Am Anfang hat jeder einen Auftrag bekommen - Predigt zu Jeremia 1,4-10 von Georg Freuling
1,4-10

Ich glaube, jeder hat am Anfang einen Auftrag bekommen. „Du sollst Else glücklich machen.“ „Du sollst Oboe spielen.“ „Du sollst die Formel für Kadmiumperoxyd erfinden.“ Aber dann kommt eine Menge dazwischen, eine ganze Kindheit zum Beispiel, Fußballspiele und Hausaufgaben, du gehst ins Schwimmbad, verliebst dich und versuchst, den Führerschein zu machen oder die Steuererklärung. Du musst noch Brot kaufen und Gurken und eh du dich versiehst, hast du vergessen, was du eigentlich wolltest. Und dann rufen noch allerhand Leute dazwischen, „denk an die Familie“, „das kannst du nicht“ oder „erst die Arbeit, dann das Vergnügen“, und schon hast du ein Dutzend neue Aufträge auf dem Buckel. Und deshalb muss man sich manchmal daran erinnern: Was soll ich tun in dieser Welt? (Auftrag von Susanne Niemeyer, 100 Experimente mit Gott. Von Abenteuer bis Zuversicht, Freiburg 2018, 26 – mit freundlicher Genehmigung der Autorin)

 

Am Anfang – da hat jeder einen Auftrag bekommen. So schreibt es Susanne Niemeyer in ihrem Buch „100 Experimente mit Gott.“ Ich fand das passend für diese Predigt: Gerade haben wir von anvertrauten Talenten gehört, in der Lesung (Mt 25,14-30). Und von einem besonderen Auftrag hören wir im Bibeltext für diese Predigt. Da geht es um die Berufung des Propheten Jeremia:

 

Und das Wort des HERRN erging an mich: 5) Bevor ich dich gebildet habe im Mutterleib, habe ich dich gekannt, und bevor du aus dem Mutterschoss gekommen bist, habe ich dich geweiht, zum Propheten für die Nationen habe ich dich bestimmt. Und ich sprach: Ach, Herr, HERR, sieh, ich weiss nicht, wie man redet, ich bin ja noch jung! Der HERR aber sprach zu mir: Sag nicht: Ich bin noch jung. Wohin ich dich auch sende, dahin wirst du gehen, und was immer ich dir gebiete, das wirst du sagen. Fürchte dich nicht vor ihnen, denn ich bin bei dir, um dich zu retten! Spruch des HERRN. Dann streckte der HERR seine Hand aus und berührte meinen Mund, und der HERR sprach zu mir: Sieh, ich lege meine Worte in deinen Mund. Sieh, am heutigen Tag setze ich dich über die Nationen und über die Königreiche, um auszureissen und niederzureissen, um zu zerstören und zu vernichten, um zu bauen und zu pflanzen. (Jer 1,4-10)

Das ist der Auftakt des Buches Jeremia. Mit der Berufung fängt alles an: 45 Jahre Prophetenleben, immer wieder unterbrochen – auch, weil Jeremia mundtot gemacht wurde oder untertauchen musste. Ein Auftrag für ein ganzes Leben. Nun bin ich kein Prophet. Sie, Ihr seid es auch nicht. Muss aber auch nicht sein, wenn jede und jeder seine Talente hat, mit denen er wuchern oder die er verkümmern lassen kann, wie wir in der Lesung gehört haben. Muss nicht sein, wenn jeder am Anfang einen Auftrag bekommen hat.  Was Gott in diesem Gespräch zu Jeremia sagt, kann er ebenso gut uns sagen – mit unseren Aufträgen. Und wer kann schon sagen, dass die klein sind… Jede Menge von dem, was Gott, aber auch von dem, was Jeremia hier sagt, kann ich mit unseren Aufträgen verbinden. Wo fange ich an?

Am besten am Anfang…

Aufträge bekommen wir.

 

Aufträge sind keine selbstgewählten Aufgaben. Manchmal werden sie uns vor die Füße gelegt, manchmal stolpern wir darüber, manchmal sträuben wir uns auch.  Zu Jeremia sagt Gott: Nicht nur vom Mutterleibe an, vorher schon war dein Auftrag klar. Was du tun sollst, steht schon fest. Dann ergibt sich ein Problem: Ich kann das nicht beweisen oder erklären. Ich war nicht dabei, als Gott sich dieses eine Leben ausgedacht hat. Das Drehbuch hat er mir auch nicht mitgegeben. So weit der Blick zurück. Vorausgeblickt wäre ein Leben mit Drehbuch langweilig: Ich müsste meinen Auftrag nicht suchen und würde auch keine Überraschungen erleben. Unabhängig davon, was schon gesetzt ist: Wir Menschen sind gefühlt alles andere als fremdgesteuert, wir sind suchend und fragend unterwegs. So kann es auch passieren, dass ein unerwarteter Auftrag wichtiger und prägender wird als jedes zuvor selbst gesteckte Ziel. (Passiert mir immer wieder…) Deshalb bin ich auch der Meinung: Es ist Unsinn, dass heute alles irgendwie Sinn „machen“ muss. Denn Sinn „machen“ wir Menschen nicht. Wir finden ihn. Oft erst dann, wenn wir zurückblicken und gar nichts mehr machen können.

