Auf die Wut des Lebens gibt es nur eine Antwort: Christus, die begütigende Liebe - Predigt zu 2. Korinther 5,(14-)19-21 von Dieter Koch
5,14-21

Auf die Wut des Lebens gibt es nur eine Antwort: Christus, die begütigende Liebe

Karfreitag. Der Leidende Herr tritt in unsere Mitte. Gequält, gedemütigt, misshandelt. Karfreitag, der Leidenden Herr tritt in unsere Mitte, einer von vielen, einer von Tausenden, einer von Abertausenden, die gequält, gedemütigt, misshandelt wurden und noch immer werden, Land auf, Land ab. Der Herr – ein leidender Gerechter. Gott selbst – in der Tiefe der Schmach. Grauen, Entsetzen – Leere legt sich über die Seele und hallt aus der Tiefe wider.

Karfreitag – Weltnacht. Wird es ewig dunkel sein? Licht leuchtet in die Finsternis. Nichts ist schön, nichts ist leicht. Aber in die Schwere der Heimsuchung bricht das Morgenrot der Versöhnung. Güte, wahres Leben, Wahrheit, für die es sich zu leben lohnt, brechen auf aus abgrundtiefer Traurigkeit.

Jesus starb einen Tod, den viele sterben mussten. Ans Kreuz genagelt, verspottet, verfemt, ausgespien. Jesus starb einen Tod, den viele sterben müssen, Land auf, Land ab, ausgeliefert an Sadismus, an Barbarei, an Mordlust und Blutrausch. Was seinen Tod zum Tod aller macht, ist, dass hier einer sterben musste, den keiner schuldig sprechen konnte. Was seinen Tod so einzigartig macht, ist, dass Gott selbst in diesem Sterben war, Gott selbst sich zum Sterbenden machte, in und mit Jesus in diese tiefste Nacht hinein sich verströmte. Liebe, ohnmächtig-allmächtige Liebe: Gott war in Christus und versöhnte die Welt mit sich. Gott war in Christi Sterben und umarmte diese wutentbrannte, orgiastisch das Böse feiernde Welt mit seiner ohnmächtig-allmächtigen Liebe. Versöhnung brach an.

Jesus starb einen Tod, den viele sterben mussten, aber er starb ihn betend, fürbittend, frei von jeglicher Rache, leidend an der Wut der Menschen, sich in die Leere der Weltnacht verlierend und an den Vater  sich vergessend – ein Tod der Liebe, der grenzenlosen Liebe, der Feindesliebe. Seitdem tritt jeder Leidende, Gequälte, Gedemütigte, Verfolgte dieser Welt in ein anderes Licht, sehen wir ihn mit dem ohnmächtig-allmächtigen Blick echter Liebe und teilen die Trauer, die aus Naturnotwendigkeit und Menschenschuld geboren, an uns nagt.

Karfreitag. Der Leidende Herr tritt in unsere Mitte. Sein Leid ist unser Leid. Sein Schmerz ist unser Schmerz. Seine Qual ist unsere Qual, die eines jeden Menschen, dem man sein Daseinsrecht, seine Lebensfreude, seine Heimat, sein Verlangen nach Glück, nach dem kleinen Glück des alltäglichen Friedens nimmt. Sein Leid spiegelt sich im Leid der vielen tausend Namenlosen, die der Terror um ihr Leben bringt, die durch Mobbing gequält werden, die in der hemmungslosen Gier nach Macht und Geld an den Rand gedrängt werden, ihrer Arbeit ledig, freigesetzt, ausgelutscht und missbraucht –  wofür? Sein Leid spiegelt sich im Leiden der vielen Tausende, die durch Völkerfeindschaft, Religionshass, Faschismus jeder Couleur (heute unter der grünen Flagge des arabischen Propheten) gezogen wurden und werden? Wo bleibt die Güte? Wie wächst Versöhnung? Wer entnimmt uns der alles zermalmenden Wut, Wut, die durch Enttäuschung, durch Zorn, durch Rache, durch Gleichgültigkeit und Zynismus spricht, Wut, die den inneren Zwiespalt stetig vertieft und am Ende tötet?

Marc Chagall hat diese Wut wahrgenommen. Er hat ihr Sprache gegeben, und er hat sie aus tiefem Gottesglauben ins Licht der Versöhnung gehoben, in die ohnmächtig-allmächtige Liebe der Versöhnung, die von Christus her in  unser Leben fällt. Der Jude Chagall malte 1938 sein Bild: Die weiße Kreuzigung. Er identifizierte sich mit seinem heimgesuchten Volk und er identifizierte sich mit dem, der als Jude geboren, als Jude gekreuzigt, einer seinesgleichen war und doch der ganzen Welt gehört: Jesus von Nazareth.

1933 war Chagall mit seiner Frau Bella in Polen gewesen und erlebte ihn tief erschreckende Hassausbrüche gegen die Juden. Er erlebte den Anfang der mit Staatsterror organisierten Judenfeindlichkeit in Deutschland. Er spürte den Menschen verachtenden, Menschen mordenden Ungeist auch in Frankreich, seiner zweiten Heimat. Tiefe Traurigkeit überfiel ihn und er malte sie. Er ließ sie zu. Er gab seiner Seele Ausdruck, bis sie bereit war, den Gekreuzigten in sich aufzunehmen als Bruder im Leid und Gotteswort.

