Lebensleere, in Jesu Kreuz eingeräumt und voll und still ausgeräumt - Predigt zu Kol 1,13–20 von Markus Kreis
13Er hat uns errettet aus der Macht der Finsternis und hat uns versetzt in das Reich seines geliebten Sohnes, 14in dem wir die Erlösung haben, nämlich die Vergebung der Sünden. 15Er ist das Ebenbild des unsichtbaren Gottes, der Erstgeborene vor aller Schöpfung. 16Denn in ihm wurde alles geschaffen, was im Himmel und auf Erden ist, das Sichtbare und das Unsichtbare, es seien Throne oder Herrschaften oder Mächte oder Gewalten; es ist alles durch ihn und zu ihm geschaffen. 17Und er ist vor allem, und es besteht alles in ihm. 18Und er ist das Haupt des Leibes, nämlich der Gemeinde. Er ist der Anfang, der Erstgeborene von den Toten, auf dass er in allem der Erste sei. 19Denn es hat Gott gefallen, alle Fülle in ihm wohnen zu lassen 20und durch ihn alles zu versöhnen zu ihm hin, es sei auf Erden oder im Himmel, indem er Frieden machte durch sein Blut am Kreuz.
„Ah so was, die Flasch´ is´ joh voll leer!“ Sagt ein Mannheimer Junge, wenn er enttäuscht sieht: Die letzte Flasche seines Lieblingssafts enthält nur noch Luft. Und dabei fühlt sich mancher wie das „einzigste“ Kind auf der Welt: Nur ich allein muss diesen Saft entbehren. Stilmäßig hat der Junge sich fragwürdig ausgedrückt. Belächelt, ausgelacht, belehrt, oder gar beleidigt - mit der einen oder anderen Entgegnung muss er rechnen.
Dabei wird vergessen: Zum einen lernen Kinder die Sprache erst noch. Zum anderen haben sie von den Älteren abgeschaut, machen es wie sie: Sie kürzen sprachlich gerne ab. Und dann gibt das Gesagte vielleicht nur einen Teil der Vorstellung wieder, die tatsächlich im Kopf herrscht. Ein Problem vieler männlicher Azubis an der Berufsschule, in der ich unterrichte.
Die Flasche ist voll leer. Rein sachlich gesehen hat der Ausdruck auch was für sich. Es geht ja um einen Hohlkörper. Der hat innen und außen eine Oberfläche. Und die innen ist vollumfänglich unbedeckt, frei von einem weiteren Stoff. Will sagen ohne flüssigen Inhalt, geleert. Wäre da etwas entgegen den Tatsachen drin – dann müsste das sich dank der Schwerkraft irgendwo innen an der Oberfläche etwas niederschlagen. Ist nicht der Fall, also ist die Flasche voll leer. Schlechter Stil heißt nicht gleich, dass man blöd ist. Die vollumfängliche Flasche ist die Messgröße, um die es geht. Leer, das ist der Wert der Füllskala, hier gleich null.
Das Kreuz Jesu ist die Messgröße. Und es ist voll leer. Das heißt: Wegen der Grablege befindet sich Jesus woanders. Am Kreuz ist er nur noch auf Kruzifixen. Steht wenigstens das Kreuz im Original noch? Oder seine Holzsplitter, die heilige Andenken geworden sind? Wer weiß, wo die herstammen. Was soll überhaupt das Ganze? Man kann die Sache so sehen. Allerdings gilt es dann zu beachten: In dieser Denke stellt die Leere, das Nichts, die Messgröße dar, um die es geht. Und die Fülle den Skalenwert dazu. Leerer und nichtiger geht es wohl kaum! Sehen wir die Sache also andersrum an.
Sterben musste Jesus so oder so. Das muss jeder Mensch. Und Jesus ist voll und ganz Mensch gewesen, ohne jede Einschränkung. Dass er sterben musste, das ist nur natürlich. Weniger natürlich ist die Art, wie er sterben musste: am Kreuz. Gerichtet von seinen Mitmenschen als ob er ein gottloser Verbrecher wäre.
Das Kreuz Jesu ist die Messgröße, und es ist voll leer. Darin verbirgt sich eine weitere Bedeutung, schwer und leicht zugänglich zugleich. Darin steckt etwas, das weniger verständlich ist, geradezu unglaublich. Etwas, das wie ein Geheimnis bleibt - obwohl das Kreuz öffentlich begangen, gefeiert und besprochen wird. Etwas, dessen Anspruch man zwar wörtlich verstehen kann, dem aber viele innerlich widersprechen.
Das Kreuz hat eine alte Bedeutung eingebüßt. Wer am Kreuz hing, der galt den Menschen als absolute Null, auch vor Gott. Und diese Null ist mit Jesu Kreuz annulliert worden. Gott hat es initialisiert. Damit ist das Kreuz zu der einen Wahrheit über Gott und den Menschen geworden! Hat andere Ideen zu Gott und Mensch als leer und nichtig erwiesen. Diese eine Wahrheit lautet: Das Kreuz steht für die sich still räumende Leere zwischen Gott und Jesus. Und es steht für die sich still räumende Leere zwischen Gott und Menschen ohne Gott.
Was für ein Wechsel und Wandel. Der sich zumindest dem Sinn nach leichter versteht, wenn klar wird: Statt einer von vielen gottlosen Verbrechern - Jesus ist der eine Mensch direkt aus und mit Gott. Der Gekreuzigte ist der lebendige Sohn Gottes. Er ist das eine Wort, das Gott in die leere Finsternis des Todes gesprochen hat.
Die Verse 15 bis 20 zeigen den Glauben der Kolosser an diese Wahrheit. Eine Hymne auf Jesus. Das Kolosserlied. Die Gemeinde besingt den Gekreuzigten. Sie spielt sozusagen ein Lied vom Tod. Und das heißt bezogen auf Jesus genauer: Sie spielt das Lied vom Tod Jesu und dessen Leben aus Gott. Jesus ist dieser eine und erste Mensch, der voll und ganz aus und mit Gott ist. Ein ermordeter Mensch als ewiger Gottessohn. Das haben sich Gläubige seit den Anfängen der Kirche immer wieder gesagt. Und ein Kolosserlied singt man nur, wenn man von Herzen einstimmt. Wie kleinlaut auch immer. Hymnus für einen Helden. Besonders geliebt sind Helden, bei denen im Moment ihrer großen Taten zu spüren ist, wie zerbrechlich sie sind. Dass ihr Scheitern und Missgeschick ihrem Ruhmtaten stets beiliegt.
Der Mensch Jesus am Kreuz, nur eines von vielen Justizopfern in Ohnmacht. So anders als die Kolosser kann man das auffassen. Und den Kopf schütteln, wenn Gläubige dazu sagen: Dank Gott der eine und erste Denker und Macher in aller Welt. Im Geheimen potenter und mächtiger als all die bekannten und geheimen Gedanken, Worte und Taten der Reichen, Starken und Klugen. Ja, da kriegst Du doch die Tür nicht zu, Gerede, übergeschnappt. Eine zum Verstummen gestillte Stimme, die Hörer taub und sprachlos zurücklässt. Und die Schwindsucht der Volkskirche mag diesen Zweifel bestätigen. Der umso mehr befeuert wird, wenn es dann heißt: Dank Gott verschafft sich dieses einsame Stimmchen seine Hörer, gibt ihnen neu Sinn und Bedeutung in Kopf und Körper. Was sich wiederum in deren Sprache und Gesang zeigen kann. Obwohl damit kaum eine Gemeinde DSDS gewinnen wird. Da bleibt einem doch Spucke und Sprache weg. Die Texte von und über Jesus, zerfleddert und geschreddert auf dem Müllhaufen der Geschichte verteilt. Von der Kirche hinterrücks der Welt aufgedrückt. Das Denken und Fühlen der Menschen vernebelnd. Guckt doch nur die Geschichte an, was die Leute der Kirche da alles getrieben haben. Und die Wissenschaft, die erweist doch, dass das leerer Mumpitz ist. Da kann die Kirche noch so oft sagen: Dank Gott sind die Texte der Schrift die eine Kraft, nach der sich alle Welt steuert und regelt. Egal welcher Widerstand auftaucht und ihr entgegen am Werk steht. Was übrigens auch dann gelten soll, wenn die Arbeit gegen Gott aus der Kirche selbst stammt und kommt. So viel Lärm um so viel Leerlauf! So kritisch kann man das sehen, man kann das alles bezweifeln, als vollmundig und umso mehr voll leer. Es ist doch so, wie wenn man die Wohnung eines Toten räumt: Dann verfällt dessen irdisches Hab und Gut, vom Erbe mal abgesehen. Und es zieht einfach jemand Neues als Nachfolger ein. Was soll da bei Jesus anders sein? Genauso verhält es sich!
Das Kreuz Jesu ist voll leer. In diesem Wort verbirgt sich eine weitere Bedeutung, ebenso schwer und leicht zugänglich zugleich. Im Kreuz räumt sich still die Leere zwischen Gott und Menschen ohne Gott. Auch hierin steckt etwas, das wenig verständlich ist, geradezu unglaublich. Etwas, das wie ein Geheimnis bleibt - obwohl Vergebung öffentlich und privat begangen und versprochen wird. Etwas, dessen Anspruch man zwar wörtlich verstehen kann, aber mit dem die Gefühle vieler im Streit liegen.
Im Kreuz räumt sich still die Leere zwischen Gott und Menschen ohne Gott. Es ist Zeichen der Erlösung und Vergebung statt Henkerszeug, das Schande und Verderben bringt. Annulliert es doch den Nullkontakt zwischen Gott und Mensch ohne Gott. Und so ist es zur der einen vollen und ganzen Wahrheit für alles Geschaffene geworden, und damit auch für die Menschen. Denn Gott kommt mit seinem Leben zu allem, was ohne Gott ist, bis in dessen Tod. Und anstatt all den menschlichen Null zu drohen und sie zu maßregeln vergibt Gott. Überwindet von sich aus die Leere.
Menschen ohne Gott. Wer ist das, was heißt das? Das weiß allein Gott am besten. Überwindet er doch von sich aus den Nullkontakt, den Menschen von sich aus immer wieder aufziehen. Sind es die, welche die Ordnungen und Regeln verletzen? Oder sich über die Gefühle anderer hinwegsetzen. Die, die von unguten Gefühlen beherrscht sind? Kann man auch unbewusst gottlos sein, oder geht das nur bewusst? Kann man absichtlich ohne Gott sein, oder auch irrtümlich? Allein Gott weiß das. Manch ein Mensch erkennt im Nachhinein, dass er es gewesen ist.
