Elisabeth hatte die Hoffnung ja schon aufgegeben. Sie wusste, dass es so bleiben würde mit den mitleidigen Blicken und dem Getuschel. Und sie kannte die mehr oder weniger diskreten Nachfragen. Die Frage blieb ja sowieso immer die gleiche über die Jahre, nur die Zeitform wechselte. Zu Beginn hieß es: „Wollt ihr nicht oder könnt ihr nicht?“ Und als die Jahre vergingen, eines nach dem anderen, da fragten sie irgendwann: „Wolltet ihr nicht oder konntet ihr nicht?“
Die Antwort war in ihrem Fall immer schmerzhaft eindeutig. Natürlich wollen wir, aber es soll wohl nicht sein. Natürlich wollten wir, aber es sollte wohl nicht sein. Für uns gibt es keine Zukunft, bloß das bisschen Gegenwart und irgendwann sehr viel Vergangenheit. So ist das, ohne ein Kind.
Als ein Engel zu Maria kommt, kündigt er ihr an, dass sie ein Kind erwarten wird. Er hat ihr auch von Elisabeth erzählt. Eine Verwandte von Maria, ihre Cousine, deren Schicksal immer mal wieder zum Gesprächsthema wurde in der Familie.
Elisabeth und Zacharias, nein, da gibt es nichts Neues. Die werden wohl keine Kinder mehr bekommen. Ja, schade ist das. Nun sind sie ja aber auch schon viel zu alt dafür.
Aber der Engel sagt etwas anderes. Er sagt: Bei Gott ist kein Ding unmöglich. Und er sagt auch: Elisabeth ist schwanger, man sieht es schon, sie ist im sechsten Monat.
Und da ist Maria losgelaufen, um es mit eigenen Augen zu sehen. Und auch, um nicht immerzu an das andere denken zu müssen, was der Engel gesagt hat und an das sie selbst lieber noch nicht so viel denken mochte. Dass auch sie, Maria, ein Kind bekommen würde, Gott weiß, wie. Unmöglich, genauso unmöglich wie bei Elisabeth. Sie ahnt schon jetzt, was auf sie zukommen wird. Mitleidige Blicke, Getuschel, leises Kopfschütteln.
Und dann ist sie bei Elisabeth. Sie sieht ihr ins Gesicht, in das faltige Gesicht einer Großmutter. Und sie sieht Elisabeths Bauch. Das Kind bewegt sich schon, sagt Elisabeth. Unmöglich. Aber nicht bei Gott.
Elisabeth und Maria begegnen sich. Zwei Frauen, die das Allerschlimmste kennen. Eine kinderlose Frau zu sein, das war ja das Allerschlimmste, was einem passieren konnte, damals. Und das andere Allerschlimmste, was einem passieren konnte, damals, war ein uneheliches Kind zu bekommen. Die eine hatte es schon hinter sich, eine Vergangenheit, ein ganzes Leben voller Enttäuschung und Leere. Die andere hat es erst noch vor sich, eine Zukunft voller Ungewissheit und Fragen.
Aber als sie zusammenkommen, da ist es, als träten sie alle aus dem Schatten der Vergangenheit zu ihnen beiden. Alle diese Frauen aus der Geschichte Gottes mit seinen Menschen. All die Frauen, die auch das Allerschlimmste kennen, die mitleidigen Blicke, das Getuschel, das leise Kopfschütteln.
Sara ist da, Abrahams Frau. Auch sie hat noch ein Kind bekommen zur Unzeit, nach endlosen Jahren ohne Hoffnung. Weiße Haare, ein faltiges Gesicht und ein schwangerer Bauch.
Hanna ist da, auch sie lange kinderlos, mit ihren Tränen und inständigen Gebeten und dem Gesicht voller Scham und Schmerz, die Mutter des Propheten Samuel.
Und Ruth und Naomi sind da, die junge Frau und die alte, nach Israel gekommen als Asylantinnen ohne eine Zukunft und später durch ein Kind eingeschrieben in den Stammbaum des großen Königs David.
So geht es zu bei Gott. Unmöglich ist da nichts. Das wissen die beiden Frauen, als sie sich begrüßen, die alte und die junge. Elisabeth und Maria.
