"Auferstehung mitten im Leben" - Predigt zu Markus 9, 17-27 von Claudia Krüger
9,17
Auferstehung mitten im Leben
  
  Und sie kamen zu den Jüngern und sahen eine große Menge um sie herum und Schriftgelehrte, die mit ihnen stritten. Und sobald die Menge ihn sah, entsetzten sich alle, liefen herbei und grüßten ihn. Und er fragte sie: Was streitet ihr mit ihnen?
  Einer aber aus der Menge antwortete: Meister, ich habe meinen Sohn hergebracht zu dir, der hat einen sprachlosen Geist.
  Und wo er ihn erwischt, reißt er ihn; und er hat Schaum vor dem Mund und knirscht mit den Zähnen und wird starr. Und ich habe mit deinen Jüngern geredet, dass sie ihn austreiben sollen, und sie konnten´s nicht.
  Er aber antwortete ihnen und sprach: O du ungläubiges Geschlecht, wie lange soll ich bei euch sein? Wie lange soll ich euch ertragen? Bringt ihn her zu mir!
  Und sie brachten ihn zu ihm. Und sogleich, als ihn der Geist sah, riss er ihn. Und er fiel auf die Erde, wälzte sich und hatte Schaum vor dem Mund.
  Und Jesus fragte seinen Vater: wie lange ist´s, dass ihm das widerfährt?
  Er sprach: von Kind auf.
  Und oft hat er ihn ins Feuer und ins Wasser geworfen, dass er ihn umbrächte.
  Wenn du aber etwas kannst, so erbarme dich unser und hilf uns!
  Jesus aber sprach zu ihm: du sagst: Wenn du kannst – alle Dinge sind möglich dem, der da glaubt.
  Sogleich schrie der Vater des Kindes: Ich glaube; hilf meinem Unglauben!
  Als nun Jesus sah, dass das Volk herbeilief, bedrohte er den unreinen Geist und sprach zu ihm: Du sprachloser und tauber Geist, ich gebiete dir: Fahre von ihm aus und fahre nicht mehr in ihn hinein!
  Da schrie er und riss ihn sehr und fuhr aus. Und der Knabe lag da wie tot, so dass die Menge sagte: Er ist tot.
  Jesus aber ergriff ihn bei der Hand und richtete ihn auf, und er stand auf.
  
  Jesus spricht ein Machtwort. Die zerstörende Kraft wird besiegt. Auferstehung.
  
  In einem Reiseführer über Andalusien wird der Flamenco beschrieben:
  “Einer der Künstler erhebt sich nach auffordernden Olé - Zurufen und beginnt zu tanzen. Der in der Seele steckende Dämon soll herausgeschrien, zerstampft und besiegt werden. .... Granadas großer Schriftsteller Federico García Lorca beschrieb diesen Dämon im Zusammenhang mit einem Flamencowettbewerb…, den eine 80-jährige gewann. Sie habe die Arme hochgehoben und den Kopf in den Nacken geworfen und lediglich einmal mit dem Fuß aufs Podium aufgestampft, aber mit derartiger Grazie und Kraft, dass jene Frau mit der Art, in der sie den Dämon besiegte, auch über jede Versammlung von Frauenschönheiten gewinnen musste.“ (Karoline Gimpl, Dumont Kunst Reiseführer Andalusien, S. 22).
  Faszinierend, wenn allein mit Grazie und Kraft der Dämon besiegt wird!
  Faszinierend, wenn ein Mensch frei wird von allem, was ihn gefesselt, drangsaliert und ihn immer wieder abgrundtiefer Verzweiflung ausgeliefert hat. Wunderbar, wenn ein neues Leben beginnt, begleitet von Leichtigkeit und einer Ahnung von Neuschöpfung. Faszinierend, wenn ein Mensch wieder unbeschwert lachen kann.
  Wie sehr wünschte ich mir solche Heilung durch eine einzige Bewegung, ein Wort, einen Blick, wenn ich durch die Station der Demenzkranken gehe oder psychisch kranke Menschen mit unendlich leerem Blick wahrnehme und erst recht, wenn ich Kindern mit chronischen Erkrankungen begegne, die tapfer um Normalität und Lebensfreude ringen.
  Liebe Gemeinde, wir glauben heute nicht mehr an gestalthafte Dämonen, aber wir vermuten bisweilen dunkle Mächte am Werk, deren zerstörerische Wirkung wir nicht begreifen, geschweige denn bewältigen können.
  Manchmal empfinden wir als „Dämonen“, was uns nachts um den Schlaf bringt oder das Morgengrauen grauenhaft macht, was uns wortlos bedroht und hilflose Ohnmacht auslöst. Besonders schlimm wird es, wenn man solche Dämonen Tag und Nacht nicht mehr los wird. Niemand ist ganz davor gefeit, auch Menschen, die bisher gesund und stabil durchs Leben gegangen sind, können durch schlimme Ereignisse, Stress, Arbeitslosigkeit, Verluste, Süchte in tiefe Depressionen rutschen, derer sie sich nicht erwehren können. Bei verängstigten Kindern öffnen wir mitunter einfach die Fenster und verjagen die unheimlichen Gestalten.
  Wie gerne würden wir all das, was wir als lebensfeindliche Mächte empfinden, mit einer einzigen entschlossenen Handbewegung für immer beiseite fegen!
  