Mensch ohne Gott zu sein, das heißt im Grund verzweifelt zu sein. Sogar ohne es zu merken, kann sich das Gefühl in einem jedem still breit machen. Weder aus noch ein wissen. Nur noch leer zu sehen: Alles geht böse aus. Und durch das eigene Versagen ist das genauso verdient. Nur noch fühlen, dass man für sein Versagen ausschließlich blinde Vergeltung findet. Eine Einbahnstraße, Entgegenkommen ausgeschlossen, kein Ausweg nirgends. Selbst wenn einem im Leben viel Böses vergeben und viel Gutes entgegengebracht worden ist. Nur noch Missgeschick zu kriegen, diese Leere schmiert sich über das ganze Leben statt schnell zu versanden. So ölig, dass man übersieht, wenn denn tatsächlich Chancen auftauchen, dass die Wirklichkeit ganz anders ist. So wie einer, der, wenn er Süßes sieht, das Teilchen unbedingt essen muss. Und dem dabei entgeht, dass er im Grunde voll und ganz satt ist. So wie einem, der aus lauter Missgefühl einem Mitmenschen am liebsten aus dem Weg geht: Dem es chronisch entgeht, wenn man sich denn mal trifft, dass der andere gerade neutral gestimmt ist, oder ihn sogar loben will, oder anderes gutes Neues bringt.
Der eine und erste Mensch sein. Da sind einige auch vorne dabei, obgleich es um Leiden und Missgeschick geht. Erstaunlich, oder? Hier, hier, sagen diese dann laut oder leise. Und heben mindestens innerlich Arm samt Finger. Obwohl es nur Leere und Missgeschick zu verteilen gibt. Ich allein, als ob nur mir das Recht zustünde, mit derlei Unglück bedacht zu werden. Entweder mit Angeboten, die einem entzogen sind, oder solchen, die einem zuwider sind. Seien es Angebote im Beruf oder Privatleben, oder aus Politik oder Wirtschaft. Viele sind auch dann ganz vorne dabei. Doch erstens kommt es anders und zweitens als man denkt. Solche Menschen vergessen, dass sie für Gott erhaben bleiben, selbst wenn sie nur zu den hinteren Plätzen gehören. Dass Gelingen oder Glück weiter in der Luft liegen. Dass ein Ende des Endes und der Leere kommt.
Solche Menschen entfliehen manchmal ihrer Leere und Verzweifeln. Gern in eine Fülle, die allerdings eine Scheinfülle ist: in das Gefühl, die volle Kontrolle zu kriegen. So versuchen sie, mit aller Macht zu vertuschen, wie verzweifelt leer sie sind. Brechen dann lieber alles entzwei, was einen scheitern lassen könnte. Bringen Menschen, die einem widerstehen zum Verzweifeln. Zweifeln Gesetze an, die einem im Weg stehen. Bezweifeln Versprechen, wenn sie meinem Interesse zu wider laufen. Zweifeln an der Wahrheit. Wollen am liebsten den blöden Zufall zwingen. Ihn einengen und beenden, um uns wieder frei zu fühlen. Kampf und Konflikt ohne Ende und Grenze.
Leere und vollmundige Kämpfe und Krämpfe, die enden müssen und werden. Der Mensch kämpft mit schierer Kraft gegen jedes Ende, das er ablehnt. Ja, auch dagegen, dass ein böses Ende wie leere Verzweiflung für ihn endet. Oft so stark, dass es schon eine falsche Grammatik braucht, um diesen Fehler richtig passend zu beschreiben: Ich bin der Einzigste, dem das so geht, nur ich allein. Sollen Lehrer oder Redakteure ruhig schimpfen oder spotten. Wenn einer so einsam verzweifelt im leeren Raum steht, welcher Satz soll diesen Denkfehler bitte besser und kürzer beschreiben?
Allein mir widerfährt laufend Unrecht und Missgeschick! Diese Denke ist das Ende jeden Anfangs. Denn niemand ist so einsam und allein, dass er der Einzigste ist. Gott kommt mit seiner Fülle und seiner Lebenskraft immer hinzu, auch zu jedem Tod und Sterben, auch zum Sterben und Enden eines Missgeschicks. Dank Jesu Kreuz kann sich jeder eingestehen, dass es sich in ihm genauso verhält: Verzweifelt an Lebensleere. Dem Kreuz sei Dank kann jeder auf ein Ende seiner Leere und Verzweiflung in Frieden hoffen. Ist doch jeder mit Jesus im Glauben der Erste und Einzigste, dem so was widerfährt. Jesu Ende bedeutet das Ende von Leere und Verzweiflung in eines jeden Leben. Alles wird in Hoffnung, Frieden und stiller Freude für einen ausgehen. Ende gut, alles gut. Und wenn das Ende nicht gut ist, dann findet sich dessen Ende und ein neuer Anfang. Lebensleere, in Jesu Kreuz still und voll geräumt für uns. Amen.
1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Die Predigt ist nur für dieses Portal verfasst, also zum Lesen. Meine Schüler:innen, Azubis in IT- oder Energieberufen, sind mir wahrscheinlich mehr oder weniger verdeckt präsent beim Denken, Formulieren und Tippen.
2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Dass grammatische oder stilistische Fehler eine ihnen eigene (begrenzte) Wahrheit ausdrücken können.
3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Dass der Kolosserhymnus einen aus dem Weg geräumten als die Fülle Gottes bejubelt, der Lebensleere räumt.
4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Einer der dankenswerten Hinweise des Coachs hat mir gezeigt, dass ich inhaltlich teils eher Gewölle als Faden produzierte habe. Manche Textteile versuchte ich dann stärker am Widerspiel der Leitdifferenz Fülle/Leere auszurichten, Textelemente, die eine andere Bildebene bespielten, habe ich gestrichen.
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Geheimtipp - Predigt zu Kol 2,3-10 von Matthias Loerbroks
Jetzt hatten wir die Bescherung. Jetzt ist alles ausgepackt, ausgewickelt. Das gehört ja zum Reiz des Schenkens und Beschenkt-Werdens, dass Geschenke meist nicht roh und unverhüllt überreicht werden: Da, nimm! Da hast du das Deine. Wir geben uns Mühe mit dem Einwickeln, suchen schönes Papier aus, oft glänzendes. Ob es beim Auspacken ähnlich behutsam und sorgfältig zugeht, hängt freilich vom Temperament, von Geduld oder Ungeduld der Beschenkten ab. Dies Verpacken soll die Spannung steigern, soll die Überraschung noch einen kleinen Moment hinauszögern. Vor allem aber wollen wir den Wert und die Bedeutung des Geschenks durch die Schönheit der Hülle hervorheben.
Mit Weihnachten selbst ist es ähnlich. Wir schmücken unsere Kirchen, unsere Wohnungen und hoffen dabei darauf, dass dies eine Hülle sein wird für ein wunderbares Geschenk, etwas Wertvolles und rundum Erfreuliches: große Freude. Das ist auch der Grund, warum zu Weihnachten viele Menschen in die Kirche gehen, die das sonst nicht tun. Sie haben die vage Ahnung, die zaghafte Hoffnung, dass in der vertrauten, trotzdem geheimnisvollen Weihnachtsgeschichte und auch in den Liedern etwas drinsteckt, das für das eigene Leben, vielleicht für das Leben aller Menschen unendlich wichtig und wertvoll ist, hilfreich und tröstlich: große Freude. Diese Erwartung wird vielleicht nicht immer erfüllt – heute sind wir hier ja schon wieder etwas weniger als gestern. Es ist nicht leicht auszusagen, auszupacken, was das Geheimnis, was die Botschaft, das Geschenk der Weihnacht ist.
Doch unser heutiger Predigttext aus dem Kolosserbrief bestätigt und bestärkt diese Erwartung. Er sagt von Jesus Christus: In ihm sind alle Schätze der Weisheit und der Erkenntnis verborgen. Alle Schätze, aber verborgen, verhüllt – das klingt wie ein Geheimtipp: Hier ist was zu finden und was zu holen, was nicht offensichtlich ist, aber sehr, sehr wertvoll. Wenn wir bei einem Schatz an Gold, Silber oder Juwelen denken, spielt gewiss auch der materielle Wert mit, der Tauschwert. Wenn wir einen geliebten Menschen einen Schatz nennen, wird uns sofort klar: Von Tausch kann hier gar keine Rede sein; mit Schatz meinen wir das, was uns freut, uns beglückt. Ich sehe dich mit Freuden an und kann mich nicht sattsehen, heißt es in einem Lied Paul Gerhardts. Und in einem anderen greift der Dichter und Pfarrer unseren Geheimtipp auf und gibt ihn weiter: Die ihr arm seid und elend, kommt herbei, füllet frei eures Glaubens Hände. Hier sind alle guten Gaben und das Gold, da ihr sollt euer Herz mit laben. Wir würden freilich bei solchen Schätzen nicht unbedingt und jedenfalls nicht zuerst an Weisheit und Erkenntnis denken. Doch mit dem Wort Erkenntnis ist nicht graue Theorie, trockener Lernstoff gemeint. Erkennen – das ist in der Bibel auch das Wort für Sex, was signalisiert, dass für ihre Autoren Erkenntnis was mit Lust und Liebe zu tun hat, mit Glück.
Ein verborgener, verhüllter Schatz. Doch anders als bei unseren Weihnachtsgeschenken ist die Verpackung hier kein Schmuck, keine Zier, um die Gabe hervorzuheben, auf ihren Wert aufmerksam zu machen, das Liebevolle des Geschenks zu demonstrieren. Im Gegenteil: so unscheinbar wie nur möglich, etwas paradox gesagt: Geradezu auffällig unauffällig ist diese Verhüllung. Davon erzählt die Weihnachtsgeschichte des Lukas. Geburten gibt es viele, jeden Tag, und die meisten Neugeborenen werden in Windeln gewickelt. Und leider geschehen nicht wenige dieser Geburten unter prekären Bedingungen, in Notunterkünften. Dass in diesem einen Menschen lauter Schätze sind, das sieht man ihm nicht an. Das muss einem erstmal gesagt werden. Und das geschieht auch. Der Glanz, die Herrlichkeit Gottes strahlt auf Erden, erscheint den Hirten, und ein Bote Gottes, ein Engel verkündet große Freude – für alle. Und dann werden die Hirten selbst zu Weihnachtsengeln, zu Boten Gottes. Sie sagen weiter, was ihnen gesagt wurde. Sie loben und preisen Gott wie zuvor die Engel. Auch ihre Botschaft richtet sich an alle: Alle, an die es kam, staunten.
