Anwenden - Anstaunen – Anhimmeln: Dreimal Damaskus und zurück – Predigt zu Apostelgeschichte 9,1-9 von Matthias Storck
9,1-9

Anwenden - Anstaunen – Anhimmeln: Dreimal Damaskus und zurück – Predigt zu Apostelgeschichte 9,1-9 von Matthias Storck

Anwenden

„Die Haut, in der jeder steckt, ist nicht seine eigene.“
Mit diesen wenigen Worten trifft der Schriftsteller Joseph Roth das allgemeine Lebensgefühl in Wien, Anfang der zwanziger Jahre des vorigen Jahrhunderts, kurz nach dem Ende des ersten Weltkrieges. Die Stadt hatte den Glanz ihrer Fassaden und den sprichwörtlichen Charme fast unbeschadet durch die Kriegsjahre gerettet. Aber hinter aller Pracht war ihr unbemerkt die Seele verhungert. Nun gaben harte Disziplin, reger Geschäftssinn und eiserner Pioniergeist den strengen Takt für einen Neuanfang vor. Stetiges Misstrauen und kalte Berechnung waren die düsteren Wächter des sich langsam wieder einstellenden Wohlstandes. Derart unselige Ordnungen entwickeln ein Eigenleben und gehen unbemerkt in Fleisch und Blut über. „Jeder sagt das, was das Gesetz vorschreibt … Sie können, wenn Sie in ein Zimmer treten und die Menschen ansehen, sofort wissen, was jeder sagen wird.“
Unter den stets „wachen Augen des Gesetzes“ war eine unerbittliche, bis in die Herzen gefälschte Welt entstanden. Die ständige Selbstkontrolle wurde den Menschen zur zweiten Natur und machte sie nach und nach zu stumpfen Betrachtern ihres eigenen Daseins.
So schreit ganz Wien nach Damaskus.

Paulus im Museum
Ich weiß nicht, wie lange ich in der Stuttgarter Nationalgalerie als Betrachter vor dem berühmten Bild gestanden habe. 1627 malte Rembrandt, er war gerade 21 Jahre alt, den aus seiner Sicht schon steinalten Apostel Paulus. Der Blick des jungen Malers war geschult und wohl auch selbstbewusst genug, um Gestalt und Wahrheit des Apostels fein und genau in ein gutes Licht zu holen. Kein Wunder, als Rembrandt dann den Pinsel beiseite legt, hat sein prominenter Gefangener die ganze Welt im Gesicht. Die Sehnsucht, dass sie nicht so bleiben muss, wie sie ist, trägt er im Herzen wie einen tröstlichen Kassiber. Nichts ist zurecht buchstabiert, nichts dahin geredet. Alles bleibt wahr und genau. Die Zelle, aber auch der Trotz. Die Sehnsucht, aber auch der Streit, das Leid, aber auch die Verheißung. Licht und Farbe sind wie Zwillinge.
Als ich mich endlich losriss und abwandte, um zu gehen, ließ mich das Bild nicht mehr aus den Augen. Ich sollte anwenden, was ich gesehen hatte. Es schien mir, als wären die farbenfrohen Gemälde, die mir den langen Weg zu dem berühmten Porträt gesäumt hatten, blasser geworden. So, als hätte der Apostel ihnen ein wenig von ihrer bunten Wahrheit geraubt, um Besucher wie mich, die nur seinetwegen gekommen waren, mit ein paar Farbtupfern über den grauen Graben von fast zwei Jahrtausenden hinwegzutrösten.

Anstaunen

Gott ist nicht selbstverständlich
An dieses Erlebnis musste ich denken, als ich eine Predigt von Karl Barth aus dem Jahr 1920 las. „Gott ist nicht selbstverständlich!“, ruft er uns zu, „wir tun viel zu sicher!“