Und alle diese Frauen sind in dem Lied, das Maria anstimmt nach dieser Begegnung. Sie singt es allein. Aber eigentlich ist es ein Chor. Der Chor der Frauen, die das Allerschlimmste kennen. Und dieser Chor singt:
Unsere Seele erhebt den Herrn, und unser Geist freut sich Gottes, unseres Heilandes; denn er hat die Niedrigkeit seiner Mägde angesehen.
Siehe, von nun an werden uns selig preisen alle Kindeskinder.
Gut, dass Maria dieses Lied singt. Gut, dass wir sie hören können, denn zu sehen ist sie kaum noch hinter all den Schleiern, die die Zeit um sie gewoben hat. Maria sieht nicht mehr aus wie eine, die das Allerschlimmste kennt.
Auf den Altären in vielen Kirchen trägt sie Kleider aus prächtigen kostbaren Stoffen, mit edlem Faltenwurf. Blau-golden ihr Gewand, sie selbst vor goldenem Hintergrund, wie in einem Schatzkästchen, das sich jederzeit schließen ließe, um sie vor unseren Blicken zu verbergen.
Wir halten Abstand und heben ein bisschen den Kopf, um sie sehen zu können. Das Gegenteil von Niedrigkeit. Sie ist ja ganz abgehoben von den Niederungen des Alltags. Ihr Gesicht bleibt ewig glatt und makellos, auch noch als sie ihren toten Sohn im Schoß hält. Selbst ihr Schmerz ist schon zum Kunstwerk geworden, in den Bildern und Figuren von ihr, in der Musik. Aber eigentlich sieht sie anders aus, Maria, und auch Elisabeth. Und wir sehen sie an.
Elisabeth, die hat einen beigen Mantel an und einen Pullover vom Kleiderstand auf dem Wochenmarkt. Sie hat eine billige Dauerwelle und eine kleine Wohnung, weil für mehr ihre Rente nicht reicht. Elisabeth und ihr Mann sitzen am Abendbrottisch und da ist Margarine und Streichwurst und dünner Tee und wenig Worte. Der Tag ist immer gleich und die Woche auch, weil selten mal Besuch kommt, denn die Kinder sind weit weg und haben ihr eigenes Leben. Die müssen auch sehen, wie sie über die Runden kommen. Das bisschen Gegenwart und viel Vergangenheit.
Und Maria, die ist eine von den Müttern, die ihren Kinderwagen durch die Fußgängerzonen schieben und die zu enge T-Shirts anhaben in grellen Farben. Zu zweit oder zu dritt gehen sie, mit so einer Art trotzigem Stolz. Eine von diesen Müttern, die noch Mädchen sind. Ihre Schwangerschaft hat wohl eher Befürchtungen als Freude ausgelöst. Ein Vater ist meistens nicht so richtig dabei. Man sieht ihnen hinterher und fragt sich, ob das wirklich sein musste und welche Zukunft außer Hartz IV sie jetzt eigentlich vor sich haben. Sie sind ja selbst fast noch Kinder.
Solche Elisabeths, solche Marias, das sind die Menschen, die Gott ansieht. Man kann das nicht nur übersehen, sondern leicht auch überhören, gerade durch die Schönheit der Musik, mit der Marias Lied, das Magnificat, so oft vertont worden ist. Aber da singt keine ansehnliche junge Frau mit Glanz noch in der Stimme. Da singt ein ganz junges jüdisches Mädchen aus der Unterschicht ihrer Zeit.
Aber dieses Mädchen ohne Ansehen singt mit der Kraft all der Frauen, die erfahren haben, dass Gott sie ansieht. Sie singt mit der dünnen alten Stimme Saras. Sie singt mit den Worten der gedemütigten Hanna und sie singt mit der Hoffnung der Asylantin Ruth auf eine Heimat. Sie singt mit der Zuversicht einer alten, armen Frau mit dem Namen Naomi.
Maria singt mit den Stimmen derer, die ohne Ansehen sind. Sie singt für die Elisabeths und die Marias unserer Zeit. Denn die kennen noch ein anderes Allerschlimmstes: Gar nicht mehr gesehen und wahrgenommen zu werden.