Etwas von einem verborgenen Schatz klingt auch an im Beginn des Johannesevangeliums, in der Weihnachtsgeschichte des Johannes. Das Wort wurde Fleisch, heißt es da – das Wort, das im Anfang war, das Wort: Es werde Licht, das wird nun ein Mensch, wird allen Menschen zum Mitmensch. In unser armes Fleisch und Blut verkleidet sich das ewig Gut, heißt es in einem Weihnachtslied Martin Luthers. Johannes fährt fort: Wir sahen seine Herrlichkeit, seinen Glanz, doch offensichtlich ist das nicht, was da gesehen wurde, sondern verhüllt, verborgen: verkleidet in unser armes Fleisch und Blut. Auch bei Johannes bedarf es darum eines Hinweises, eines Tipps, eines Boten Gottes, der auf diesen verborgenen Schatz aufmerksam macht. Es geschah: Ein Mensch, von Gott gesandt, Johannes sein Name, der kam zum Zeugnis; um das Licht zu bezeugen, auf dass Alle – auch diese Botschaft richtet sich an Alle – durch ihn Glaubende werden. Er war nicht das Licht, sondern kam, um das Licht zu bezeugen.
Wir hörten auch, wie im Jesajabuch ein solcher Bote als Freudenbote gepriesen wird. Er macht die Völker der Welt darauf aufmerksam, dass in Israel Großes geschehen ist: Der HERR hat sein Volk getröstet und Jerusalem erlöst. So hat er seinen heiligen Arm offenbart vor den Augen aller Völker, dass sie sein befreiendes Handeln sehen. Dass im kleinen, weltgeschichtlich unbedeutenden Volk Israel Entscheidendes für alle Welt geschieht, das sieht man ihm nicht an. Dass seine Geschichte der heimliche rote Faden der Weltgeschichte ist, darauf muss man erstmal kommen. Da braucht es Hinweise, Zeugen, Boten: Geheimtipps. Johannes spielt darauf an, wenn er schreibt: Das Licht scheint in der Finsternis – Israel als Licht der Völker in der Finsternis der Völkerwelt. Die Finsternis hat dies Licht nie begriffen, sie hat es aber auch nie ganz auslöschen können. Und Lukas stellt dem Kaiser, dem Goliath in Rom den kleinen Davidsohn in Bethlehem gegenüber und entgegen.
In Kolossä aber sucht und erwartet man Kolossales: allgemeine Theorien, Grundprinzipien und Grundgewalten, nach denen die ganze Welt organisiert ist und funktioniert und durch deren Erkenntnis sich auch Sinn für das eigene Leben finden lässt. Die kleine Geschichte, von der die Bibel erzählt, unbedeutend und unscheinbar, am Rand der großen Weltgeschichte, galt als wenig eindrucksvoll, etwas genierlich auf dem Forum der Weltöffentlichkeit und vor allem ihrer Weisen. Unser Briefschreiber hält davon nichts. Solche angenommenen oder tatsächlichen Grundprinzipien sind ja Mächte des Bestehenden – die biblische Geschichte, so klein und unscheinbar sie ist, zielt hingegen auf Veränderung der ganzen Welt. Der Autor pflichtet da einem späteren Sohn seines Volkes bei und sagt ungefähr: Diese Philosophien der Tradition und der Grundgewalten haben die Mächte des Bestehenden nur verschieden – und nicht einmal sehr verschieden – interpretiert, Jesus aber und dem Evangelium kommt es darauf an, die bestehende Weltordnung zu verändern.
Andere in Kolossä schürfen tief in ihrem Inneren, versuchen durch Konzentrationsübungen, bestimmte Ernährung oder Fasten, Meditation und Versenkung das geheimnisvolle eigene Selbst zu erkunden und in dessen Tiefe auch göttliche Geheimnisse aufzuspüren. Auch davon rät der Briefschreiber ab. Die Wahrheit über uns selbst ist nämlich auch noch verhüllt. Unser Leben ist mit Christus verborgen in Gott, schreibt er.
Er will unser ratloses Suchen nach Sinn und Orientierung, unseren verzweifelten Wunsch nach Hilfe ganz woanders hin lenken. Nicht im Großen und Ganzen, auch nicht in deinem Inneren wirst du irgendwas wirklich Tröstliches, Hilfreiches, was zum Freuen finden. Das ist der Pfiff, der Clou, die Pointe der ganzen Bibel: wenn du wissen willst, wer Gott ist und wie er ist und was er will; wenn du in all deiner Finsternis nach Licht suchst, nach Trost und Sinn – dann musst du auf ein kleines Volk am Rand blicken, nicht besonders eindrucksvoll, eher unscheinbar: das Volk Israel. Da muss man erstmal drauf kommen.
Auch Lukas will unseren Blick umlenken, konzentrieren auf eine kleine Randgeschichte, erklärt sie zum Mittelpunkt. Er beginnt mit dem imperialen Blick von oben auf alle Welt. Der Kaiser befiehlt und alle gehorchen. Er will die bestehenden Machtverhältnisse erhalten und finanzieren. Doch sogleich lenkt der Erzähler unseren Blick auf die Randprovinz Syrien, zu der auch das Land Israel gehörte, nennt beiläufig Quirinius, den dort mächtigen Stellvertreter des übermächtigen Kaisers, nimmt dann aber nur ein junges Paar im Lande Israel in den Blick, Maria und Joseph, konzentriert sich schließlich ganz auf den Bauch der Maria: die war schwanger. In dieser Schwangerschaft sind alle Hoffnungen und Erwartungen Israels, alle Sehnsüchte der Menschheit gebündelt.
Am Ende unseres Abschnitts redet der Verfasser vom verborgenen Schatz noch einmal in etwas anderen Worten: In ihm, in Jesus Christus, wohnt die ganze Fülle der Gottheit leibhaftig. Aufs Leibliche kommt es der Bibel an – rein Geistiges ist ihr fremd und unheimlich. Darum ist Weihnachten, ist schon die Geburt Jesu so wichtig. Ehe er überhaupt eins seiner tröstlichen und strengen, seiner beherzigenswerten Worte gesagt, eine seiner befreienden Taten getan hat, wohnt in ihm, dem Armen ohne festen Wohnsitz, die ganze Fülle Gottes; sie ist dein Mitmensch, dein Bruder geworden. Das Ja-Wort Gottes wurde ein Mensch, verkleidet sich in unser armes Fleisch und Blut. Gott hat sich entschlossen, ganz und gar, mit Leib und Seele, mit Haut und Haaren Gott mit uns, auf keinen Fall Gott ohne uns zu sein. Und so konzentriert er seine ganze Fülle in diesem einen Menschen, der allen Menschen zum Mitmensch wird.
Doch wozu dies Versteckspiel, das Verkleiden, Verhüllen und Verbergen? Es ist kein Kinderspiel, kein Fasching. Inkognito aufzutreten, Undercover, das ist eine Kampfform. Im Verborgenen agiert, wen die Verhältnisse dazu zwingen, im Untergrund zu arbeiten. So geht es Gott auch bei seinem Ziel, uns von den Sklavenhaltern unseres Lebens zu befreien. Die internationale Arbeiterbewegung hat, als es sie noch gab, mal frohgemut übermütig, mal verzagt gesungen: Es rettet uns kein höhres Wesen, kein Gott, kein Kaiser, kein Tribun. Der Gott Israels ist zum selben Ergebnis gekommen: dass er uns nicht – jedenfalls nicht nur – als ein höheres Wesen befreien kann, sondern – jedenfalls auch – verhüllt als unser Mitmensch, der unser Leben teilt und so sein Leben uns mitteilt, uns dafür alles wegnimmt und abnimmt, womit wir uns selbst und einander das Leben so schwer machen.
Unsere Kirche hat oft versucht und versucht es auch heute, ihre Bindung an diese sehr besondere Geschichte mit Israel und mit Jesus zu lockern, etwas allgemeiner von Gott zu reden oder, noch allgemeiner, nicht von Gott, sondern von Spiritualität, von ethischen Werten und kulturellem Erbe. Sie wollte und will damit zeigen, dass sie trotz der provinziellen Wurzeln ihres Evangeliums nicht eng, nicht beschränkt ist, nicht geistig zurückgeblieben. Sie wollte und will damit vor allem Menschen den Zugang zur Kirche erleichtern, denen das alles gänzlich fremd ist. Doch gerade unsere kirchenfremden und kirchenkritischen Mitmenschen würden eine Kirche interessanter finden, die eigensinnig bei ihrem besonderen, auch etwas absonderlichen Stoff bleibt. Sperriges und Kratziges ist verlockender als Glattes. Menschen spüren, wenn die Kirche da ausweicht, dass das aufweicht.
Liebe Gemeinde, sei nicht verzagt und schon gar nicht verbittert darüber, dass das Evangelium nicht Menschenmassen herbeilockt – oder jedenfalls nur selten –, dass es nicht einmal mehr mehrheitsfähig ist. Erwarte keine kolossalen Erfolge. Unser Predigttext macht uns darauf aufmerksam, dass reiche Schätze, dass Gottesfülle in ganz unscheinbarer und unauffälliger Verhüllung zu finden und zu haben sind. Das gilt auch für unsere Gemeinde. So lasst uns wie Maria die Worte dieser Botschaft in unserem Herzen bewegen, ihre Schätze wahrnehmen. Etwas vom Glanz dieser Schätze wird dann schon ausstrahlen, auch anderen aufleuchten und einleuchten. Unser Briefschreiber ist da zuversichtlich. Er schreibt nicht nur: In ihm, in Jesus Christus, wohnt die ganze Gottesfülle leibhaftig. Sondern er fügt sogleich hinzu: in ihm seid auch ihr Erfüllte.
Amen.
P.S. Die Predigt setzt zum einen voraus, dass im Gottesdienst als Evangelium, Joh 1,1–14, ganz gelesen wird, also einschließlich der Verse 6–8, die die Perikopenordnung rausgeschnitten hat; zum anderen, dass statt der Epistel die alttestamentliche Lesung, Jes 52, gelesen wird, was ohnehin naheliegt, da schon der Predigttext aus den Briefen stammt.
1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Zum einen: the morning after the night before – der harte Kern, der heilige Rest, wieder unter sich, vielleicht etwas verzagt angesichts seiner kleinen Zahl, soll gestärkt und bestärkt werden.
Zum anderen: Menschen, die den Heiligabend-Trubel meiden und nun am ersten Weihnachtstag genauer hören wollen, als das am Heiligen Abend möglich ist, worum es in der Weihnachtsbotschaft, im Evangelium geht.
2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Der Kolosserbrief richtet sich an eine winzige Minderheit, in ihrem Glauben unsicher, beeindruckt und angefochten von viel erfolgreicheren Mächten, Gestalten und Wahrheiten. Der Briefschreiber ermutigt sie, indem er gerade der sehr besonderen Israel-und-Jesus-Geschichte höchst universale Bedeutung zuspricht – und damit auch seinen Lesern und Hörern.
3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Die Warnung vor der Philosophie (V.8) hielt ich bisher für ein bisschen borniert, eng und ängstlich, habe aber nun entdeckt: eine Philosophie oder eine Theologie der stoicheia, der Grundmächte, Grundgewalten, begnügt sich damit, das Bestehende zu deuten – Weltdeutung, Lebensdeutung, Sinngebung für Sinnloses –, Jesus aber und dem Evangelium geht es um Weltveränderung.
