD bewog die Verse auszulassen, kann nur vermutet werden. Wesentlicher ist nun, der Frage nachzugehen, was Paulus den Korinthern hier so eindringlich mitteilen möchte.

In seiner Erörterung, was christliche Freiheit bedeutet, zeigt Paulus einen Grenzbereich auf: der sexuelle Umgang mit Prostituierten gefährdet die Identität als Christ. Die semantische Opposition zwischen Gliedern Christi und Gliedern

der Hure tritt deutlich hervor: Prostituierte sind keine legitimen Sexualpartnerinnen für die christusgläubigen Korinther.

Sexualität ist für Paulus nicht einfach ein rein physiologischer Akt, das wäre eine Fehlbewertung menschlicher Sexualität. Leiblichkeit darf nicht auf die Sphäre der Triebabläufe reduziert werden wie das Speisen. Sexuelle Kommunikation schafft eine neue Identität. Die durch den Verkehr mit Prostituierten gestiftete Identität ist mit der christlichen inkompatibel, denn durch den Umgang mit einer Prostituierten wird der Mann zu einem Sünder. Durch Sex wird der Mann mit der Frau ein Fleisch, aber eine Vereinigung mit einer pornä zieht den Menschen in den Herrschaftsbereich verantwortungsloser Sexualität.

Im Hintergrund steht hier ein bestimmtes Menschenbild: Für Paulus hat der Mensch nicht einen Leib, er ist Leib. Dieser Leib ist die kommunizierende Existenz des Menschen, „Leib" steht für den ganzen Menschen als Kontaktwesen in Beziehung zu anderen. Der Leib und damit das Selbst des Menschen ist geprägt von der Art dieser Beziehungen, das gilt für den alten, von der Sünde geprägten ebenso wie für den durch die Taufe erneuerten Menschen. Durch die Taufe steht ein Christ mit seinem Leib in Verbindung zu seinem Herrn. Der Leib ist gleich dem Tempel – daher diese Metaphorik – heiliger Bezirk Gottes, der alte Mensch ist durch den Loskauf Christi gerecht geworden, von der Knechtschaft der Sünde befreit.

Soma, also Leib, gehört dem Kyrios, weil ihm seit seiner Auferweckung bis zur künftigen Auferweckung der Leiber durch Gottes Macht der ganze Mensch gehört mitsamt seiner irdischen Realität. Soma ist für Paulus der Ort, der dem Herrschaftsbereich des gekreuzigten und auferstandenen Herrn zugeordnet ist. Christus will nicht nur die Gedanken der Menschen erfüllen; weil Gott die Leiber auferwecken wird und in das eschatologische Heil einbeziehen wird, beansprucht Gott diesen Ort – soma/Leib – jetzt schon für sich als Ort, wo sich seine Kraft, sein Geist entfaltet und Wirklichkeit wird. Paulus versucht den Korinthern verständlich zu machen, dass ihre Leiber in den Heils- und Herrschaftsbereich Christi eingegliedert sind. Daher gefährdet man seine neue Identität als Christ, die von der Sünde der Ungerechtigkeit befreit ist, wenn man sich leiblich auf die Sünde mit einer Prostituierten einlässt.

Auf eine Weise kann ich die paulinische Argumentation nachvollziehen, auf andere Weise stößt mir sauer auf, dass Paulus, der in seinen Briefen für unterschiedlichste Parteien Empathie zeigen kann, sich hier als ein Ignorant

erweist. Er schreibt an die von ihm selbst gegründete Gemeinde in Korinth, einer Hafenstadt, in der Prostitution eine sichtbare und akzeptierte Realität war.

Daher meine Anfragen an Paulus:

1.) Konntest du dir nicht vorstellen, dass auch Prostituierte Teil in der korinthischen Gemeinde waren? Ein Großteil der Gemeindemitglieder entstammte der gesellschaftlichen Unterschicht. Frauen waren durch schlechte Löhne häufig gezwungen, sich Geld hinzuzuverdienen und Prostitution war eine Option.

Haben christusgläubige Prostituierte nicht den Geist Christi in sich? Was ich als gnadenlos empfinde, ist allerdings die Tatsache, dass nicht nur ökonomischer Druck Frauen sich prostituieren ließ, sondern Sklavinnen häufig sexuell ausgebeutet und zur Prostitution gezwungen wurden. Ich versuche mich, in so eine Frau hinein zu versetzen, die der korinthischen Gemeinde angehört und sich im Kreis der Christusgläubigen vielleicht Worte des Verständnisses für ihre Lebenssituation, Angenommen sein und Seelsorge erhofft hatte und die dann bei der Verlesung des paulinischen Briefs hören muss, dass ihr Hurenleib mit christlicher Identität nicht vereinbar ist. Ein trauriges Gedankenszenario, eine Möglichkeit, die Paulus aus seiner androzentrischen Perspektive nicht bedacht hat.