Ganz sicher muss sich auch der Gesandte des Jerusalemer Hohenpriesters gefühlt haben, als er, ausgestattet mit geistlicher Vollmacht und einem römischen Reisepass, nach Damaskus aufbrach. Sein Ziel war, die Anhänger einer neuen Sekte entweder zu Gott und zur Vernunft zurück zu bringen oder, bei Weigerung, gefesselt nach Jerusalem zu führen.
Unterwegs geriet ihm plötzlich die Welt aus dem Trott und in ein fremdes Licht. Er hörte eine Stimme, die er nicht kannte, dann aber nie mehr vergessen konnte: „Ich bin Jesus, den du verfolgst!“ Nach diesem Satz ist er ein anderer Mensch. Ein einziger Augenblick, und er ist buchstäblich „ein neues Geschöpf“, wie er später schreiben wird. Sein Gott ist aus dem Herzen. Seine Wahrheit ist brüchig, seine Pläne zunichte, seine Überzeugungen wertlos, seine Ziele verschwommen, seine Hoffnung verdorben, sein Himmel leer. Alles ist verrutscht und verrückt. Kein Wort auf seiner Zunge bleibt bei dem anderen. Kein Reim, kein Bild, keine Zeile. Er kann seinen Sinnen nicht trauen. Gott ist nicht selbstverständlich. Nie mehr.
Paulus blieb kein Einzelfall.
„Die dritte und die neunte Stunde ist jetzt“, schrieb der UNO-Generalsekretär Dag Hammarskjöld während der Suez-Krise vor 60 Jahren. Damals ging es um wenige Augenblicke und um Haaresbreite an einem Weltkrieg vorbei.
Damaskus lag damals kurz vor Golgatha.
Die Gottverlassenheit solcher Momente bringt die Welt auf einen einzigen Punkt.
Auch heute genügt ein falsches Wort, und nichts und niemand ist mehr bei sich selbst. Alles hört sich plötzlich hoffnungslos gestrig an. (Das Wort „plötzlich“ klingt auf einmal wie „Platzregen“!) Und was gestern noch als weise galt, wirkt heute schon gedankenlos. Vieles scheint „viel zu sicher“. Die Wörterbücher verfallen. Die Begriffe machen sich auf und davon. Namen, die bis gestern nur gut und nach Urlaub klangen, scheinen bitter zu bestätigen, was wir nicht wahrhaben wollen: Würzburg, München, Ansbach, Nizza. Sie haben einen schmerzhaften Unterton bekommen und stellen unsere vertrauten Gewohnheiten und Ordnungen jetzt und hier in Frage, nicht erst vor Damaskus.
Manchmal ist Damaskus auch weniger plötzlich. Einer chassidischen Weisheit zufolge kann ein Wort, ein Satz, ein Gebet, eine Wahrheit, tagelang auf dem Herzen liegen bleiben. Erst, wenn es hinein fällt, beginnt es zu sprechen, zu wirken und die Welt zu verändern.

Schon scheinen gute Alltäglichkeiten, etwa eine Fußballkarte oder das weiße Tischtuch in einem Restaurant, über sich hinaus zu weisen. Man kann sie anstaunen. So wie man Gott anstaunen kann oder die Wahrheit oder das Wunder einer Geburt. Sogar ein Stück Brot sättigt anders. Alles muss nur der verhängnisvollen Gewohnheit entrissen werden. Viele Gedanken und Dinge werden einfach, klar und kostbar, wenn man sie zu lesen versucht, als seien sie neu wie am ersten Tag.
Sicher bleibt es eine gute Übung, sich selbst immer wieder in die kleinsten Kleinigkeiten eines neu geschenkten Tages hinein zu staunen wie in das allergrößte Wunder: Gott ist nicht selbstverständlich. Aber er ist gegenwärtig –  auch morgen noch.


Anhimmeln

Eine Szene im Drama „Peer Gynt“ des norwegischen Dichters Henrik Ibsen zeigt den alten Peer Gynt beim Enthäuten einer Zwiebel. „Das hört ja nicht auf! Immer Schicht auf Schicht … Bloß Häute! So ist mein Leben!“
Entsetzt wirft er die Zwiebel fort und spürt, wie alles von ihm abfällt. Schicht auf Schicht, Jahr um Jahr. Weder die Phantasie, noch seine Reichtümer, nicht einmal die Erinnerungen geben ihm Halt. Die ganze Welt blättert ab. Er blickt auf ein kaltes Leben ohne Bindungen, ein Stückwerk zusammenhangloser Episoden. Was der alte Mann vergeblich unter den Zwiebelhäuten seines Lebens suchte, ist sein Herz.
Es ist ihm vor Damaskus erfroren.