4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Mein Coach hat mich erfolgreich dazu ermutigt, kräftiger zu formulieren – ohne „vielleicht“, „möglicherweise“, „könnte“. Weniger erfolgreich war er mit seinem Rat, öfter in Ich-Form zu reden. Der hat mir zwar eingeleuchtet, es ist mir aber – aus Gründen, die mir noch nicht ganz klar sind – nicht gelungen, ihn zu befolgen. Vielleicht (das Wort ist hier, denke ich, vertretbar) gelingt das etwaigen Nutzern der Predigt, wenn sie sie ihrerseits redigieren.
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Anziehende Eigenschaften - Predigt zu Kol 3,12-17 von Kira Stütz
Wir hören den Predigttext mit Worten aus dem Brief an die Gemeinde in Kolossä:
12 So zieht nun an als die Auserwählten Gottes, als die Heiligen und Geliebten, herzliches Erbarmen, Freundlichkeit, Demut, Sanftmut, Geduld; 13 und ertrage einer den andern und vergebt euch untereinander, wenn jemand Klage hat gegen den andern; wie der Herr euch vergeben hat, so vergebt auch ihr! 14 Über alles aber zieht an die Liebe, die da ist das Band der Vollkommenheit. 15 Und der Friede Christi, zu dem ihr berufen seid in einem Leibe, regiere in euren Herzen; und seid dankbar. 16 Lasst das Wort Christi reichlich unter euch wohnen: Lehrt und ermahnt einander in aller Weisheit; mit Psalmen, Lobgesängen und geistlichen Liedern singt Gott dankbar in euren Herzen. 17 Und alles, was ihr tut mit Worten oder mit Werken, das tut alles im Namen des Herrn Jesus und dankt Gott, dem Vater, durch ihn.
Gnade sei mit euch und Friede von dem, der da ist, der da war und der da kommt.
Kleider machen Leute
Liebe Gemeinde,
„Last night I dreamed that somebody loved me“, steht tätowiert auf Mariias Hals. Ihr Gesicht ist gerahmt von Blumenranken, eine Spinne ziert ihr Dekolleté. Weitere Blumentattoos umspielen den linken Arm, unterbrochen von anderen Symbolen. Und auch sonst ziert den Körper der 24-Jährigen eine Collage von Bildern und Texten. Ihr Körper ist permanent gekleidet in schwarzer Tinte. Die Rede ist von Mariia Schawschenko und sie ist unter anderem als Model tätig, seit sie es bei „Ukraine’s Next Topmodel“ in eine der letzten Runden geschafft hatte. Von da an spielten Mode, Glamour, Make-Up und Nachtleben eine große Rolle in ihrem Leben. Doch dann kam der 24. Februar. Seitdem hat Mariia ihre teure Kleidung gegen legere Jeans und Langarmshirts getauscht. Sie trägt ihre Haare halb geschlossen, ihr Gesicht bleibt meist ungeschminkt. So kann sie besser in einem Café in Kyjiw Essen für die kämpfenden Soldaten kochen.
Predigttext in Schlaglichtern
Liebe Gemeinde,
erinnern Sie sich noch an die Epistellesung? Sie begann mit einer Aufforderung: „So zieht nun an als die Auserwählten Gottes, als die Heiligen und Geliebten, herzliches Erbarmen, Freundlichkeit, Demut, Sanftmut, Geduld; […] über alles aber zieht an die Liebe, die da ist das Band der Vollkommenheit.“ Es ist diese Kleiderordnung, die mich beim heutigen Predigttext nicht mehr loszulassen scheint.
Kleiderordnung
Mir gefällt Mode. Ich liebe individuelle Kleidung und passe mein Outfit häufig meiner inneren Stimmung an. Fühle ich mich aufgeschlossen und extrovertiert, wird es durchaus bunter und auffälliger. Möchte ich mich lieber zurückziehen oder in der Masse verschwinden, kleide ich mich unscheinbar. Mein Kleiderschrank platzt aus allen Nähten und meine Wohnung hat mehrere Krisenherde, an denen sich die unterschiedlichsten Schuhe türmen. Und das ist schon seit Kindheitstagen so. Bereits im Kindergarten bestand ich darauf, mir meine Kleidung aus dem Schrank selbst rauszulegen, in der Schule habe ich mit Kleidern über Jeans und T-Shirts über Pullovern herum experimentiert. Was ich anziehe und was ich damit ausdrücken will, ist ein zutiefst aktiver Prozess. Ich kann mit der Aufforderung aus unserem Predigttext deshalb grundsätzlich etwas anfangen: Zieht an! Kleidet euch bewusst! Lasst erkennen, dass ihr die Auserwählten Gottes seid!
Gleichzeitig haben die letzten Wochen etwas mit mir gemacht. Vieles in meinem Alltag fühlt sich angesichts der großen Krisen dieser Zeit unbedeutend und belanglos an. Neben Krieg, Pandemie und Klimakrise ist der Weg zum Kleiderschrank ein Witz. Die Frage nach dem passenden Outfit wird durch die Frage nach dem Leid in der Welt in die Bedeutungslosigkeit verbannt. Doch da es sich beim Predigttext nicht um eine Must-Have-Liste des perfekten Frühlingsoutfit in der Harper's Bazaar handelt, sondern um einen Wegweiser für ein friedliches Miteinander, will ich dieser Kleiderordnung eine Chance geben. „So zieht nun an […] herzliches Erbarmen, Freundlichkeit, Demut, Sanftmut, Geduld; […] über alles aber zieht an die Liebe.“
Kleiderschrank des Friedens
Die Metapher des Anziehens ruft in mir unweigerlich den Kontext eines kindlichen Märchens auf:
Es war einmal ein kleines Mädchen mit strohblonden Haaren und bunten Sommersprossen im Gesicht. Ihr Name war Mia und sie lebte in einem kleinen Haus am Ende der Straße links. Eines Tages, als die Sonne den Mond ablöste, blinzelte Mia verschlafen mit ihren Augen, klemmte Mr. Teddybär unter ihren Arm und tapste im Nachthemd zu ihrem Kleiderschrank. Es war ein großer, dunkler Schrank mit schweren Holztüren. Sie quietschten beim Öffnen und Mia hatte allerlei Mühe dabei. Als die Türen nach einiger Anstrengung sperrangelweit auf standen, traute Mia ihren Augen nicht. An der Kleiderstange hingen die außergewöhnlichsten Dinge, die sie je gesehen hatte. Zögerlich griff das kleine Mädchen ein pelziges Gewand. Als sie es zwischen den anderen Kleidungsstücken herausgefischt hatte, ließ sie es vor Schreck fallen. Wieso um alles in der Welt befand sich in ihrem Schrank ein gruseliges Wolfskostüm? Auch die anderen Kleidungsstücke waren merkwürdig anzusehen. Ein Kleid schillerte in den buntesten Farben, ein anderes sah aus wie ein Trauerflor. Daneben hing ein knallroter Mantel sowie ein sonnengelbes Kleid, aber auch ein schwarzer Umhang mit wütenden Neonsymbolen war darin. „Das gibt es doch nicht!“, sagte Mia zu ihrem Teddy. Innerhalb einer Nacht hatte sich der Inhalt ihres Kleiderschrankes vollständig gewandelt. „Wie kann das denn sein?“ Plötzlich bemerkte Mia, dass auf den Kleiderbügeln Worte standen. Wie gut, dass unsere Mia schon lesen konnte. „Freundlichkeit“, stand auf dem Bügel des sonnengelben Kleides. „Angst“ auf dem des Wolfskostüms. Mia schaute sich auch die anderen Bügel an: Erbarmen, Demut, Hoffnungslosigkeit, Sanftmut, Neid, Geduld, Trauer, Freude, Hass, Liebe … Was hatte das nur zu bedeuten? Neugierig schlüpfte Mia in das schillerndbunte Kleid und ganz plötzlich war ihr, als hätte sie Schmetterlinge im Bauch. Mia wollte tanzen und singen, Freude erfüllte ihr Herz.
Liebe Gemeinde, an dieser Stelle hole ich Sie nun leider wieder aus dieser Kindheitsreise heraus. Wenn es nur so einfach wäre. Ein paar Schritte zum Kleiderschrank, das Outfit der positiven Eigenschaften übergestülpt und zack, der gute Mensch 2.0 steht vor Ihnen. Nur leider hängt in meinem Schrank keine Liebe, die ich einfach überstülpen kann.
Das Bild der anziehenden Eigenschaften
„So zieht nun an als die Auserwählten Gottes“. Anziehen, ein Wort, das zumindest im Deutschen eine doppelte Bedeutung hat. Was ich anziehe, kann auf andere anziehend wirken. Das ist auch mit Charaktereigenschaften so. Die Verhaltensweisen im heutigen Predigttext sind dabei die Crème de la Crème der guten Eigenschaften. Wie nur sähe diese Welt aus, wenn jede einzelne Person sich mit diesen Eigenschaften kleiden würde? Oder gar tätowieren? Die Tattoos von Mariia Schawschenko, die an eine unbeschwerte Zeit im Kyjiwer Nachtleben erinnern, kleiden Mariia auch im Keller des Cafés, in dem sie anpackt, um im Krieg zu helfen. Sie muss sich nicht jeden Morgen neu für die Tattoos entscheiden, sie begleiten sie vielmehr wie eine zweite Haut. Wie also sähe die Welt aus, wenn die Kleidung aus unserem Predigttext ebenfalls mit schwarzer Tinte für ewig an uns Menschen säße? „So tätowiert euch herzliches Erbarmen, Freundlichkeit, Demut, Sanftmut, Geduld und die Liebe.“ Eine einmalige Entscheidung für ein Leben im Frieden Gottes und unser Verhalten wäre von dauernder Liebe durchdrungen. Einmal tätowiert, wäre das friedvolle Miteinander omnipräsent. Aber wir wissen alle: So funktioniert das leider nicht. Davon zeugt die Gegenwart auf schmerzhafte Weise und, wenn wir ehrlich sind, auch unser eigener innerer Schweinehund. Es ist, als ob ich mich morgens vorm Schrank für das Kleid der Liebe entscheide, um es nur dann einige Stunden später vor lauter Ärger vom Leib zu reißen und meine Lieblosigkeit zu entblößen.