  In unserer Geschichte spricht der Vater von einem sprachlosen Geist, der nicht greifbar ist, wohl aber angreift, erbarmungslos. Schwere Epilepsie-Symptome beschreibt er dabei, die wir auch heute noch kennen. Oft schon ist der Sohn dadurch in Lebensgefahr geraten, denn, im Unterschied zu Erwachsenen, kann ein Kind die Vorzeichen eines drohenden Anfalls meistens nicht erkennen und den Stürzen nicht vorbeugen. Deshalb sind die offenen Herdstellen im Haus ebenso eine Gefahr, wie die Brunnenlöcher, die nicht immer verdeckt waren.
  Nicht selten hatte gerade noch jemand den Jungen in letzter Minute festhalten oder irgendwo herausholen können. Nirgendwo konnte er wirklich sicher sein.
  Die Anfälle erscheinen als Überfälle. Als ob eine Macht den Kranken ganz gezielt töten wolle. Ein Mensch, der Sekunden zuvor noch ruhig und „normal“ zu sein schien, gerät schlagartig „außer sich“.. kein Wunder, dass die jüdischen Zeitgenossen Jesu dachten, diese Menschen seien von „Dämonen besessen“.
  (Vgl. M.Köhnlein, Wunder Jesu – Protest- und Hoffnungsgeschichten, S.196).
  Wir ahnen die Verzweiflung des betroffenen Kindes und gleichzeitig die traurige Hilflosigkeit der Eltern, die immer wieder mit ansehen müssen, wie ein neuer Anfall das Kind zu Boden wirft, so dass es sich in Schmerzen krümmt, bis es schließlich in eine tiefe Ohnmacht fällt.
  Wieder und wieder packt einen da die sehnsüchtige Hoffnung, dass endlich jemand helfen könnte. Und so wendet sich der verzweifelte Vater an die Jünger Jesu, hoffend, dass ihre heilenden Kräfte, mit denen Jesus sie ausgestattet und ausgesandt hatte,  auch bei seinem Kind wirken könnten. Aber in diesem Fall können die Jünger offensichtlich nichts ausrichten. Und so fangen sie an zu diskutieren und zu streiten. Worüber – das wissen wir nicht, aber wir vermuten, dass es sie irritiert hat, warum sie hier nicht helfen konnten. Vielleicht diskutieren sie auch darüber, aus welchem Grund das Kind erkrankt sein könnte.
  Bis heute wird oft gleichermaßen unsensibel wie ungeniert an Krankenbetten spekuliert, woher die Krankheit gekommen sein könnte. War es das Rauchen oder die Erbanlage, die falsche Ernährungsweise oder der Stress? Die Betroffenen selbst aber geraten durch solche Spekulationen oder durch Vergleiche mit anderen Patienten noch tiefer in einsame Not. Dabei würden wir den Kranken am meisten helfen, wenn wir einfach den Mund hielten, was Erklärungsversuche angeht.
  Und wenn wir stattdessen versuchten, gemeinsam das Leid tragen, und die Tatsache auszuhalten, dass wir nicht alles erklären können. Wir sollten behutsam danach fragen, was diesem Menschen in seiner ganz eigenen Situation guttut, was heilsam ist, und sei es auch nur für Augenblicke. Und wir sollten vor allem liebevoll zur Seite bleiben. Die Jünger und Schriftgelehrten aber streiten und diskutieren. Womöglich suchen sie sogar nach theologischen Erklärungen für die Krankheit oder haben fromme Sprüche auf den Lippen.
  