Die alten Frauen und ihre Männer, die zurechtkommen müssen mit dem, was am Ende ihres Lebens herauskommt an Rente und mit dem, was für das Leben dann noch übrigbleibt. Die Teenagermütter aus sozial schwierigen Verhältnissen. Und all die anderen Menschen ohne Ansehen, Frauen und Männer, ohne die Möglichkeit und am Ende auch ohne die Motivation, noch ihren Platz in der Gesellschaft zu finden.
Maria singt ihr Lied für die Menschen ohne Ansehen. Und sie singt dieses Lied gegen die Menschen mit Ansehen. Auch das möchte man vielleicht lieber überhören.
Er stößt die Gewaltigen vom Thron und erhebt die Niedrigen.
Die Armen füllt er mit Gütern und lässt die Reichen leer ausgehen.
Es ist, als wäre Maria ganz schnell bekleidet worden in Gold und Glanz und hoch emporgehoben, bis in den Himmel, damit man das nicht mehr hören muss. Damit man ihr Lied vergessen kann, jedenfalls seinen Text.
„Niemand will in die Tiefe sehen, wo Armut, Schmach, Not, Jammer und Angst ist, davon wendet jedermann die Augen ab. Und wo solche Leute sind, davon läuft jedermann weg, da fliehet, da scheuet, da verlässt man sie und denkt niemand daran, ihnen zu helfen, beizustehen und zu machen, daß sie auch etwas sind. Sie müssen so in der Tiefe und niedrigen, verachteten Masse bleiben.“ (Luther, Auslegung des Magnificats)
Niemand will in die Tiefe sehen. Ich auch nicht. Ich sehe sie auf meinen täglichen Wegen. Sie bringen wie ich ihre Kinder in den Kindergarten. Anders als ich haben sie keine Eile, weil nichts auf sie wartet, weil sie nirgendwo hin müssen, weil sie nirgends gebraucht werden. Menschen ohne Bildung und Ausbildung, ohne realistische Chance auf einen Arbeitsplatz. Menschen, die keine Perspektive für ihr Leben entwickeln können, die nichts mehr aus sich machen können oder wollen, die anfangen, auch äußerlich unansehnlich zu werden. Ich lebe mit ihnen, jeden Tag und begegne ihnen niemals. Die vielzitierte Spaltung der Gesellschaft in Reich und Arm, in Menschen von Ansehen und Menschen ohne Ansehen, das ist meine Wirklichkeit.
Gott gibt denen eine Stimme, die sonst keiner mehr hört. Und lässt sie singen gegen alle Regeln der Welt. Denn bei Gott ist nichts unmöglich. Das ist die Erfahrung von Sara, von Hanna und Ruth und Naomi. Das haben Elisabeth und Maria am eigenen Leib erfahren.
Und durch sie kommt diese Geschichte Gottes mit seinen Menschen auch zu uns, durch Jesus von Nazareth, geboren von einem jüdischen Mädchen am Rand der damals bekannten Welt. So entfaltet sich in Marias Lied die Verheißung Gottes für all die Menschen ohne Ansehen.
Und diese Musik kommt zu Elisabeth und ihrem Mann am Abendbrottisch, zu den Mädchenmüttern in der Fußgängerzone und zu uns heute morgen. Die Hoffnung kommt zu Menschen, die auf ganz unterschiedliche Weise die Hoffnung aufgegeben haben, dass es immer nur nach den Regeln der Welt geht. Sie kommt auch zu mir. Maria singt. Ich höre ihr Lied. Ich höre die Hoffnung in ihrer Stimme:
Meine Seele erhebt den Herrn, und mein Geist freut sich Gottes, meines Heilandes; denn er hat die Niedrigkeit seiner Magd angesehen.
Siehe, von nun an werden mich selig preisen alle Kindeskinder.
Und jetzt sehe ich sie. Ich sehe eine junge Frau in anderen Umständen. Ich sehe das neue Leben. Sie trägt es noch verborgen in sich. Ich höre ihr Lied. Und ich sehe die Welt in anderen Umständen.
Amen.