Aufatmen
In jener Situation hob Jesus an und sprach: Ich preise dich, Vater, Herr des Himmels und der Erde, dass du dies vor den Weisen und Klugen verborgen hast, und dies enthüllt hast den Unmündigen. Ja, Vater, denn so geschah Wohlgefälliges vor dir. Alles ist mir überliefert von meinem Vater, und niemand erkennt den Sohn denn nur der Vater; und niemand erkennt den Vater, denn nur der Sohn, und wem der Sohn es will enthüllen. Her zu mir alle sich Mühenden und Überlasteten – ich werde euch aufatmen lassen. Nehmt auf euch mein Joch und lernt von mir, denn ich bin sanft und von Herzen niedrig, und ihr werdet Aufatmen finden für eure Seelen. Mein Joch ist nämlich gut, und meine Last ist leicht.
In jener Situation, so beginnt Matthäus diesen Abschnitt, in jenem prall gefüllten Augenblick voller Möglichkeiten: in jenem Kairos – und wir blättern zurück, wollen herausfinden, was das für eine Situation ist, in der Jesus zum einen seinen jubelnden Lobpreis des Vaters ausspricht, zum andern seine berührende Einladung an alle Mühseligen und Beladenen, und entdecken: es ist eine polemische Situation. Jesus hatte über Johannes den Täufer gesprochen und beklagt, dass kaum jemand auf ihn hören wollte und auf Jesus selbst auch nicht; hatte seine Zuhörer, weil sie ihrerseits einen Kairos, die Möglichkeiten eines Augenblicks verpassten, mit Spielverderbern verglichen: ihr seid wie Kinder, über die sich andere Kinder beklagen: wir haben euch aufgespielt, und ihr wolltet nicht tanzen; wir haben euch Klagelieder gesungen, und ihr wolltet nicht trauern. Dies Bedauern darüber, dass die Leute nicht mitspielen, mag selbst noch ein Klagelied sein, doch dann verschärft Jesus den Ton, stellt sich vor: wenn in Tyros und Sidon, in zwei großen Städten außerhalb des Landes Israel, im heutigen Libanon, solche Taten geschehen wären – die Leute dort wären massenweise umgekehrt. Und, noch polemischer: selbst die Leute von Sodom wären umgekehrt, Sodom würde heute noch stehen.
Es mag sein, dass bei dieser jedenfalls hier äußerst hypothetischen Behauptung für den Erzähler Matthäus bereits die überraschende Erfahrung mitschwingt, dass Jesus, dass das Evangelium in der Tat seine große Wirkung außerhalb Israels hatte, bei Menschen also, die zuvor keine Ahnung vom Gott Israels und seiner Beziehungsgeschichte mit seinem Volk hatten – es ist jedenfalls überraschend, dass Jesus in dieser Situation von grimmiger Polemik zu diesem Jubelruf übergeht: Ich preise dich, Vater, Herr des Himmels und der Erde, dass du dies vor Weisen und Klugen verborgen, Unmündigen aber enthüllt hast. Das ist nicht nur überraschend, das ist auch irritierend. Haben denn nur Unmündige Jesus erkannt und das, was er bringt? Hat der Gott Israels, der Vater Jesu Christi, etwas gegen Weisheit und Klugheit? Teilt er womöglich die Ängstlichkeit engstirniger und engherziger Frommer, die befürchten, dass allzu viel Aufklärung und Wissen den Glauben gefährden könnte? Und bestätigt er damit wie sie die Überzeugung vieler aufgeklärter Ungläubiger, dass Glaube in der Tat nur was für noch Unmündige ist und auch nur solange, bis auch sie aufgeklärt und klug geworden sind, eines Besseren belehrt? Ist Jesus womöglich vernunftfeindlich? Hätte er es gern, wäre es ihm lieber, wir verblieben und verharrten in unserer selbstverschuldeten Unmündigkeit? Und was ist mit den vielen biblischen Stimmen, die uns gerade Weisheit empfehlen, dringend anraten und vor Torheit warnen? Karl Barth, der große Theologe des 20. Jahrhunderts, hatte erkannt und das auch kühn vertreten, dass es sich bei der Dummheit um eine Grundform der menschlichen Sünde handelt, und dazu hatte er gerade im 20. Jahrhundert ja auch ernste Gründe. Will Jesus uns von dieser Sünde nicht befreien und erlösen? Hat er nicht selbst das Evangelium immer wieder als seinerseits augenöffnend und aufklärend angepriesen, als Licht also nicht nur in unseren seelischen Finsternissen, sondern als Licht auch im Verstand? Schließlich versuchen wir, wenn auch nicht immer glänzend erfolgreich, Konfirmanden zu unterrichten in der Hoffnung, dass sie dadurch Gott und sich selbst und auch einander etwas besser verstehen. In unserer Gemeinde gibt es zudem jede Woche auch biblische Erwachsenenbildung, damit wir verstehen, was wir lesen, wenn wir Bibel lesen.