  Vor dieser Szene weilte Jesus mit seinen Jüngern auf dem Berg der Verklärung, wo sie die Gottes Stimme vernahmen und Erscheinungen erlebten, die sie nicht erklären konnten.
  Jesus kommt und die Menge „entsetzt sich“.
  Noch mag ein Glanz auf Jesu Gesicht liegen, über den sich die Leute „entsetzten“, so wie sie sich später beim glanzvollen Anblick des Auferstandenen „entsetzten“.
  
  Jetzt aber ist Jesus wieder mitten in den menschlichen Niederungen von Diskussionen, Streit, Recht haben wollen, Besserwissen – und gleichzeitig konfrontiert mit schwerstem Leiden. Der Vater des kranken Jungen schildert Jesus die Symptome seines Kindes und die Ohnmacht der Jünger angesichts der Schwere der Erkrankung.
  Jesus reagiert unwirsch, er will von der Unfähigkeit oder von den Streitigkeiten der Jünger nichts hören.
  
  Als der Junge zu Jesus gebracht wird, bekommt er einen ganz starken Anfall, erklärbar für die Damaligen dadurch, dass der Geist, von dem der Junge besessen ist, gegenüber der Macht Jesu keine Chance hat. Und so fährt er ein weiteres Mal mit letzter unbändiger Kraft in den Jungen. Für uns Heutigen ist dieser starke Anfall dadurch erklärbar, dass Stress und starke Aufregung die Wahrscheinlichkeit und Stärke eines epileptischen Anfalles deutlich steigern.
  Jesus erlebt mit eigenen Augen den heftigen Anfall des Kindes mit.
  Und er fragt behutsam nach und erfährt, dass das Kind von klein auf solche Anfälle bekommt. Jesus reagiert wie ein guter Arzt oder Therapeut. Er hört aufmerksam zu, er nimmt wahr, er fühlt sich hinein in die Situation seines Gegenübers.
  Er begreift, wie sehr die ganze Familie leidet unter der dauernden Angst um ihr Kind. Todesgefahr ist ein ständiger Begleiter der Familie. Sie können nie aufatmen.
  Wie sehr wünschte sich die ganze Familie, endlich einmal sorgloser leben zu können, fröhlicher, befreiter.
  
  Der Vater nimmt seine letzte Kraft und allen Mut zusammen und fleht Jesus an: „Wenn du aber etwas kannst, so erbarme dich unser und hilf uns!“ Deshalb war er doch gekommen. Welch ein liebender Vater, der solchen Mut aufbietet, und kämpft mit allem, was ihm gegeben ist. Vielleicht geschieht doch noch ein Wunder. Ein ganz kleiner Funke von Resthoffnung bleibt. Er gibt nicht auf. Niemals. Ähnlich ist es bei vielen Schwerkranken und ihren Angehörigen. Hoffnung gegen allen Augenschein.
   „Wenn du aber etwas kannst, so erbarm dich unser.“ Lass dir unser Leid zu Herzen gehen, an die Nieren, wörtlich: an die Eingeweide, ans Innerste.
  Und wir erinnern uns an das Erbarmen des barmherzigen Vaters angesichts seines verwahrlosten halb verhungerten Sohnes. Es jammerte ihn, und er lief ihm mit offenen Armen entgegen. So auch der barmherzige Samariter. Es jammerte ihn beim Anblick des schwer Verwundeten, und er hob ihn auf seinen Esel und tat, was er konnte.
  Ja, wenn einem etwas tief zu Herzen geht, einen im Innersten berührt, dann folgt man der Stimme des Herzens. Und handelt. Wohl dem, der seine innere Stimme noch nicht zum Verstummen gebracht hat.
   
