"Anders Ansehen" - Predigt über Lukas 19, 1-10 von Reinhard Schmidt-Rost
19,1
Anders Ansehen
Und er ging nach Jericho hinein und zog hindurch. Und siehe, da war ein Mann mit Namen Zachäus, der war ein Oberer der Zöllner und war reich. Und er begehrte, Jesus zu sehen, wer er wäre, und konnte es nicht wegen der Menge; denn er war klein von Gestalt. Und er lief voraus und stieg auf einen Maulbeerbaum, um ihn zu sehen; denn dort sollte er durchkommen. Und als Jesus an die Stelle kam, sah er auf und sprach zu ihm: Zachäus, steig eilend herunter; denn ich muss heute in deinem Haus einkehren. Und er stieg eilend herunter und nahm ihn auf mit Freuden. Als sie das sahen, murrten sie alle und sprachen: Bei einem Sünder ist er eingekehrt. Zachäus aber trat vor den Herrn und sprach: Siehe, Herr, die Hälfte von meinem Besitz gebe ich den Armen, und wenn ich jemanden betrogen habe, so gebe ich es vierfach zurück. Jesus aber sprach zu ihm: Heute ist diesem Hause Heil widerfahren, denn auch er ist Abrahams Sohn. Denn der Menschensohn ist gekommen, zu suchen und selig zu machen, was verloren ist.
 
Liebe Gemeinde!
Sie werden in der Öffentlichkeit nicht gerne gesehen, die Leute, die anderen in die Taschen greifen, um ihnen das bißchen, das sie sich mühsam erworben haben, aus den Taschen zu ziehen, und deshalb lassen sie sich auch nicht gerne sehen, bleiben lieber verborgen. Das ist heute nicht anders als damals. Nur: die staatlichen Finanzbeamten hocken heute nicht mehr auf den Bäumen, sondern sitzen an schlichten Schreibtischen in kargen Büroräumen, greifen auch nicht nach eigenem Ermessen in die Taschen der Bürger, sondern sind korrekte Beamte und Angstellte, dem Staat und seiner Ordnung verpflichtet. Und trotzdem stehen sie auf der Rangliste der angesehensten Berufe nicht ganz oben.
Auf den Bäumen sitzen heute eher die Prominenten, die sich nicht haben in die Taschen greifen lassen wollen, schon gar nicht vom Staat, die als Steuerhinterzieher aufgespürt werden, und wenn sie nicht auf Bäumen hocken, dann ziehen sie sich vom Spielfeldrand des Lebens auf die Tribüne zurück, wo man sie allenfalls noch durch Telelinsen entdeckt. Sie wissen, wie sie von den Leuten angesehen werden: mit Mißtrauen, mit Verachtung.  
Jesus aber, wirkte er heute, hätte sicher auch den Steuersündern unserer Tage eine Chance gegeben, die öffentlich als unmoralisch, unsolidarisch, als geldgierig verurteilt werden;  und damit hätte er sich ganz gewiss hierzulande den heiligen Zorn des Volkes zugezogen: Überprüft den doch auch mal! Verhaftet ihn! Bringt ihn zum Schweigen! Er lässt sich mit denen öffentlich sehen, die das Volksvermögen in die eigene Tasche schaufeln,  ja, ist er nicht selber einer von diesen? Er geht bei ihnen ein und aus, isst mit Ihnen, traut ihnen Gutes zu, obwohl das Gegenteil erwiesen ist;  ob er wohl seine Reisespesen ordentlich abgerechnet hat? Wenn er Verständnis für solche Leute aufbringt, ist er mindestens blauäugig und weiß nicht, was sie tun, oder macht er mit ihnen etwa gar gemeinsame Sache, verbrüdert sich mit den Betrügern?
 