2.) Ich frage mich, Paulus, ob du beim Verfassen dieser brieflichen Zeilen überhaupt den Geist Jesu hattest, der einen respektvollen Umgang mit Prostituierten pflegte, in dessen Stammbaum sie namentlich erwähnt werden, der sich von ihnen berühren ließ und für den eine Prostituierte Paradigma des Glaubens sein konnte, der das Himmelreich offensteht.

3.) Wenn du über die Würde des menschlichen Leibes sinnierst, dann darfst du nicht vergessen: auch der Leib einer Prostituierten ist von Gott geschaffen. Warum erkenne ich in diesen Zeilen bei dir nicht die biblische Linie der Parteilichkeit Gottes für die Unteren?

Paulus irritiert und orientiert zugleich. Er äußert in seinem Brief an die Korinther auch eine erstaunliche moderne Ansicht, die es lohnt zu bedenken: Sexualität ist nicht einfach das Abreagieren von Bedürfnissen, Sexualität und Identität bilden einen festen Verweisungszusammenhang. Sexualität lässt einen nicht „kalt", sondern wie der Mensch Sexualität erfährt und lebt, macht etwas mit ihm. Daher

soll sie verantwortungsvoll gestaltet werden und nicht als bloßes physiologisches Bedürfnis mit Essen und Trinken auf einer Stufe stehen.

Christliche Freiheit darf nicht unbestimmt sein, darin hat Paulus sicher Recht. Das schrankenlose Sich-Ausleben schlägt rasch in Knechtschaft um. Das droht fatalerweise dann, wenn man sich seiner eigenen Vollmacht zu sicher zu sein wähnt und meint über sich frei verfügen zu können. Gegen Paulus ist wiederum festzuhalten: Jeder Mensch und damit konkret jeder Leib besitzt Würde. Und diese Würde bleibt gewahrt, egal was andere Menschen dem Leib antun. Leibliche Würde ist unantastbar und kann nicht verloren gehen.

Leiblichkeit hat bei Paulus schließlich immer auch einen Bezug zur christlichen Gemeinde. Bei seiner Aussage: „Alles ist mir erlaubt, aber nicht alles dient zum Guten", hat Paulus nicht nur das Individuum, sondern die Gemeinde mit im Blick. Der entscheidende Horizont der Freiheit bei allen Fragen der Lebensführung, bei der Sexualität ebenso wie beim Umgang mit Geld und Gut, ist nicht nur die nach dem individuell Verantwortbaren und privat Erlaubten, sondern zugleich die nach dem für alle Glieder des Leibes Christi Nützlichen. Die Gemeinde soll sich durch ihr Verhalten im zwischenmenschlichen und sozialen Bereich deutlich von der paganen Umwelt unterscheiden.

Christenmenschen sind, so schreibt es Paulus am Ende des Predigttextes, von Gott teuer erkauft. Wir sind frei gekauft, in Freiheit versetzt – „Alles ist mir erlaubt.." – und gleichzeitig in eine Bindung an unseren Herrn und an die Mitchristen gesetzt, Glieder des Leibes Christi. Diese Bindung bestimmt unsere Identität, Paulus nennt es: unseren Leib. Wie können wir heute mit unserem Leib als Glieder des Leibes Christi ausdrücken, dass wir befreit sind? Es kann vielleicht so geschehen, dass wir in einem befreiten Miteinander alle diejenigen, die zu uns als Gemeinde kommen, ohne Vorbehalt annehmen, niemanden ausschließen und mit ihnen zusammen eine Gemeinde der Verschiedenen bilden. In Freiheit und Würde zusammen leben, den Anderen respektieren, auch in dem, was uns fremd ist. Von einer solchen Gemeinschaft kann man sich nur selbst ausschließen, wohl durch extreme Gewinnsucht, Diskriminierung von Schwachen oder auch durch verantwortungslose Sexualität. Aber als Gemeinde wollen wir allen mit Respekt begegnen, gerade denen, die auf den ersten Blick nicht zu uns zu passen scheinen, deren Lebensform gegen sie zu sprechen scheint und gerade ihnen zeigen, dass im Bereich des Leibes Christi ein solidarisches, geschwisterliches Leben Realität ist und ihnen auf diese Weise die Erfahrung der Freiheit der Kinder Gottes