Die Chance des Neuanfangs
Mir gefällt das Bild des Ankleidens trotz aller Widrigkeiten im echten Leben sehr. Nicht nur, dass vor meinem inneren Auge gleich die Szene mit Mia erscheint, auch macht die Metapher für mich zwei Dinge deutlich: Da ist zum einen die bewusste Entscheidung, ein Leben in Sanftmut und Geduld zu leben – auch wenn ich an dieser Entscheidung immer wieder scheitern werde. Und zum anderen – und das fügt sich daran nahtlos an – bietet die Metapher des Einkleidens die Chance des Neuanfangs. Mindestens einmal täglich wechsle ich meine Kleidung, der Schlafanzug weicht dem Tagesoutfit. Und jeden Morgen neu habe ich die Chance, ein anderes Outfit zu wählen. Wird dieses über den Tag schmutzig, kann ich es auch währenddessen wechseln. Ich kann mir also vornehmen, in Liebe zu wandeln und ich kann daran scheitern. Und dann kann ich es wieder von vorne versuchen. Jeden Tag neu. Gottes Geist stärke mich dabei, sein Frieden regiere in meinem Herzen.
Ein Kleidungsgebet
Ich wünsche mir eine Welt voller Kleiderkammern und Outlets, Zalandopaketen und Concept Stores, die die Kleider des Erbarmens, der Freundlichkeit, der Demut, der Sanftmut, der Geduld und der Liebe allen Menschen zugänglich machen. Ich sehne mich danach, dass die Streitenden gekleidet sind in Frieden, die Hassenden in Liebe, die Hochmütigen in Demut und die Grantigen in Freundlichkeit. Und ich träume davon, dass dein Leib all diese Kleider und Gewänder trägt und in den schillerndsten und buntesten Farben strahlt, so hell und so klar, dass er auf die Menschen anziehend wirkt. Gegürtet mit der Liebe, die da ist das Band der Vollkommenheit. Und ich bitte für mich, dass ich meine triste Kleidung tausche, gegen die in Liebe getränkte Kleidung deines Friedens. Dazu verhilf mir mit deinem Frieden in meinem Herzen.
Amen.
1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Eine Kleinstadtgemeinde in Westfalen, die durch die ortsansässige Industrie geprägt ist. Der Gottesdienst findet in einer gemischten Form am Sonntagmorgen um Zehn Uhr statt. Der Predigttext wird als Epistellesung zuvor gelesen.
2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Aus dem anfänglichen Gefühl, nur Rohmaterial zu haben und niemals ein Ganzes daraus entstehen lassen zu können, weil die Ostertage alle Zeit- und Kraftreserven verbraucht haben, ist mit der Hilfe meiner Predigtmentorin eine Predigt entstanden, die sich wie ein Phönix aus der Asche aus dem bereits vorhandenen Material geformt hat. Darüber kann ich nur staunen.
3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Selten war der Gang zum Kleiderschrank für mich so meditativ und inspirierend wie in den vergangenen Tagen. Für mich funktioniert die Metapher des Einkleidens sehr. Sich auch mental für den Tag zu rüsten und die Seele „einzukleiden“ ist ein Gedanke, der mich momentan im Alltag begleitet.
4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Durch den Mut meiner Predigtmentorin habe ich die zwei Stränge, die die Predigt einst prägten, aufgegeben und mich ganz der Kleidung verschrieben. Damit ist zwar das Proprium Kantate nicht mehr explizit Teil der Predigt, aber der künstliche Spagat zwischen Kleiderordnung und Singaufforderung ist einem roten Faden gewichen.
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Was hindert es zu taufen? - Predigt zu Kol 2,12-15 von Bert Hitzegrad
Gnade sei mit uns und Friede von Gott, unserem Vater und dem Herr Jesus Christus! Amen.
Liebe Gemeinde!
„Ist die Kleine schon getauft?“ Die ältere Dame im Zugabteil schaute von ihrer Lektüre auf. Lotte war unruhig geworden, Jan hatte die Windel überprüft und festgestellt, dass sie übervoll war. Er tauschte kurz die Blicke mit Nina, seiner Frau und Mutter von Lotte – und es war klar: Er war dran. Das musste schnell hier im Abteil gehen. Im kleinen Koffer war alles für diesen Notfall dabei. Nur nicht die passenden Antworten auf die Fragen irgendwelcher Mitreisenden. „Sie meinen?“ „Na, ob die Kleine schon getauft ist? Sie trägt doch ein Kettchen mit einem Engel …. Als meine Kinder so klein waren, da durften wir bis zur Taufe das Haus nicht verlassen …! Es hätte ja was passieren können!“
Eigentlich war Jan jetzt zu sehr mit seinen väterlichen Pflichten beschäftigt, um auf den leisen Vorwurf einzugehen. Ja, Lotte hatte von Ninas Schwester eine Kette mit einem Engel bekommen. „Der soll Dich beim Start ins Leben beschützen“, hatte sie gesagt. „Denn so ein kleiner Mensch wie Du braucht ganz viel Schutz!“ Inzwischen hatte sich der Duft des Windelinhalts im Zugabteil ausgebreitet. Jan schaute entschuldigend zu seinem Gegenüber. Die winkte nur lächelnd ab. „Wer selbst fünf Kinder groß gemacht hat, der kennt das und freut sich, wenn die Kleinen mit trockener Windel wieder strahlen … Wenn’s immer so leicht wäre im Leben!“ Jan spürte: Sie bleibt dran an der Frage: Ist die Kleine schon getauft? „Nein, ist sie nicht!“, hätte er am liebsten trotzig gerufen. Aber dann hätte sich Nina sicherlich auch zu Wort gemeldet und ihre Position zum hundertsten Mal verteidigt: „Sie soll sich später selbst entscheiden!“
In Ninas Familie, die urspünglich aus der DDR kam, gibt es diese Tradition nicht, dass ein Kind gleich in den ersten Monaten seines Lebens getauft wird … „Selbst entscheiden!“ Wofür wird Lotte sich entscheiden – für die Geschenke bei der Konfirmation oder das fehlende Geld für den Führerschein? Jan erinnert sich noch gut an die „ungetauften“ Mitkonfirmanden in seinem Jahrgang, wie es ihnen peinlich war, kurz vor der Konfirmation vor der ganzen Gemeinde getauft zu werden. Taufe – da schwingt doch Freude und Glück für das Leben mit …
Er hätte Lotte gern getauft. In seiner Familie gibt es ein altes Taufkleid, in dem Kinder aus vier Generationen schon getauft wurden, auch sein Großvater. Das war kurz bevor sie sich 1944 mit dem Treck auf die Flucht von Ostpreußen in Richtung Westen gemacht haben. Das Kind war getauft. Ob die Last der Flucht und die Sorge um das Leben dadurch leichter waren?“ Bald würde Lotte das alte Taufkleid nicht mehr passen!
„Meine Kinder sind alle getauft, auch meine Enkel“ meldet sich die mitreisende Dame wieder zu Wort. „Jürgen hat sogar eine Nottaufe bekommen – er ist mit einem Herzfehler geboren, hat sich aber später zurecht gewachsen. Der ist ein kräftiger Kerl geworden!“ Ob das an der Taufe im Krankenhaus lag?
Lotte ist kerngesund. Sagen die Ärzte. Gut, die Koliken, so wie gerade eben, quälen sie immer wieder. Aber mit sechs Monaten sollte das bald vorbei sein. Auch die Zeit zum Taufen? Aber irgendetwas wird immer sein in ihrem Leben, das sie quält. Bei den Koliken liebt sie es, wenn sie ihr im Uhrzeigersinn über den Bauch streichen … Aber wie wird es sein, wenn der erste Liebeskummer kommt, die Erfahrung, dass Menschen auch unehrlich sein können, die Angst vor der Klimakatastrophe, Kriege, die diese Welt erschüttern … ob ihr da der kleine Engel an dem goldenen Kettchen hilft und über den Kopf streicht? Oder müsste da nicht einer kommen, der im Leben und im Sterben etwas mehr stemmen kann?
„Nein, Lotte ist noch nicht getauft! Wir haben noch keinen Termin gefunden!“ Gut, das war nur die halbe Wahrheit. Nina straft Jan sofort mit ihren Blicken. Für sie ist der Gang in die Kirche nicht so wichtig. Sie sagt: „Wenn es einen Gott gibt, dann braucht er keine Häuser, in denen er wohnt, dann ist er hier bei uns, jetzt und überall …“ Sie hat recht, aber Jan hätte das gern an diesem besonderen Ort noch einmal gehört – besonders, weil er in der Kirche auch getauft und konfirmiert wurde. Er mag sie, die Worte Jesu aus dem Taufbefehl: „Siehe, ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende!“
„Jan, du weißt ganz genau, dass es nicht nur am Termin bisher lag, sondern auch an den Paten. Wir hatten zwei gute Freunde ausgesucht und meine Schwester. Alle haben uns mitgeteilt, dass sie nicht mehr Kirchenmitglieder sind. Also: Dieses Kapitel ist beendet – Lotte wird sich später allein entscheiden können, ohne dass wir ihr etwas aufzwängen. Und Engel auf ihrem Weg sind die drei auch ohne Patenschein …“
„Aber es fehlen nicht nur die Patenscheine, Schatz, es fehlt auch ein schönes Willkommensfest!“ Nina mochte es gar nicht, wenn Jan sie „Schatz“ nannte. Sie mochte weder das Kosewort noch die Diskussion, die durch die ältere Dame, die mit im Abteil saß, wieder angefacht wurde. „Die Feier hat uns vor allem Corona genommen – wir durften ja nur mit 10 Personen zusammen kommen“, entgegnete Nina. „Das hätte nicht für die ganze Familie gereicht … und so bleiben Lotte auch die Familienfotos mit Mund-Nase-Schutz erspart, die an diese unselige Zeit erinnern“, spottet Nina.
„Ja, gerade deshalb ist mir die Taufe wichtig, um ein Zeichen zu setzen für Lotte, gerade in diesen so belasteten Zeiten – ein Zeichen für den Segen, den Gott gibt, auch und gerade in schweren Zeiten, ein Zeichen des Schutzes, mit denen Gott Lotte und uns alle spüren lässt: Ich bin bei Dir …“
„Du meinst wie eine Impfung gegen Corona oder Masern, und dann gehen alle bösen Mächte auf Abstand?“ Alle im Abteil spürten, dass Nina nun doch noch einmal unsicher wurde. Lotte gluckste vor sich hin. Die neue Windel tat ihr gut, die Diskussion, ob Taufe Ja oder Nein, ging an ihr vorbei. Sie war glücklich, zumindest jetzt im Augenblick.
