Anprobe
Liebe Schwestern und liebe Brüder!
Heute am Sonntag Kantate begegnet uns ein Predigttext aus dem Brief an die Kolosser. Dort heißt es im dritten Kapitel:
So zieht nun an als die Auserwählten Gottes, als die Heiligen und Geliebten, herzliches Erbarmen, Freundlichkeit, Demut, Sanftmut, Geduld; und ertrage einer den andern und vergebt euch untereinander, wenn jemand Klage hat gegen den andern; wie der Herr euch vergeben hat, so vergebt auch ihr! Über alles aber zieht an die Liebe, die da ist das Band der Vollkommenheit. Und der Friede Christi, zu dem ihr auch berufen seid in "einem" Leibe, regiere in euren Herzen; und seid dankbar.
Lasst das Wort Christi reichlich unter euch wohnen: Lehrt und ermahnt einander in aller Weisheit; mit Psalmen, Lobgesängen und geistlichen Liedern singt Gott dankbar in euren Herzen. Und alles, was ihr tut mit Worten oder mit Werken, das tut alles im Namen des Herrn Jesus und dankt Gott, dem Vater, durch ihn. (Kolosser 3,12-17)
Der Brief stammt aus dem ersten Jahrhundert nach Christus und richtet sich an eine frühe christliche Gemeinde in Kleinasien, der heutigen Türkei. Er stammt aus einer anderen Zeit, aus einer anderen Welt. Wir haben das Recht, ihn mit einer gewissen Distanz zu betrachten und müssen nicht alles auf heute übertragen. Aber wir können ihm zutrauen, dass er uns etwas zu sagen hat. Daher lade ich Sie ein, mit mir in diesen Text einzutauchen, um zu prüfen, was er für uns heute austragen kann.
Der Briefschreiber spricht die Mitglieder seiner Gemeinde als „Auserwählte Gottes“ an. Dabei gehörten sie keineswegs zu den Menschen, denen es besonders gut ging und die in der Gesellschaft hoch angesehen waren. Nein, viele von ihnen waren Sklaven oder Frauen, die wenig galten, oder Menschen mit schlecht bezahlten Berufen. Gerade sie nennt er entgegen dem Augenschein „Auserwählte“. - Woran denken wir, wenn wir das hören? Mir fallen die Gotteskrieger des Islamischen Staats ein, die sich selbst gerne so nennen, oder andere Fanatiker, die sich von Gott für eine besondere Mission berufen fühlen. Diese Auserwählten machen mir Angst. Mit ihnen verbindet mich nichts, zu ihnen will ich keinesfalls gehören!
Und wenn wir es so verstehen, wie es im Kolosserbrief gemeint ist, und uns trauen, das Auserwähltsein auf uns zu beziehen? Dann wären wir, die Christinnen und Christen, die diese Worte hören, in Gottes Augen besonders. Wir sind dann Heilige und Geliebte, Ebenbilder Gottes, der uns geschaffen hat. „Das ist zu viel des Guten“, wehren wahrscheinlich viele ab, „ich weiß genau, dass ich nicht heilig bin und oft das nicht tue, was Gott von mir erwartet.“ Das stimmt sicherlich für uns alle. Andererseits tut es gut, wenn Gott uns Menschen seiner Gemeinde so anspricht: „Ich habe Euch erwählt. Ich habe Euch lieb.“ Gott hebt uns den Kopf hoch, wir können mit seinem Zuspruch aufrecht gehen. Gott sieht uns anders als wir uns selbst oft sehen – und dadurch wird es wahr.
Umwerfend ist, dass seine Liebe das erste Wort ist. Danach folgt das, was wir tun sollen, aber unabhängig davon, ob wir das tun oder nicht, sind und bleiben wir Geliebte und Auserwählte. Gottes Liebe ist nicht abhängig von unseren guten Taten, sondern geht ihnen voraus. Gott liebt uns bedingungslos.
Es ist gut, das festzuhalten, wenn wir dem Brieftext nun weiter folgen. Da reiht sich eine Aufforderung an die nächste, viele davon sind Ermahnungen: „Ertragt einer den anderen, vergebt euch, seid dankbar, lehrt und ermahnt einander“ – und das sind noch nicht mal alle Ermahnungen. Für uns ist das schwer erträglich. Die Menschen der Antike kannten solche Ketten von Aufforderungen als Stilmittel, aber uns geht es anders. Wir fühlen uns auf diese Weise als Kinder behandelt, die man erziehen muss, und reagieren mit Widerstand gegen den, der uns zwingen will.
Da gibt es aber ein Bild, an dem ich hängen bleibe. Es ist das Bild von den Kleidern: Wir dürfen die alten Kleider ablegen und neue anprobieren. Mir fallen dabei Kinder ein, die sich verkleiden. Sie probieren aus, wie es ist, jemand anderes zu sein. Dazu brauchen sie außer ihrer Phantasie nur ein paar Accessoires, schon sind sie in eine neue Rolle geschlüpft: Mit einem Hut, einer Augenklappe und einem breiten Säbel wird aus einem Jungen ein Pirat, der auf der Suche nach einem Schatz ist. Ein langes Kleid und ein Goldreif machen aus einem Mädchen ein Prinzessin. Die verwandelt sich dann aber mit Hilfe einer schwarzen Perücke und einer Feder lieber in eine Indianerin, die auf ihrem Pferd über die Prärie reitet. Bei den Kindern erleben wir, wie spannend es ist, andere Rollen auszuprobieren und sich fremde Identitäten zu leihen.