Aufträge nehmen uns manchmal den Mut.

„Warum soll ausgerechnet ich das machen?“ Wahrscheinlich hat sich jeder von uns schon mal diese Frage gestellt. Wahrscheinlich hat jeder schon mal angesichts einer großen Aufgabe geschluckt, seine eigenen Fähigkeiten und Erfahrungen überschlagen und dann gedacht oder gesagt: „Sorry – da bin ich der Falsche!“

Jeremia sagt: „Ich tauge nicht.“ Und: „Ich bin zu jung.“ Da ist er Mitte zwanzig – eigentlich alt genug. Doch „jung“ bedeutet hier auch so viel wie „ohne das nötige Ansehen, ohne Autorität“. Jeremia kommt aus einer Priesterfamilie vom Lande. Wahrscheinlich ahnt er es: Das Landei aus Anatot wird in Jerusalem niemand ernst nehmen – bei denen, die die Nase etwas höher tragen.

„Ich schaffe das nicht. Ich tauge nicht.“ Wie viele denken das in ihrem Leben immer wieder? Ducken sich weg? Machen sich klein? Da gibt es jede Menge verborgener Talente.

Gott ist da anders als all die Skeptiker, die mit ernsten Mienen fragen, ob da jemand seiner Aufgabe gewachsen ist. Gott ist erst recht anders als die Spötter, die den Daumen senken. Gott sagt: Nur Mut! Trau dich! Lass dich nicht einschüchtern von dem, was andere denken und sagen. Gott sagt: „Fürchte dich nicht vor ihnen, denn ich bin bei dir!“

 

Aufträge fordern Stehvermögen.

 

Jeremia hatte diesen Zuspruch Gottes nötig. 45 Jahre hat er in Gottes Auftrag gesprochen. Immer wieder vergebens. Aber nicht nur das – er wurde verlacht, bedroht, verhaftet, in eine stinkende Zisterne geworfen und schließlich außer Landes gebracht, einfach mitgenommen. Immer wieder beklagt er sich bei Gott über seinen Auftrag. Immer wieder möchte er ihm diesen Auftrag vor die Füße werfen, aber kommt doch nicht von ihm los. Keine andere Prophetengestalt im Alten Testament wird so eindrücklich beschrieben – mit ihren inneren Kämpfen, den Niederlagen, dem Frust. Das ist eine Besonderheit bei Jeremia, dass sein Leben so deutlich hervortritt.

Ich wünsche uns allen, dass uns diese Erfahrungen Jeremias, 45 Jahre Frust und Anfeindungen, erspart bleiben. Trotzdem können sich vermutlich viele auch darin wiederfinden: Manchmal ist unser Stehvermögen gefordert: nicht aufgeben, nicht locker lassen. Und manchmal spüren wir: Wenn du jetzt einbrichst, dann verrätst du alles, wofür du stehst. Das ist dann alles andere als bequem, aber gehört dazu, wenn wir unseren Aufträgen nicht ausweichen.

 

Zuletzt: Aufträge sind nicht unsere Privatsache.

 

Meistens sind wir in unserer kleinen Welt unterwegs: Familie, Schule oder Beruf. All das füllt uns aus – so sehr, dass wir oft nicht wissen, wo uns der Kopf steht. Manchmal fühlen wir uns auch klein, wenn wir die Probleme dieser Welt sehen. Was können wir schon tun?

Jeremia wird zum Propheten für die Völker berufen. Größer, globaler geht es nicht. Manche Ausleger stoßen sich an diesem „übersteigerten“ Selbstbewusstsein. Geht es nicht eine Nummer kleiner? Und einige alten Handschriften lesen nicht: Zum Propheten für die Völker habe ich dich bestimmt, sondern zum Propheten für mein Volk habe ich dich bestimmt. Es ist aber so gedacht, wie es da steht: Jeremias Auftrag steht in einem weiten Horizont.

Für unsere Aufträge bedeutet das: Denk nicht zu klein! Auch wenn die Welt um uns herum verrückt spielt, gib die Hoffnung nicht auf! Auch wenn jetzt die Grenzen dicht gemacht werden, und Menschen auf ihrer Flucht ertrinken, dann setz dich weiter für Menschlichkeit ein. Und wenn jetzt wieder über Integration in unserem Land gestritten wird, dann überlass denen nicht das Feld, die alles nur schwarz-weiß malen und uns in der gesellschaftlichen Diskussion um Jahrzehnte zurück katapultieren. Und wenn du siehst, wie gerade der Rasen im Garten verwelkt, dann denkt über deinen Lebensstil nach. Dann frag: Was kann ich tun, damit diese schöne Welt nicht vor die Hunde geht?

 

Zu tun gibt‘s genug, auch wenn wir keine Propheten sind. Jeremias Geschichte fordert mich heraus: Frag immer wieder, was du tun sollst! Verlier nicht den Mut, wenn dir ein Auftrag über den Kopf wächst! Lass dich nicht entmutigen, wenn du dabei Enttäuschungen erlebst. Und: Denk niemals „Was kann ich schon tun?“ Amen.

Perikope
29.07.2018
1,4-10