Jan nahm den Gedanken von der Impfung auf. „Natürlich gibt es weder beim Impfen noch bei der Taufe 100-prozentige Sicherheit. Aber die Krankheitsverläufe und die Symptome sind mit einer Impfung meistens geringer … Mit der Taufe wird sozusagen die Widerstandskraft gegen all die negativen Kräfte, Mächte und Gewalten gestärkt. Das wollen wir doch für unser Kind …!?“
„Als mein Mann damals starb“, meldet sich nun deutlich leiser und nachdenklicher in der Stimme die Reisebegleitung zu Wort, „Jürgen war erst 12 und noch nicht konfirmiert. Sie können sich vorstellen, wie es mir und den Kindern ging ... Der Pastor kam zu uns nach Hause, er war noch ganz jung, hatte gerade mit dem Dienst in unserer Gemeinde begonnen. Er wirkte ziemlich hilflos – eine Mutter mit fünf Kindern, ohne Mann, ohne Vater …!“ Nina hob den Blick von ihrer Zeitschrift, in der sie eher lustlos geblättert hatte. Sie betrachtete zum ersten Mal die Dame, mit der sie schon eine ganze Weile das Abteil teilte, etwas näher. ‚Eine schreckliche Vorstellung‘, dachte sie. ‚Allein mit fünf Kindern … Ich fühle mich schon mit Lotte oft überfordert, wenn Jan tagsüber im Büro ist und ich mich allein um meine Tochter kümmern muss. Aber fünf …‘ „Und was hat der Pastor gesagt?“, fragte sie. Man spürte, dass ihr das Thema nahe ging. „Der Pastor hat wenig gesagt. Er war überfordert – wie wir alle. Wir haben uns alle lange angeschwiegen, bis Jürgen sagte: ,Der Vati ist bei Gott und Gott ist bei uns, also ist Vati auch immer noch bei uns.‘ Sein einfacher Kinderglaube hat uns damals viel Mut gemacht. Im Konfirmandenunterricht hatten sie gerade über die Taufe gesprochen. Sie sollten alles über ihre eigene Taufe aufschreiben – Datum, Paten, Taufspruch. Seinen Taufspruch hatte er sich gemerkt: „Lass dich durch nichts erschrecken und verliere nie den Mut, denn ich, der Herr, dein Gott bin bei dir, wohin du auch gehst!“ (Jos 1,9b) Wir waren uns gleich einig, das ist auch der richtige Vers für die Trauerfeier. Gott ist und bleibt bei uns, das gibt uns Mut auch in den schweren Tagen.“
Es blieb lange still im Zugabteil. Betroffene Stille. Nur Lotte quasselte in einer Tour vor sich hin. Wie werden ihre Lebenswege verlaufen? Welche Schicksalsschläge muss sie verkraften und was und wer wird ihr dabei helfen? Nina schloss die Augen und hatte die aktuellen Bilder von Krieg und Flucht vor Augen, Überschwemmungen, tote Fische in verschmutzten Gewässern. In ihren Gedanken war sie plötzlich auf einem Friedhof. Ihr Blick fiel auf einen Grabstein. Nina machte schnell die Augen wieder auf. Was kommt auf sie zu? Und was wird Lotte Mut und Kraft geben, die Hoffnung zu bewahren und Dinge zu ändern, die sich ändern müssen? Jetzt trafen sich ihre Blicke, Lottes Augen strahlten. „Jan, haben wir eigentlich Gott schon gedankt für das Geschenk, das er uns gemacht hat? Ich bin mir sicher: So viel Wunderbares ist kein Zufall, sondern da meint es jemand gut mit uns. Das habe ich mit dem ersten Ultraschallbild gespürt. Bei all den schlechten Nachrichten – das war die beste für uns!“
War es Zufall oder nicht? Lotte lachte laut auf, als ein Zug am Fenster vorbeirauschte. Jan schüttelte den Kopf. „Die Tage sind so voll, das Leben rast an einem nur so vorbei und plötzlich ist sie groß, unsere kleine Lotte! Nina, wir sollten noch einmal über einen Tauftermin nachdenken. Trotz Corona ist ja vieles wieder möglich …“
Über den Lautsprecher im Abteil wurde knarrend und rauschend der nächste Stopp angesagt. Die Reisebegleiterin, die zu dem angeregten Gespräch zum alten Streitpunkt mit neuer Wendung beigetragen hatte, stand auf. Jan wollte ihr bei dem Gepäck helfen. „Lassen sie mal – ich reise, seitdem ich allein bin, nur noch mit leichtem Gepäck, auch wenn die Gedanken schwer sind, aber ich habe immer noch die Worte „Verliere nie den Mut!“ im Ohr. „Kümmern Sie sich gut um ihre kleine Familie!“ „Und“, sagte sie augenzwinkernd zu Nina, „ich hoffe, das wird was mit dem Tauftermin!“ Zum Abschied wendet sie sich noch einmal Lotte zu: „Sie ist entzückend! Ich wünsche ihr immer einen Engel an ihrer Seite“, und streichelt liebevoll über den kleinen Anhänger. Dann hält der Zug, sie steigt aus und ist fort. Nina und Jan schauen sich fragend: „Du, Jan, wie sehen eigentlich Engel aus?“
Liebe Gemeinde!
Der heutige Sonntag trägt einen komplizierten wie schönen Namen: Quasimodogeniti. Aus dem Lateinischen übersetzt: „Wie die neugeborenen Kinder“ (1. Ptr2,2). Gemeint ist: Wie die neugeborenen Kinder nach Milch, so sollen Christen nach dem Heil in Christus verlangen. In der Taufe werden wir mit Christus verbunden, haben Teil an seinem Tod und Auferstehen. Das wurde in der frühen Christenheit auch dadurch zum Ausdruck gebracht, dass die Taufen in der Regel in der Osternacht stattfanden. Die Täuflinge trugen dazu weiße Gewänder, die an dem Sonntag nach Ostern noch einmal getragen wurden. Deshalb heißt dieser Sonntag auch „weißer Sonntag“: In den Gottesdiensten wurde noch einmal erklärt, was die Taufe für jeden einzelnen bedeutet. Vielleicht gehören die Verse aus dem heutigen Predigttext, aufgeschrieben im Kolosserbrief, zu solch einer Unterweisung:
12 Mit ihm – Christus - seid ihr begraben worden durch die Taufe; mit ihm seid ihr auch auferstanden durch den Glauben aus der Kraft Gottes, der ihn auferweckt hat von den Toten.
13 Und er hat euch mit ihm lebendig gemacht, die ihr tot wart in den Sünden und in der Unbeschnittenheit eures Fleisches, und hat uns vergeben alle Sünden.
14 Er hat den Schuldbrief getilgt, der mit seinen Forderungen gegen uns war, und hat ihn weggetan und an das Kreuz geheftet.
15 Er hat die Mächte und Gewalten ihrer Macht entkleidet und sie öffentlich zur Schau gestellt und hat einen Triumph aus ihnen gemacht in Christus.
Begraben und auferstanden mit Christus, tot in der Sünde, lebendig in Christus, den Schuldbrief ans Kreuz geheftet … die theologische Bestimmung der Taufe im Kolosserbrief ist katechetisches Schwarzbrot und weniger die liebliche Milch, nach der die neugeboren Kinder verlangen.
Ob es das ist, was heute bei der Taufe eines Kindes im Mittelpunkt steht? Ist es das, was Nina und Jan für ihre Tochter suchen? Oder sind es ganz andere Fragen, die sich junge Eltern stellen? Oft geht es um ganz praktische Dinge – wie z.B. die Frage, wer von den möglichen Paten denn noch Kirchenmitglied ist. Oder ob das Kind noch in das Taufkleid der Familie passt.
Und als Antwort auf die Frage, warum sie ihr Kind taufen lassen wollen, muss die Antwort reichen: „Wir sind auch getauft …“ Denn letztendlich verbindet die Christen der frühen Kirche und die Eltern einer Volkskirche im 21. Jahrhundert nach und mit Christus die eine Sehnsucht, dass Christus triumphiert über Mächte und Gewalten oder wie Dietrich Bonhoeffer es formuliert: „Von guten Mächten wunderbar geborgen erwarten wir getrost, was kommen mag, Gott ist bei uns am Abend und am Morgen und ganz gewiss an jedem neuen Tag.“ (EG 65) Amen.
Und der Friede Gottes, der höher ist als alle unsere Vernunft, der bewahre unsere Herzen und Sinne in Jesus Christus zum ewigen Leben. Amen.
1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
An diesem „Weißen Sonntag“, der an die Taufpraxis der alten Kirche erinnert, stehen mir junge Familien vor Augen, die die Frage bewegt, ob sie ihre Kinder taufen lassen sollen: ja oder nein. Ich frage mich, welche Sehnsucht sie mit der Taufe verbinden und welche Hindernisse sie überwinden müssen – und ob die theologische Begründung der Taufe letztendlich ausschlaggebend für die Entscheidung ist.
2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Als Einleitung und Hinführung zum Predigttext wollte ich eine kurze Szene beschreiben: In einem Zugabteil kommt es zu einem Gespräch über Sinn und Zweck der Taufe eines Kindes. Die Szene zu beschreiben hat so viel Spaß gemacht, dass ich fast bis zum Ende der Predigt die Einleitung „verlängert“ habe und der Predigttext so ganz ans Ende der Predigt gerutscht ist.
3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Ich habe mich bei der Beschäftigung mit dem Text, der für mich „katechetisches Schwarzbrot“ ist, gefragt, wie wohl Eltern oder Paten ihn verstehen, die ein Kind taufen lassen wollen. Ich vermute, es sind ganz andere Fragen, die sie bewegen, ganz praktische: Passt das Taufkleid, wer wird Pate, wer ist noch in der Kirche und wie kann man unter Corona-Bedingungen ein Familienfest feiern?
4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Für mich war der Hinweis sehr hilfreich, dass das Predigtende zu offen ist. Nun ist es ohnehin schwierig von der Erzählstruktur zur Predigtstruktur zu kommen. Ein Bruch ist dort unvermeidlich. Ich habe versucht, nach dem Coaching nicht bei den offenen Fragen ohne Antwort stehen zu bleiben, sondern das verbindende Element herauszuarbeiten: Gottes gute Mächte.
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Beten bei geöffneter Tür - Predigt zu Kolosser 4,2-4 von Katharina Wiefel-Jenner
Hört nicht auf zu beten. Bleibt dabei stets wachsam und voller Dankbarkeit! Betet gleichzeitig auch für uns, dass Gott uns eine Tür für das Wort öffnet. Dann können wir das Christusgeheimnis verkünden, für das ich in Haft bin! Betet auch, dass ich es anderen so enthüllen kann, wie mein Verkündigungsauftrag es erfordert.
Ihr Lieben,
Die Tür ist aufgeschlossen. Die Gesangbücher liegen bereit. Die Kerzen sind angezündet.
„Kommet zuhauf. Psalter und Harfe wach auf.“
Die Glocken läuten. Die Tür steht offen.
„Lobe den Herren.“
Wer wird heute Morgen durch die offene Tür hineinkommen? Wer wird heute Morgen singen?
Die Tür ist aufgeschlossen. Die Bibel ist aufgeschlagen. Christus wartet.
„Er ist erstanden. Halleluja!“
Auf uns muss Christus nicht mehr warten. Wir sind da. Wir sind durch die offene Tür hineingekommen. Wir haben uns einen Platz gesucht. Wir sind still stehen geblieben. Wir haben gebetet und uns hingesetzt. „Herr öffne mir die Herzenstür“.