Liebe Gemeinde!
Das Evangelium gewinnt sein Profil gewiss nicht durch große Übereinstimmung mit der veröffentlichten Meinung, damals nicht und auch heute nicht; es tritt viel mehr als Kontrapunkt auf, nicht als Umwälzung der Ordnung, sondern als Kontrapunkt, als produktiver Gegensatz: Die Armen und Lahmen zu Tisch bitten, die Krüppel und Kranken ärztlich betreuen, für die Verlorenen und Verurteilten eintreten, für den auf Abwege geratenen Sohn, für die wegen Ehebruchs zur Steinigung verurteilte Frau, auch für den geldgierigen Zöllner einen „Augen-Blick“ haben, sie beachten, sie achten. Mit solchem Verhalten hebt Jesus die Ordnung der Gesellschaft gerade nicht auf, sondern bringt ihren tieferen Sinn erst richtig zur Wirkung, zum Glänzen.
Wie aber geschieht das?  Überraschend einfach: Er sieht die Menschen anders an!  Er hält sich nicht bei ihren schlechten Eigenschaften, bei ihren Problemen, bei ihren Verstößen gegen die gesetzliche Ordnung und auch nicht bei ihren Widerwärtigkeiten auf, Armut, Krankheit, Steuerflucht, Betrug, unerträgliche Persönlichkeit …
Jesus wendet sich dem einzelnen als Mensch zu, spricht ihn oder sie an als Person, als Gottes geliebtes Kind, mit seinen oder ihren Möglichkeiten, er spricht sie an, als sähe er ganz genau, wozu sie bestenfalls fähig sind, sieht ihre Begabungen und Fähigkeiten, er sieht jeden Menschen so an, wie man es sonst nur von Eltern bei ihren Kindern erlebt, erhofft und erwartet!  Oder bei Menschen, die sich lieben, die sich schätzen, sich vertrauen.
Das ist die Erfahrung des Zachäus – der Blick dieses Lehrers, dieses politisch und ökonomisch völlig unbeschriebenen Blattes, gibt ihm Kraft, sein Leben zu ändern. Damit hatte er gewiss nicht gerechnet, als er in seinem Versteck auf dem Baum an der Straße saß. Er kam ja nicht wie die Kranken offen zu Jesus, lief ihm nicht nach. Aber die unerwartete Aufmerksamkeit, ja das Vertrauen dieses Fremden, von dem er doch nur hatte reden hören, dieses Vertrauen reißt ihn heraus aus seiner Existenz in öffentlicher Verachtung und lässt in ihm den Wunsch wachsen, ein ganz anderes Leben zu führen, ein Leben, in dem er auch von anderen anerkannt würde, nicht nur von Jesus, der ihn gegen den Augenschein der öffentlichen Meinung ansieht und sich ihm sogar anvertraut: „Ich will heute bei Dir zu Gast sein!“
Liebe Gemeinde, es erwartet niemand von Ihnen, dass Sie so gut und erfolgreich  sind wie Jesus in dieser Geschichte! Aber diesen anderen Blick probieren, das kann jeder für sich allein. Doch seien Sie vorsichtig, denn Sie werden merken: Es ist immer ein Risiko, ein Abenteuer, denn die Reaktionen sind unterschiedlich. Mancher milde Blick wird mit Hass erwidert, weil sich der, um dem man sich bemüht, aus seinem Versteck auf dem Baum oder in seiner eigenen Welt ganz und gar nicht herauskommen möchte, ob er sich nun seiner Lage schämt, oder sich einfach schwach und hilflos oder gar verfolgt fühlt.
Die Zuwendung zu den Belasteten und der Hilfe Bedürftigen kann aber auch zu einem glücklichen Erlebnis werden, wenn daraus nach und nach Vertrauen wächst. Das sagt diese Geschichte und diese Erfahrung machen viele Menschen in der ganzen Welt, seit Anfang aller Kultur: Wenn sich Menschen auf ihre Gaben hin ansehen und sich nicht gegenseitig in ihren Fehlern und Mängeln bekämpfen, dann kann das gemeinsame Leben tiefer und reicher werden.
 In der Lehre und Person Jesu hat sich dieses „anders sehen“ verdichtet, zu Geschichten und Lehren zuerst, dann auch zu Werken und Einrichtungen der Barmherzigkeit und Zuwendung.
Auch die Geschichte von Zachäus folgt diesem „anderen Programm“[i]  des Evangeliums, das alles Leben aus der Begegnung mit der entgegenkommenden Liebe Gottes hervorgehen sieht. Diese Geschichte gehorcht nicht dem Muster der Heldensagen: per aspera ad astra, durch Nacht zum Licht, durch die Finsternis dringt der Mensch, der sein Leben meistert, zum Licht, zum Erfolg, zur Anerkennung, deshalb: wenn du nicht selbst kämpfst, kommst du zu nichts. Die Geschichten Jesu folgen dem Muster der Barmherzigkeit: das Licht scheint in die Finsternis menschlicher Mängel, der Not und des Leides;  Gottes Liebe scheint in deine Finsternis, und sei es durch die Augen eines anderen Menschen, der dich gütig ansieht. Die Kraft der entgegenkommenden Liebe Gottes ist es, die die Menschen fördert und aus dem Schatz ihrer eigenen Gaben ungeahnten Reichtum hervorlockt, - eine Kraft, die ganz ruhig abwartet, was sich aus Zuwendung, aus Erbarmen und Fürsprache entwickelt. Zu solcher Zuwendung schenke uns Gott Kraft. Amen.
 

  
  
    [i] Vgl. R.Schmidt-Rost, Massenmedium Evangelium: Das „andere Programm“, Hannover (VELKD) 2011
Perikope
16.06.2013
19,1