Dieses Bild wurde zur Antwort auf die Zeitereignisse wie auf die Weltnot schlechthin. Es spricht bis heute. In der Mitte unter einem weißen Lichtband steht riesengroß das Bild des Gekreuzigten als Symbol des gemarterten jüdischen Menschen. Die hebräische Inschrift „Jesus von Nazareth – König der Juden“ wie auch das aus einem jüdischen Gebetsmantel geschnittene Schamtuch weisen auf den jüdischen Ursprung des Gekreuzigten hin. Und so steht folgerichtig zu Füßen des Kreuzes in heller Aureole der jüdische Tempelleuchter und über dem Kreuz wehklagen die schwebenden Gestalten alttestamentlicher Gottesmänner, Gotteszeugen.

Um diese die Mitte haltende Zone des Heiligen verteilen sich die Szenen des Unheils. Links dringt eine Rotte Soldateska über einen Hügel herauf und stürmt ein brennendes Dorf mit durcheinander gewürfelten Häusern. Ein großes Boot, Männer und Frauen darin – schreiend – treibt über den Fluss – Flüchtende, Menschen. Ein Sturmtruppler auf der rechten Seite hat die Synagoge erreicht und angezündet und ist eben dabei, die Thorarollen aus ihrem Schrein zu reißen, nachdem er die heiligen Geräte auf die Erde geworfen hat. Im Vordergrund brennt im weißen Brand des Weihrauchs die Thora. Ein Kaftanjude mit seinem Sack eilt mit einem Klagegestus zu ihr hin. Links hat ein schreiender Mann, der entsetzt zur brennenden Synagoge blickt, eine Thorarolle mit beiden Armen an die Brust gedrückt und eilt davon. Vorn schreitet ein hilfloser Alter ins Leere. Eine Mutter sucht ihr Kind zu retten. Zersplitterndes, zerfetztes Leben in der Sprache des Bildes, all überall. Zersplitterndes, zerfetztes Leben – ob im World Trade Center, in den Zügen von Madrid, in der Synagoge von Djerba, im Museum in Tunis, im Betaclan in Paris oder auf den Plätzen Istanbuls. Zersplitternde, zerfetzte Leben – ob am Arbeitsplatz gemobbt, in der Liebe betrogen, in der Schule gepresst, ausgemustert und wertlos – und in der Mitte Er, der Leidende Herr, aller Menschen Bild und Stimme, in der Mitte Gott selbst in seiner ohnmächtig-allmächtigen Liebe.

Ein weißes Lichtband durchzieht Chagalls Bild, das weiße Licht der Gottheit, Gottes Liebe, Ruf der Versöhnung. Der alles Leid der Welt teilende, der alles Leid dieser Welt in sich aufnehmende Herr ist zugleich der alle mit sich versöhnende Gott – eine einzige, endlose Bitte: Kehre heim! Berge dich im Frieden! Meinen Frieden gebe ich, nicht gebe ich euch, wie die Welt gibt.

Als der Gekreuzigte in das Leben des Saulus trat, wurde aus Saulus Paulus. Er wurde frei vom Wüten der Welt, frei von Geifer und Rache, die ihn als Pharisäer zum Verfolger der Christen gemacht hatte. Als der Gekreuzigte in sein Leben trat, verbrannte die dunkle Glut seines Herzens, schwand die Zwiespältigkeit, die ihn gefangen hielt – und er lernte Gott ganz neu kennen als die ohnmächtig-allmächtige Liebe, die am Grund des menschlichen Herzens strömt und jeden all überall in die Einheit mit Gott weist. Werde auch du frei! Berge dich im Frieden! Lass ab vom Zorn! Kehre heim!

Die Begegnung mit Christus ist eine Begegnung mit dem Heiligen. Nur Gottes Liebe kann uns die Wut des Lebens von der Seele nehmen. Wer den Weg der Trauer geht, wird auch durch die Pforten der Freude treten, versöhnt mit sich, versöhnt mit der Welt. Neues Leben bricht auf, ewiges Leben im Zuspruch der Vergebung.  Nur die liebende Berührung verbrennt den Hass der Zeit. Nur Gottes tröstende Berührung stillt die Trauer des Herzens, mitleidend, mitfühlend, versöhnend. Das Wort von der Versöhnung geht um die Welt, bleibende Erinnerung an die andere, gute Seite des Lebens. Das Wort von der Versöhnung ist aufgerichtet auf den Scheiterhaufen des Lebens als Erinnerung an die eine ohnmächtig-allmächtige Liebe, die uns allein Menschen sein, Menschen werden lässt, die allein Frieden in unsere Seelen gießt, die allein uns Gottes als der letzten, bergenden Macht inne sein lässt und die uns deshalb ruft, am Frieden dieser Welt unaufhörlich zu bauen.

Auf die Wut des Lebens gibt es nur eine Antwort: die begütigende Liebe, das Geschenk freien Wohlgefallens aneinander. Unser Glaube sieht Gott als das Licht der begütigenden Liebe, wie sie noch durch Jesu letzte Worte zu uns spricht. Unser Glaube kennt keine andere Wahrheit, als dafür zu leben, dass immer mehr Menschen an immer mehr Orten in die Versöhnung eintreten, in den Raum des Friedens. Lass dich versöhnen! Lasst euch versöhnen mit Gott!

Es liegt ein weiter Weg zwischen Krieg und Frieden, zwischen Hass und Liebe, zwischen Worten und Taten, zwischen Not und Hilfe, zwischen Feindschaft und Verstehen. Jeden Tag gehen wir auf diesem Weg. Wenn Jesus uns voraus ist, werden wir das Ziel nicht verfehlen.

Perikope
25.03.2016
5,14-21