Es gibt offenbar verschieden Arten von Vernunft, Klugheit, Weisheit, und der polemische Kontext dieses Jubelrufs zeigt, dass Jesus hier von der herrschenden Weisheit und Klugheit spricht, der Klugheit der Herrschenden, von einem Wissen, das Macht ist, einer Vernunft, die dazu da ist, nicht nur Wissensgebiete, sondern auch Menschen zu beherrschen, von einer, wie es bezeichnend heißt, zwingenden Logik. Es geht um Herrschende und Besitzende, die gar nicht wirklich aufgeklärt werden wollen, weil sie längst Bescheid wissen, die – Spielverderber, die nicht mitspielen – gar nichts neues erfahren wollen. Wieviel Spott und Hohn hatten Banker und Unternehmer jahrelang über den Staat ausgeschüttet, über Politiker, diese ahnungslosen Stümper, die sie dann um Staatsknete anflehten. Inzwischen glaubt man doch, bei dem Wort Wirtschaftsweiser immer einen kräftigen Schuss Ironie mitzuhören. Es gibt eine nicht wirklich freie und schon gar nicht reine, sondern interessegeleitete, eine nur für ihre Profiteure wirklich praktische Vernunft. In dem Stück „Ingeborg“ von Curt Goetz, es ist wie alle seine Stücke nicht nur sehens- und hörens-, sondern auch lesenswert, appelliert ein Mann beschwörend an seine Frau: Denk doch mal logisch!, und sie antwortet entrüstet: Das könnte dir so passen. Der Apostel Paulus hat in seinem 1. Korintherbrief den Zusammenhang zwischen herrschender Weisheit und Macht deutlich gemacht und dabei auf die soziologische Zusammensetzung der Gemeinde in Korinth verwiesen: nicht viele Weise nach dem Fleisch, nicht viele Mächtige, nicht viele Edle. Gott hat die Weisheit der Welt zur Torheit gemacht. Denn weil die Welt durch ihre Weisheit Gott nicht erkannte, gefiel es Gott, durch törichte Predigt zu befreien, die daran glauben. Denn die göttliche Torheit ist weiser, als die Menschen sind, und die göttliche Schwäche ist stärker, als die Menschen sind. Der Dichter Christan Fürchtegott Gellert, deutlich vom Zeitalter der Aufklärung geprägt, hat sich darauf seinen eigenen Reim gemacht: Seh´ ich dein Kreuz den Klugen dieser Erden ein Ärgernis und eine Torheit werden, so sei´s doch mir trotz allen frechen Spottes die Weisheit Gottes. Im Psalm 8, auf den Jesus hier anspielt, den er später auch wörtlich zitiert, heißt es: aus dem Munde der jungen Kinder und Säuglinge – also der Schwächsten – hast du dir eine Macht errichtet gegen deine Feinde.
Doch rasch wird deutlich, dass es für alle, ob mündig oder unmündig, klug oder dumm, nicht leicht ist, Gott und Jesus zu erkennen, dass es sogar unmöglich ist: niemand erkennt den Sohn, denn nur der Vater, und niemand erkennt den Vater, denn nur der Sohn. Das ist beunruhigend und macht uns klar, dass wir viel zu harmlos und selbstverständlich damit rechnen, Gott und Jesus erkennen zu können, als wäre Gott nur einer unter den vielen Gegenständen, die wir zu erkennen versuchen, wenn auch vielleicht ein besonders wichtiger. Einen Gott, den es gibt, gibt es nicht, so hat der Berliner Theologe Dietrich Bonhoeffer in seiner schroffen Art diese Haltung kritisiert. Umgekehrt wird aber auch deutlich: wenn wir modernen Menschen in pathetischer Selbstgewissheit behaupten, Glaube sei früher die natürlichste und selbstverständlichste Sache von der Welt gewesen, nur für uns heute, nach der Aufklärung und nach all den Schrecknissen des 20. Jahrhunderts, schwer erschwinglich, dann reden wir jedenfalls nicht vom biblischen Glauben.