Paulus hatte vor Damaskus die ganze Welt schon hinter sich. Seinen Gott verlor er nicht zum ersten Mal. Es war auch gewiss nicht der letzte Anfang von vorn. Als er wieder sehen kann, kriecht er ins Wort wie in eine neue eigene Haut. Der Beginn ist Liebe, das Ende auch, so schreibt es Luther: „Es muss der ganze Mensch in das Evangelium kriechen und da neu werden. Er muss die alte Haut ausziehen wie die Schlange tut. Wenn ihre Haut alt wird, sucht sie ein Loch im Felsen, da kriecht sie hinein und zieht selbst ihre Haut ab und lässt sie draußen vor dem Loch. Also muss der Mensch sich auch in das Evangelium und Gottes Wort begeben und getrost seiner Zusage folgen. Das Wort wird nicht lügen. So zieht er seine alte Haut ab, lässt draußen sein Licht, seinen Dünkel, seinen Willen, seine Liebe, seine Lust, sein Reden, sein Wirken und wird also ganz ein anderer, neuer Mensch, der alle Dinge anders ansieht als vorher, anders richtet, anders urteilt, anders dünkt, anders will, anders liebt.“


Rembrandt im Knast
Jahrzehnte später, im Jahre 1661, wagte Rembrandt von neuem, dem Apostel das Licht der Welt in sein Altersgesicht zu malen. Jetzt war er selbst schon ein alter Mann.
Strich und Pinsel treffen nicht weniger genau als damals, aber ganz anders. Dem Maler ist im Zuge lebenslanger Übung fast jede Wahrheit von der Palette ins Herz gesprungen. Immer schnell genug, um der vermeintlichen Freundlichkeit der Welt auf die Schliche zu kommen.

Er hat inzwischen bitter gelernt, wie trostlos bunt die Welt und wie unendlich fern Gott sein kann. Vor allem aber, dass ein Tag vor Damaskus manchmal ein ganzes Leben verbraucht. Der frühe Tod seiner Frau Saskia verdunkelte ihm zuerst die Seele und zuletzt den Himmel. Am Ende schienen selbst seine Bilder Schatten nach ihm zu werfen. Bald war der weltberühmte Holländer verschuldet und verarmt. Der lichtsüchtige Maler, der mit seinen Bildern viele Menschen zu trösten vermochte, ist selber untröstlich. Immer wieder hat er die kargen Worte mit Farben angehimmelt, ohne sich die Welt zurechtzureden. Strich für Strich malte er nun seinem alten Freund Paulus dessen mühsamen Lebensweg mitten ins Gesicht: „Trübsal, Angst, Hunger, Kälte, Blöße, Gefahr und Krieg“ (Römer 8). Erst im Rückblick zeigen sich an den Rändern viele lichte und tröstliche Wegmarken Gottes.
Als das Porträt fertig ist, trägt Rembrandt selbst die Züge des Paulus. Der gefangene Apostel dagegen ist dem Selbstbildnis des lebensgeschulten Meisters wie aus dem Gesicht geschnitten. Auch so sieht Damaskus aus. Deutlicher und tiefer hat niemand diesen blitzhellen und ewigen Neuanfang festgehalten als dieser Maler und Meister des Lichts.
Wer wahrhaftig sucht, bleibt kein Betrachter. Er muss selbst mit ins Bild hinein und findet Gott mitten in der Welt am Kreuz. Das ist der Ort, wo der Glaube zu sich selbst kommt. Mitten in der Verzweiflung, im tiefsten Schweigen Gottes wird die menschliche Freiheit geboren.

Der Jesuitenpater Alfred Delp schreibt im Gefängnis, wenige Tage vor seiner Hinrichtung, im Februar 1945: „Die Geburtsstunde der menschlichen Freiheit ist die Begegnung mit Gott. Ob Gott nun einen Menschen aus sich herauszwingt durch die Übermacht von Not und Leid, ob er ihn aus sich herauslockt durch die Bilder von Schönheit und Wahrheit, ob er ihn aus sich herausquält durch die unendliche Sehnsucht, durch den Hunger und Durst nach Gerechtigkeit..., der Mensch muss zurück ins Wort.“ – Er muss zu sich selbst auferstehen.
Wer ins Wort zurückfindet, kehrt heim in die Verheißung, wohnt im Evangelium und verkriecht sich in der Taufe. Einem so geborgenen Menschen kann kein Tod „den Himmel rauben“.