vermitteln. „Die Zöllner und Huren kommen eher ins Reich Gottes als ihr" (Mth. 21,31), sagt Jesus provokativ zu den Priestern und Ältesten in Jerusalem. Können wir uns vorstellen, dass – sagen wir einmal – Investmentbanker, Hedge-Fonds-Manager und Escort-Begleiterinnen oder kleine Gauner und Straßenprostituierte ins Reich Gottes kommen oder gar – noch unwahrscheinlicher – in unseren Gemeinden freundliche Aufnahme finden? Welche Herausforderung bedeutet dies für uns? Jesu Praxis der Gemeinschaft mit diesen und anderen scheinbar so schwierigen Menschen ist von einer grenzenlosen Weite, und gerade so gewinnt er viele für das Reich Gottes und ermöglicht Neuanfänge, wo wir dies für undenkbar halten. Auch für Paulus könnte diese Praxis wohl eher irritierend gewesen sein.

Liebe Gemeinde, der heutige Predigttext ist sicherlich herausfordernd, anstößig und orientierend zugleich. Wir können von Paulus lernen und empfinden manches von dem, was er aus seiner androzentrischen Perspektive heraus schreibt, als wenig respektvoll. Nichtsdestotrotz: Sein Grundton ist die Botschaft der christlichen Freiheit, das Christentum ist keine Verbots- und Gehorsamsreligion. Man kann diese Freiheit willkürlich missverstehen und falsch gebrauchen, so dass sie in neue Abhängigkeiten führt. Man kann diese Freiheit aber nie übertreiben, man kann sie letztlich nur zu wenig radikal vertreten, d.h. zu wenig von ihrer Wurzel, von Christus her verstehen. In diesem Sinn können und sollen wir im Wissen um die damit gegebene Verantwortung mit Paulus sagen: „Alles ist mir erlaubt …". Amen.

 

Anmerkung:

Übersetzung der Perikope 1.Kor 6 9-14.18-20

Diese Übersetzung und zugleich Interpretation des paulinischen Textes wurde von Traugott Jähnichen erstellt. Dies erschien Prof. Dr. Traugott Jähnichen hilfreich, damit diejenigen, die sich den Text durchlesen, wissen, dass bestimmte Begriffe wie "Unzucht" und Co. mit modernen Begriffen wie "verantwortungslose Sexualität" wiedergegeben worden.

 

1. Kor. 6, 9-14, 18-20

 

Wisst ihr nicht, dass diejenigen, die ungerecht handeln, das Reich Gottes nicht erben werden? Täuscht euch nicht! Alle, die mit Sexualität unverantwortlich umgehen, die Götzenbilder anbeten, diejenigen, die die Ehe brechen oder pädophile homosexuelle Neigungen ausleben, die Diebe, diejenigen, die süchtig nach immer mehr Gewinn sind oder sich dem Rausch ergeben, die, die Mobbing betreiben, die Räuber, sie alle werden das Reich Gottes nicht erben. Einige von euch waren so, aber nun seid ihr in der Taufe neu geworden, ihr seid geheiligt, ihr seid gerecht gemacht worden durch den Namen des Herrn Jesus Christus und durch den Geist unseres Gottes.

Alles ist mir erlaubt, aber nicht alles dient zum Guten. Alles ist mir erlaubt, aber ich will mich von nichts beherrschen lassen. Die Speisen sind für den Bauch, und der Bauch für die Speise – und Gott wird das eine wie das andere außer Kraft setzen. Der Leib aber nicht für verantwortungslose Sexualität, sondern für den Herrn und der Herr für den Leib. Gott aber hat den Herrn auferweckt und wird auch uns auferwecken durch seine Kraft.

Meidet verantwortungslose Sexualität. Jede Sünde, die ein Mensch tut, ist außerhalb seines Leibes. Wer aber verantwortungslose Sexualität praktiziert, der sündigt gegen den eigenen Leib. Oder wisst ihr nicht, dass euer Leib ein Tempel des Heiligen Geistes ist, der in euch ist, den ihr von Gott empfangen habt, und dass ihr euch nicht selbst gehört? Ihr seid nämlich teuer erkauft, darum ehrt Gott mit eurem Leib.