Jesus bleibt nicht bei dieser schroffen Abweisung unseres vielleicht allzu vertraulichen Umgangs mit Gott: niemand kennt den Vater, denn nur der Sohn, sondern fügt hinzu: und wem der Sohn es will offenbaren, enthüllen. Und das tut er, er spricht eine Einladung aus an alle Mühseligen und Beladenen, macht damit deutlich, dass er schon bei den Unmündigen nicht an intellektuelle, sondern gesellschaftliche Beschränkungen dachte. Den physisch und geistig, auch religiös sich mühenden, allen seelisch und gesellschaftlich niedergedrückten verheißt er, in Luthers schöner Übersetzung: ich will euch erquicken. Ein altmodisches, aber schönes Wort. Inzwischen ist über das englische Wort quick für schnell ein etwas seltsames Lehnwort in unsere Sprache geraten, das Luther nicht kennen konnte; er denkt nicht an ein Quickie, sondern daran, dass Mühselige und Beladene wieder quicklebendig werden, und zwar nicht durch theoretische Erkenntnisse, sondern durch Praxis: nehmt auf euch mein Joch und lernt von mir. Wer von Jesus lernt, wer das, was er lehrt, praktisch tut, macht Erfahrungen, entdeckt, dass das nicht eine weitere Last für ohnehin Überlastete ist, sondern leicht; kein weiterer Druck auf ohnehin Unterjochte; entdeckt auch, dass Jesus selbst niedrig ist und so anderen Erniedrigten hilft: so werdet ihr Ruhe finden für eure Seelen. Beim Berliner Streit um den Religions- und den Ethikunterricht waren sich ja beide Seiten einig darin, dass Kindern Werte vermittelt werden müssen, damit sie daraufhin auch richtig handeln, keine Ehrenmorde und möglichst auch sonst keine Morde mehr begehen: die richtige Theorie führe zu erwünschter Praxis. Jesus wie die übrige Bibel denkt umgekehrt: unser praktisches Tun bringt Erkenntnis, führt so auch zur Erquickung, zur Ruhe für unsere Seelen.
Was hat das alles mit dem heutigen Thema Cantate, was hat das mit Singen zu tun? Da müssen wir hinter Luther zurück und wörtlich übersetzen: her zu mir, alle ihr Bemühten und Überlasteten – ich werde euch aufatmen lassen. Nehmt auf euch mein Joch und lernt von mir, und ihr werdet Aufatmen finden für eure Seelen. Singen ist ein gutes Beispiel für den Vorrang der Praxis vor aller Erkenntnis und Theorie. Wer singt, ob im Gottesdienst, im Chor oder zuhause, atmet tief ein. Und wer tief einatmet, ist glücklich. Und wer glücklich ist, singt. Und wer singt, atmet tief ein ...
Singt darum kräftig mit in unseren Gottesdiensten, all ihr Mühseligen; kommt in unseren Chor, all ihr Überlasteten. Das wird euch erquicken.
Amen.
Lieder
Als erstes Lied nach der Begrüßung mit dem Wochenspruch aus Psalm 98: 286 oder 328,1-3 oder 327; nach der Epistel: 349 oder 449,3-6; da das Evangelium Predigttext ist, könnte an seiner Stelle die alttestamentliche Lesung Jesaja 12 stehen; danach könnte 318,9+8 oder 279,4 oder 325,1.2.6.7 gesungen werden; wenn Mt 11 gelesen wird: 363,1.2.5.6. Nach der Predigt: 271,1-2 oder 217,4. Zwischen Abkündigungen und Gebet: 322,1-5 oder 324,1.2.13-15 oder 148,5.6.9. Als Schlussstrophe zwischen Gebet und Segen: 100,4; 294,2; 318,9; 351,13; 369,7.