Was meint der Schreiber des Kolosserbriefs mit den neuen Kleidern? Es heißt dort: „Zieht an herzliches Erbarmen, Freundlichkeit, Demut, Sanftmut und Geduld…Über alles aber zieht an die Liebe, die da ist das Band der Vollkommenheit.“ Die alten Kleider hatten seine Adressaten schon vorher abgelegt, Zorn, Grimm und Bosheit hatten sie ausgezogen. Jetzt probieren sie anderes an. Wird ihnen das passen? - Kann das zu uns passen? Ich finde, es klingt gut, obwohl es viel auf einmal ist. Aber wenn wir es einfach mal probieren und uns dazu verlocken lassen, freundlich zu sein, anstatt uns über jemand anderen aufzuregen, gelingt es womöglich. Wenn wir mit uns und anderen geduldig sind und uns mehr Zeit nehmen anstatt zu hetzen, tut es allen gut. Wenn wir den unteren Weg gehen und nicht danach streben müssen, besonders toll zu sein und auf der Gewinnerseite zu stehen, erklingt ein neuer Ton.
Zum Schluss wird um all die neuen Gewänder als Schärpe die Liebe geschlungen. Sie hält alles zusammen und ist „das Band der Vollkommenheit“. Wenn wir uns die Liebe zum Leitstern nehmen, fügt sich das andere von selbst. An ihr können wir uns ausrichten und uns von ihr zusammenhalten lassen.
Das Schöne beim Anprobieren der neuen Kleider ist das Spiel. Wenn ich ein neues Gewand anlege, ist das nicht für immer, sondern zur Probe. Wer weiß, vielleicht bin ich mit dem „neuen Look“ so zufrieden, dass ich dabei bleibe. So möchte ich auch unseren Bibeltext verstehen, er sagt uns: Probiert es doch mal. Vielleicht gefällt es euch so, das ihr gar nichts anderes mehr wollt als unter dem Leitstern der Liebe zu leben. Vielleicht braucht ihr manchmal wieder die alten Kleider, einen heftigen Zorn zum Beispiel. Aber ihr wisst ja, die neuen hängen im Kleiderschrank, nehmt sie wieder heraus, die Freundlichkeit und das Erbarmen, und tragt sie. Gott gefällt das.
Warum lesen wir diesen Abschnitt aus dem Kolosserbrief zum Sonntag Kantate, habe ich mich gefragt. Erst am Schluss beantwortet sich diese Frage: „Singt Gott dankbar in euren Herzen mit Psalmen, Lobgesängen und geistlichen Liedern“, heißt es dort. Für mich ist das Singen etwas besonders Schönes, weil es uns ganz erfüllt und Herz und Seele mit einbezieht. Es bringt uns näher zu Gott. Ein Gottesdienst lebt für mich wie für viele andere auch von den Liedern, die wir singen, und der Musik, der wir lauschen. Andere Saiten als bei bloßen Worten werden angeschlagen, neue Schwingungen sind zu spüren und erreichen unser Herz. Bei den älteren Liedern im Gesangbuch gibt es häufig Strophen, über die ich stolpere, gerade wenn viel von Sünde und Tod die Rede ist. Aber andererseits trägt mich die Musik auch über manche Stellen hinweg, die ich als gesprochen Wort schwer erträglich finde.
Hier passt wieder das Bild von den Kleidern, die ich mir probeweise anziehe: Es sind die Kleider der Großeltern und Urgroßeltern, die ich in einer alten Kiste finde und staunend heraushole. So hat man sich damals angezogen, ob mir das auch steht? Ähnlich ist es mit den überlieferten Liedern: So haben es frühere Generationen ausgedrückt und gesungen – vielleicht kann ich dort auch etwas finden, das mich anrührt, obwohl immer ein Stück Fremdheit bleibt. Die alten Kleider, die alten Lieder, passen mir nicht ganz, aber ich darf sie mir ausleihen und mich darin neu anschauen. Vielleicht behalte ich sie am Ende, weil sie mir inzwischen ans Herz gewachsen sind und gefallen.
Mir geht es so mit einem Osterlied, das ich früher nur sperrig und merkwürdig fand. Aber inzwischen ist es mir ans Herz gewachsen, weil ich es jedes Jahr zu Ostern singe und es einfach dazu gehört. Ich kann mich über die Bilder freuen, die nicht die sind, die ich gebrauchen würde, die aber deutlich von dem sprechen, was für mich zentral ist: Der Tod konnte Jesus nicht halten. Er, Gottes Sohn, ist mächtiger als der Tod. Er lebt und nimmt uns mit hinein in das neue Leben. Er lässt uns singen:
Auf, auf, mein Herz, mit Freuden,
Nimm wahr, was heut' geschieht!
Wie kommt nach großem Leiden
Nun ein so großes Licht!
Mein Heiland war gelegt
Da, wo man uns hinträgt,
Wenn von uns unser Geist
Gen Himmel ist gereist.
Er war ins Grab gesenket,
Der Feind trieb groß Geschrei.
Eh' er's vermeint und denket
Ist Christus wieder frei
Und ruft: Viktoria!
Schwingt fröhlich hier und da
Sein Fähnlein als ein Held,
Der Feld und Mut behält.
(EG 112,1+2)
Amen.