Die Tür ist aufgeschlossen. Wir sind da. Christus ist da. „Zieh mein Herz durch dein Wort zu dir.“
Wir hören. Wir singen. Wir beten – und Christus hört. Wir singen. Wir beten. Wir hören – und Christus spricht zu uns. Er erinnert uns daran, wie es war und wie es ist. Er war tot und ist lebendig. Er hat gelitten. Er wurde gequält, hatte Schmerzen – und er hat den Tod überwunden. Er hat geweint, war durstig. Er wurde verleumdet, bespuckt und gefoltert. Er ist am Kreuz gestorben – und er hat den Tod besiegt.
„Auf, auf mein Herz mit Freuden.“
Christus spricht zu uns. „Ich war tot, und siehe, ich bin lebendig“. Heute wiederholt Christus für uns, was die Generationen zuvor schon von ihm hörten. Wort für Wort wiederholt er, was unsere Mütter und unsere Väter schon von ihm gehört haben. Heute spricht er zu uns: Der Tod wird nicht mehr sein. Leid und Geschrei und Schmerz werden nicht mehr sein. Die Lügner werden erschrecken. Die elenden Kriegstreiber werden verstummen. Die Warlords werden keine Waffen mehr kaufen. Die Sklavenhalter werden ihre Macht verlieren. Die Kinder werden nicht mehr gekrümmt. Die Frauen nicht mehr vergewaltigt. Die Gefangenen werden befreit. Die Schöpfung wird aufatmen. Endlich! Kein Tier wird mehr für uns geopfert, kein Baum für uns gefällt. Kein Sturm wird wüten. Keine Flut wird den Tod bringen. Christus war tot, und siehe, er ist lebendig.
Die Tür ist aufgeschlossen und Christus spricht. Er erinnert uns daran, wie es war und wie es ist. Er war tot, und siehe, er ist lebendig. Er sieht uns ins Herz. Er trifft uns, wo wir schuldig werden. Er vergibt, wo wir uns verfehlen. Er geht mit uns in die Dunkelheit, fühlt die Angst, die uns den Atem abschnürt. Er erträgt uns in unserer Not. Er trägt uns.
„Ich hang und bleib auch hangen, an Christus als ein Glied; wo mein Haupt durch ist gangen, da nimmt er mich auch mit.“
Die Tür ist aufgeschlossen. Die Kerzen brennen. Die Bibel ist aufgeschlagen. Wir sitzen hier. Wir singen und beten. Wir hören Christus, wie er spricht: „Ich war tot, und siehe, ich bin lebendig von Ewigkeit zu Ewigkeit und habe die Schlüssel des Todes und der Hölle.“
„Jesus lebt, mit ihm auch ich.“
Mein Gott, wie wunderbar! Wir sitzen hier. Christus spricht und die Fragen verstummen. Das Wunder des Glaubens ist fraglos. Das Geheimnis des Glaubens ist groß. Das Christusgeheimnis ist wunderbar. Wir könnten ewig zuhören. Ewig sitzenbleiben. Ewig singen.
Doch wir werden wohl nicht ewig zuhören, obwohl das Christusgeheimnis wunderbar ist. Wir werden wohl nicht ewig hier sitzen, obwohl das Evangelium den Nerv trifft. Wir werden wohl nicht ewig weitersingen, obwohl die Melodie das Herz hüpfen lässt.
Wir werden nur noch eine oder zwei Strophen singen. Wir werden nur noch kurz beten, aufstehen und wieder unserer Wege gehen. Die Kerzen werden gelöscht. Die Bibel zugeschlagen. Die Tür geschlossen. Die Worte (und das Mahl) werden als Wegzehrung noch ein Weilchen vorhalten. Das war es dann für diesen Sonntag?
„Lass mich dein Wort bewahren rein.“
War es das wirklich? Wenn die Kirchentür fest verriegelt wird und niemand vor dem nächsten Sonntag beim Evangelium vorbeischaut, was es das. Wenn die Herzenstür zugesperrt wird, und erst am nächsten oder übernächsten Sonntag aufgeschlossen wird, war es das. Wenn der Gesang verstummt und niemand sich vor dem nächsten Sonntag an die Melodie erinnert, dann war es das.
Aber, nein! Das wird nicht passieren. Das Christusgeheimnis ist zu kostbar. Das Geheimnis des Glaubens ist zu groß. Es wird nicht nur am Sonntag bei uns ein Zuhause haben. Es wird nicht im Sonntag eingesperrt werden und nur für die eine Stunde am Morgen herausgeholt, ein bisschen entstaubt und neben die angezündeten Kerzen gestellt werden. Es ist zu schön, um nur am Sonntag besungen zu werden. Es ist zu groß, um nur hier neben der aufgeschlagenen Bibel abzuwarten, bis wir am nächsten Sonntag wieder vorbeikommen.
Es ist zu wichtig, um zwischen den Sonntagen vergessen zu werden.
„Dein Wort, o Herr, lass allweg sein die Leuchte unsern Füßen.“
Aber was werden wir machen, wenn doch die Kerzen gelöscht, die Bibel zugeschlagen, die Orgel ausgeschaltet und die Tür abgeschlossen wird? Das Christusgeheimnis braucht doch in der Woche auch einen Platz!
„Singen wir heut mit einem Mund.“
Wir nehmen das Christusgeheimnis mit durch die offene Tür. Wir tragen das Geheimnis des Glaubens in die Woche hinein. Wir singen, wir beten, wir bleiben wachsam. Wenn die Kirchentür abgeschlossen ist, beten wir zuhause weiter. Immer und immer wieder. Wenn die Kerzen gelöscht sind, kommt das Christusgeheimnis mit und wir beten. Wenn die Nachrichten von der Gewalt der Warlords berichten, bitten wir, dass uns der Friede Christi durchdringt und verwandelt. Wenn die Gesangbücher in der Kirche geblieben sind, kommt das Christusgeheimnis mit und wir singen auf der Straße vom Frieden in den Hütten. Wenn die Bibel auf dem Lesepult geblieben ist, kommt das Christusgeheimnis mit auf den Weg und wir beten um den Geist der Wahrheit. Wenn der Kelch abgeräumt ist, nehmen wir das Glück mit in unser Haus und beten, dass Gerechtigkeit in unser Haus, ins Nachbarhaus und bei allen Völkern einzieht. Wenn Unruhe und Streit die Erde erschüttern, erinnern wir uns an das Geheimnis des Glaubens: Christus war tot, und siehe er ist lebendig. Wir bleiben wachsam. Wir beten: „Beweis dein Macht, Herr Jesu Christ.“ Wir beten und erleben die großen Wunder Gottes.
Was werden wir machen, wenn doch die Kerzen gelöscht, die Bibel zugeklappt, die Orgel ausgeschaltet und die Tür abgeschlossen wird? Wir nehmen das Christusgeheimnis mit durch die offene Tür – wir beten solange bis alle Türen für Christus geöffnet sind und sich niemals wieder schließen.
„Auf und macht die Herzen weit!“
Amen.
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„Und trotzdem bete ich.“ – Predigt zu Kolosser 4,2-4 von Wolfgang Vögele
Friedensgruß
Der Predigttext für den Sonntag Rogate steht Kol 4,2-4:
„Seid beharrlich im Gebet und wacht in ihm mit Danksagung! Betet zugleich auch für uns, auf dass Gott uns eine Tür für das Wort auftue und wir vom Geheimnis Christi reden können, um dessentwillen ich auch in Fesseln bin, auf dass ich es so offenbar mache, wie ich es soll.“
Liebe Schwestern und Brüder,
man kann die Frage stellen, ob Gebete und Fürbitten einem kranken Patienten helfen. Ich gehe davon aus, daß Sie das American Heart Journal nicht kennen, eine angesehene medizinische Fachzeitschrift aus den USA. Im Jahr 2006 veröffentlichten sechzehn Forscher auf den Seiten 934 bis 942 der April-Ausgabe die Ergebnisse einer wissenschaftlichen Studie. Das Team beschäftigte sich mit der Frage, ob Fürbitten von Freunden und Verwandten einen Effekt auf die Heilung von Patienten haben, wenn sie sich einer Bypass-Operation unterziehen müssen. Zwölfhundert Patienten wurden untersucht. Sie wurden in Gruppen eingeteilt. Für alle wurde gebetet. Einige Patienten wußten mit Bestimmtheit, daß für sie gebetet wurde. Andere wußten nur, daß möglicherweise für sie gebetet wurde. Die dritte Gruppe wußte nicht, daß für sie gebetet wurde. Das Ergebnis lautete: Das Fürbittengebet anderer hatte keine Auswirkung auf den Heilungsprozeß der Patienten. Bei denen, die wußten, daß für sie gebetet wurde, kam es mit größerer Wahrscheinlichkeit zu Komplikationen. – Tja, und nun?
Was ist daraus zu schließen? Wenn Ihnen eine Bypass-Operation droht, liebe Schwestern und Brüder, dann lassen Sie lieber nicht für sich beten. Wenn man den Forschern Glauben schenken will, dann hat man den Eindruck, als würde Gott bei Herzkrankheiten lieber im Verborgenen arbeiten, aber nicht auf vorherige menschliche Aufforderung hin. Das wird im Evangelium und in der theologischen Wissenschaft anders gesehen.
Die Studie ist von Mißverständnissen geprägt, die leider in der Gegenwart der Moderne zahlreich geworden sind: Beten ist selbstverständlich kein mechanischer Vorgang. Wer betet und dabei bittet, der möchte nicht unbedingt zu praktischen Ergebnissen kommen. Der unbekannte Autor des Kolosserbrief befand sich irgendwo in Gefangenschaft. Im Sinne der medizinischen Studie hätte er um Befreiung bitten können. Er sagt auch, daß sich eine Tür öffnen möge. Aber das ist nicht die Gefängnistür. Er fordert seine angeschriebenen Freunde auf, daß sie um offene Türen für das Wort und das Geheimnis Christi bitten mögen.