  „Wenn du aber etwas kannst…“ wer weiß es denn schon. Gibt es wirklich einen, der stärker ist als die lebensfeindlichen Kräfte? Was hat dieser verzweifelte Vater nicht alles schon versucht und wie oft schon vergeblich gehofft. Was kann man denn noch glauben nach so viel Not und so viel Ohnmachtserfahrung.
  Jesu antwortet: „Du sagst: Wenn du kannst – alle Dinge sind möglich dem, der da glaubt.“ Also hat er zu wenig geglaubt, gebetet, vertraut? Ist er einfach nicht fromm genug, wie ihm vielleicht schon allzu oft unbarmherzig klar gemacht worden ist von scheinbar so frommen Leuten? Nun auch noch Jesus?
  „Alle Dinge sind möglich dem, der glaubt.“ Nichts wäre fataler und unchristlicher, als wenn wir dieses Wort Jesu verkehrten und sagten: “Wenn du also nur richtig geglaubt hättest, dann…“ In welch tiefe Not ein solches Wort gerade auch fromme Menschen stürzen kann, das wissen wir. Leider.
  „Alle Dinge sind möglich dem, der glaubt.“ Wenn wir ehrlich sind, dann kann das niemand von uns sagen – wir nicht, der Vater nicht, die Frommen nicht, die Leidenden nicht, sondern das kann nur Jesus sagen.  Ihm allein sind alle Dinge möglich. Dem Gottessohn, der in unmittelbarer Verbindung zu seinem himmlischen Vater steht.
  Wir Menschen können nur schreien wie der menschliche Vater: „Ich glaube, hilf meinem Unglauben!“
  Und ich meine, das ist überhaupt die einzig angemessene Antwort, die wir Menschen in Bezug auf unseren Glauben geben können. Freilich: Glaube hat heilende vitale Kraft. Das ist unbestritten. Und Glaube kann mitunter auch Berge versetzen.
  Aber Glaube ist kein Gut, das wir ein – für allemal wie einen unverlierbaren Besitz vor uns her tragen. Glaube ist uns nicht verfügbar. Wie oft packen uns Glaubenszweifel. Und wie oft erfahren wir, dass eben kein Wunder geschieht und keiner heilen kann. Glaube bleibt eine wechselvolle Beziehung zu dem Gott, der mir manchmal so unendlich fern und unbegreiflich vorkommt, und den ich ein andermal  wieder ganz nahe bei mir spüre.
   „Hilf meinem Unglauben!“, denn der lauert ständig an meiner Seite, begleitet von der bohrenden Frage nach dem Warum und manchmal begleitet von ohnmächtiger Wut.
  „Hilf meinem Unglauben.“  Und hilf gerade auch denen, die in ihrem Leid schon so lange nichts mehr glauben können.
  Wunder geschehen. Aber: uns Menschen sind die göttlichen Heilkräfte gegen unheilvolle Mächte und schwere Krankheiten nicht verfügbar. Wir können uns nur immer wieder flehend der wirkungsvollen Macht dessen anvertrauen, der stärker ist als alle Mächte dieser Welt.
  Bei allen brennenden Fragen nach Gott, den ich so oft nicht verstehe. Bei allem Leid, das ich nicht begreife, hilft es mir dennoch zu wissen: der Mensch gewordene Gott kämpft für das Leben, richtet mich auf, will das Leid überwinden und bleibt im Elend ganz nah an meiner Seite.
  Zuletzt aber wird alles bittere Leid aufgehoben sein in der unendlichen Liebe Gottes und kein Schmerz, kein Geschrei und kein Tod werden mehr herrschen. „Ich glaube, hilf meinem Unglauben!“
  Dann werden wir nichts mehr fragen müssen, sondern Gott von Angesicht zu Angesicht sehen.
  
  Was bleibt uns Menschen aber heute zu tun?
  Lassen wir uns das Leid anderer zu Herzen gehen und tun, was uns mit menschlicher Kraft möglich ist.
  Mit aller Sensibilität und allem Respekt vor unserem Gegenüber.
  Das sein. Da bleiben. Liebe spürbar werden lassen, auch wenn das Leiden selbst nicht immer geheilt werden kann. Mit Fantasie und Liebe das tun, was uns zu tun möglich ist.
  Eine Atmosphäre schaffen, in Kindergärten, Schulen, Heimen, Arbeitswelt und an Urlaubsorten, in der Menschen mit unterschiedlichen Begabungen und Behinderungen einander so begegnen, dass ein kostbares Miteinander entsteht.
  So dass eine Krankheit nicht immer im Vordergrund steht, sondern vielmehr Respekt, Gemeinschaft und nicht zu vergessen: auch Lebensfreude!
  Wir können immer wieder erfahren, dass geliebtes und für Augenblicke sogar befreites neues Leben möglich ist, auch in schwerer Demenz, auch in chronischer Krankheit, auch im Hospiz.
  
  Jesus heilt den Jungen mit einem Wort und einer einzigen Handbewegung.
  Er besiegt die zerstörerische Macht.
  Das Kind steht auf. Auferstehung mitten im Leben. Unverfügbar und nur dem Auferstandenen zuhanden.
  Und doch schenkt er uns eine Vorahnung dessen, was kommt.
  So fällt ein starker Hoffnungsstrahl in unser Dasein. Heute schon.
  Amen.
Perikope
16.10.2011
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