Eine sensible theologische Aufmerksamkeit für das Beten finde ich bei dem Komponisten Arnold Schönberg (1874-1951). Schönberg war Jude und kam aus Österreich. 1933, bei der Machtergreifung der Nationalsozialisten, ging er ins Exil. Er lebte damals in Berlin und wechselte zuerst nach Frankreich, dann in die USA. Er starb in Los Angeles nach dem Zweiten Weltkrieg. Sein ganzes Leben lang setzte sich Schönberg mit dem Judentum auseinander. Er trat aus der Synagoge aus, ließ sich evangelisch taufen. 1933 konvertierte er wieder zum Judentum. Bevor er starb, arbeitete er an einer Serie von Psalmenvertonungen. Das erste dieser Werke trug ursprünglich den Titel „Psalm 151“. In der Bibel sind 150 Psalmen gesammelt, Schönberg wollte diese Reihe fortsetzen. Er vollendete Komposition und Text, aber er strich irgendwann den ursprünglichen Titel und nannte das Werk „Moderner Psalm“. Schönberg schreibt: „Wer bin ich, daß ich glauben soll, meine Gebete seien eine Notwendigkeit? Wenn ich Gott sage, weiß ich, daß ich damit von dem Einzigen, Ewigen, Allmächtigen, Allwissenden und Unvorstellbaren spreche, von dem ich mir ein Bild weder machen kann noch soll. An den ich keinen Anspruch erheben darf oder kann, der mein heißestes Gebet erfüllen oder nicht beachten wird. Und trotzdem bete ich, wie alles Lebende betet; trotzdem erbitte ich Gnade und Wunder: Erfüllungen.“ Mich fasziniert dieser Liedtext seit Jahren, denn Schönberg fragt sich wenige Jahre nach der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs, nach dem Holocaust, nach Flüchtlingselend und eigenem Exil, wie Menschen in der Gegenwart noch beten können. Und er kommt damit der Gebetsmeditation aus dem Kolosserbrief sehr nahe.
Schönberg betont zuerst einmal den unendlichen Unterschied zwischen Gott und Mensch. Für ihn ist es im Grunde schon ein Wunder, daß sich der Beter überhaupt traut, sich an Gott zu wenden. Der Beter fühlt sich an das Bilderverbot gebunden, und darum wagt er es nicht, Ansprüche an Gott zu stellen oder ihn fürbittend mit Forderungen zu plagen. Und trotzdem sagt Schönberg in seinem Psalm: Alle Menschen beten, ob sie sich dessen bewußt sind oder nicht. Alle Menschen beten aus einem ganz einfachen Grund: Sie haben ihr Leben nicht selbst in der Hand. In einem begrenzten Kreis und Umfang können Menschen ihr Leben beeinflussen, handeln, Wirkungen auf andere ausüben. Aber es gibt auch vieles, das dem Menschen gar nicht zugänglich ist. Ein Beispiel: Auf gesunde Ernährung, viel Bewegung, regelmäßige Gymnastik, ausreichend Schlaf achten viele Menschen, in der Hoffnung auf ein langes Leben ohne schwere Krankheiten. Die genannten Aktivitäten sind alle wichtige Faktoren für ein langes Leben, aber es handelt sich nicht um sichere Gründe, die ein langes Leben garantieren. Auch körperlich und psychisch völlig gesunde Personen sind schon an einem plötzlichen Herzinfarkt oder einem Schlaganfall gestorben. Und nicht einmal der regelmäßig behandelnde Hausarzt kann solche Schlaganfälle vorhersehen. Im übrigen hat ein katholischer Psychiater einmal gesagt: „Auch wer gesund stirbt, ist definitiv tot.“ Schönberg hat um diese Grundbedingungen des Lebens gewußt: Niemand kann dem Zufall ausweichen. Alle Menschen müssen sterben. Nicht auf alles kann ein Mensch Einfluß nehmen. Schönberg hat das gewußt, aber eben auch gesagt: Und trotzdem bete ich.
Und trotzdem bete ich. „Trotzdem erbitte ich Gnade und Wunder.“ Der Allmächtige, den Schönberg Gott nannte, ist Herr über Raum und Zeit und Zufall. Er kann Wunder vollbringen, die kein Mensch für möglich gehalten hätte. Und darin finde ich etwas von der gleichen Beharrlichkeit, die auch der Autor des Kolosserbriefes so sehr betont. Er ist gefangen, befindet sich also in einer unangenehmen, gefährlichen Notsituation. Ich finde es erstaunlich, daß dieser gefangene Briefschreiber nicht für seine eigene Befreiung bittet. Er bittet zwar um das Öffnen von Türen, aber die Tür soll sich für das „Wort“ Gottes auftun und nicht für ihn, den gefangenen Briefschreiber. Mehr als um die eigenen Ketten, die Gefangenschaft, die vermutlich elenden, menschenunwürdigen Bedingungen in einem antiken Gefängnis zielt er auf die Ausbreitung des „Wortes“ und des Geheimnisses Christi.
Das eigentlich unmögliche Beten des gefangenen Christen erwächst aus dem Glauben. Wie der Jude Schönberg wendet sich der gefangene Christ im Gebet an Gott. Beide erkennen die Allmacht, die Barmherzigkeit, die unermeßliche Größe Gottes an. Beide wissen sie offensichtlich, daß das Beten nicht einem Wunschkonzert zu vergleichen ist, welches ersehnte, erwünschte und benötigte Dinge, Personen und Haltungen mit Hilfe von Gottes Vorsehung nach Belieben herbeiführt. Es lohnt sich also, einen weiteren Blick auf das Beten zu werfen und darüber nachzudenken, was beim Beten eigentlich geschieht.
Beten ist nicht einfach die Übertragung des eigenen Handelns auf Gott. Der Beter bittet, sagen wir, um Regen, aber er weiß, die Menschen haben keinen Einfluß auf Wolken, Wind und klimatische Bedingungen. Also bittet der Beter Gott, stellvertretend für ihn zu handeln. Aber Gott ist kein Regenmacher. Wer Beten nach dem Modell betrachtet, eigene Ohnmacht durch Gottes Allmacht zu ergänzen, der macht es sich zu einfach.
Liebe Schwestern und Brüder, ich will ein anderes Modell vorstellen: Wer betet, hat zunächst einmal eingesehen, daß er sein Leben nicht nur aus eigener Kraft und eigenem Bewußtsein steuert. Er ist in vielem abhängig von anderen, von Randbedingungen, auf die er überhaupt keinen Einfluß hat. Wer betet, sieht also zunächst die Begrenztheit des eigenen Lebens ein. Menschen sind nicht allmächtig. Diese Einsicht beruht im übrigen nicht auf Kleingeist, sondern auf Demut. Wer solchermaßen betet, der deutet sein Leben auf eine ganz bestimmte Weise. Wer nicht betet, muß sagen: Mein Leben habe ich nicht selbst in der Hand, ich bin abhängig von Zufällen, von einem blinden Schicksal, dem ich unterworfen bin. Wer dagegen betet, sagt: Mein Leben habe ich nicht selbst in der Hand, ich kann einiges tun, aber ich bin auch abhängig. Ich bin nicht von einem Schicksal abhängig, sondern ich bin abhängig von einem Gott, der es mit mir, mit uns, gut und barmherzig meint. Ein bekannter Theologe hat es einmal so formuliert, daß er gesagt hat, das Beten sei ein Sprechen, das die Unabgeschlossenheit des Lebens zum Ausdruck bringt (Dietrich Korsch). Und im Gebet vergewissern sich Menschen der Glaubenstatsache, daß Gott für sie eine gute Schöpfung geschaffen, daß er sie zur Rechtfertigung und Erlösung bestimmt hat. Eine kalte Welt, in der niemand betet, wäre eine Welt, die dem Taumel des Zufalls ausgeliefert ist. Eine Welt, in der der Beter Gott anruft, ist geborgen, in seiner Barmherzigkeit und Gnade, auch dann, wenn wir deren Wirkungen häufig schmerzlich und voller Verzweiflung vermissen.
An einer Stelle geht nun der Gefangene des Kolosserbriefs weit über Schönberg hinaus, nämlich dort, wo er vom „Geheimnis Christi“ spricht. Das hätte Schönberg kurz vor seinem Tod nicht nachvollziehen können. Aber er sagt auch, daß Angehörige aller Religionen beten. Also betrachtet er Gebet als eine allgemeine menschliche Haltung und Handlung. Der gefangene Briefschreiber des Predigttextes spricht vom Geheimnis Christi. Was meint er damit? Das Geheimnis Christi deutet gerade auf den gekreuzigten und auferstandenen Mann aus Nazareth, mit dem sich Gott in besonderer Weise einig wußte. Diese Einheit zwischen Gott und Jesus ging so weit, daß Jesus als „Gottes Sohn“ bezeichnet wurde. An vielen Stellen sprach er von sich auch als „Menschensohn“. Er war und ist beides zugleich: Gottes Sohn, weil seine Beziehung zu Gott so intensiv war wie die keines Menschen zuvor; Menschensohn, weil er Höhen und Tiefen des Menschseins kennenlernte wie kein zweiter vor und nach ihm. Diese Beziehung zu Gott zeigte sich in Heilungen, Wundern, in großartigen Reden und neuen ethischen Forderungen. Aber wenn sich die sechzehn Mediziner aus der Studie des American Heart Journal daran gemacht hätten, einen wissenschaftlich belastbaren Beweis der Gottesbeziehung Jesu zu führen, sie wären gescheitert. Gott wird Mensch in Jesus Christus, aber er bleibt auch im Menschen Jesus Christus unsichtbar. Deswegen die Rede vom Geheimnis Christi. Das Geheimnis kann nur geglaubt werden.
Wenn Christen zu Gott beten, nehmen sie dieses Geheimnis ernst. Sie rechnen deshalb nicht mit der unmittelbaren Erfüllung ihrer Gebete wie bei einer Bestellung im Internethandel, wo in 99 Prozent aller Fälle die bestellte Ware drei Tage später eintrifft. Wer betet, nimmt die Wirklichkeit Gottes ernst, seine Barmherzigkeit, seine Gnade, aber eben auch seine Verborgenheit, sein Geheimnis. Wer betet, der nimmt sein Leben nicht selbst in die Hand. Wer betet, der legt sein Leben zurück in die Hände Gottes. Wer betet, der rechnet mit Gnade und Wunder, jederzeit.
Christenmenschen können auf vielerlei Weise beten: sprachlos, stotternd, in abbrechenden Sätzen, hilflos, voller Widersprüche, aber auch singend, mehrstimmig, jubelnd, gemeinsam, frei oder nach den Vorbildern biblischer Gebete von den Psalmen bis zum Vaterunser. Gott hört jedes Wort, den hunderteinundfünfzigsten Psalm, und selbst beim neuntausendsiebenhundertunddreiundvierzigsten Psalm würde ihm nicht langweilig werden.
Wer betet, rennt bei Gott offene Türen ein, obwohl es kein Wissenschaftler für möglich halten würde. Wer glaubt und damit rechnet, der kann auch gewiß sein, daß Gottes Gnade und Barmherzigkeit in seinem Herzen eine offene Tür finden. Ich will nicht verschweigen, daß Sie, liebe Brüder und Schwestern, mit einer Reihe von erwünschten Nebenwirkungen rechnen müssen: eine große Dosis Freiheit, ein deutlicher Rückgang an Lebensangst und ein spürbarer Zuwachs an Glaubensgewißheit. Machen Sie sich keine Sorgen vor einer Überdosierung.
Und der Friede Gottes, welcher höher ist als Zufall, Glück und Willkür der Welt, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.