„Aufgefangen in Gottes Freiheit“ – Predigt zu Apostelgeschichte 16,23-34 von Dörte Gebhard
16,23-34

„Aufgefangen in Gottes Freiheit“ – Predigt zu Apostelgeschichte 16,23-34 von Dörte Gebhard

Predigt am Sonntag Kantate, am 19. 5. 2019 um 9.30 Uhr in der Reformierten Kirche Schöftland über Apg 16, 23-34

Gnade sei mit euch von dem, der da ist, der da war und der da kommt. Amen.

Liebe Gemeinde

Gleich zuerst eine Frage:

Kennen Sie irgendeine Geschichte, in der Unschuldige ihrer Freiheit beraubt und ins Gefängnis geworfen werden? Bestimmt!  Leider! Das ist zu erwarten!

Solche Geschichten gibt es abertausendfach. Amnesty international könnte leider ganze Bibliotheken mit solchen Berichten füllen.

Eine besonders aufregende Geschichte dieser Sorte steht in der Apostelgeschichte des Lukas im 16. Kapitel. Paulus und Silas sind in Philippi. Sie haben dort einen Wahrsagegeist bekämpft, der ein paar geschäftstüchtigen Herren leider viel Geld gebracht hatte. Dafür werden sie sofort wegen Unruhestiftung angeklagt und unmittelbar bestraft.

Nachdem man ihnen, Paulus und Silas, viele Schläge verabreicht hatte, ließen sie die beiden ins Gefängnis werfen. Dem Gefängniswärter wurde eingeschärft, sie besonders gut zu bewachen. Befehlsgemäß brachte er sie in die hinterste Zelle und schloss ihre Füße in den Holzblock.

Paulus und Silas sind nicht einfach Unschuldige, sondern sogar Wohltäter; sie haben gerade eine Frau befreit, aus den Fängen zwielichtiger Gestalten! Dabei haben sie allerdings für etwas Aufsehen gesorgt, denn wer lukrative Geschäfte unmöglich macht, lebt gefährlich! Bis heute. So fangen diese Geschichten an! Sie sind leider nicht neu und schon gar nicht einzigartig.

Eine zweite Frage habe ich jetzt: Waren Sie selbst schon einmal im Gefängnis? Und dort in der hintersten Zelle? Hoffentlich nicht! Das sei ferne!

Ich war schon hinter Gitter. 2001 in Paris, mitten in der Stadt, in einem verwahrlosten Bau aus dem 19. Jahrhundert, mit dem irreführenden Namen La Santé, also „Die Gesundheit“.  Wie kann man ein Gefängnis bloss so nennen? Man kann es, wenn die Strasse davor schon „Rue de la santé“ heisst.

Das Gefängnis ist leider immer schon berühmt-berüchtigt, bis 1972 wegen der Hinrichtungen, Vollstreckungen der Todesstrafe, seitdem wegen der grauenhaften hygienischen Bedingungen. Das Gefängnis war 2001 vollkommen überbelegt, man musste sich drinnen einen Weg durch die Gefangenenmenge bahnen. Nun ist es seit 2014 geschlossen und wird renoviert.

Allerdings war ich seinerzeit nur kurz dort, zur Seelsorgeausbildung, und drum noch nie um Mitternacht.

Was sich damals mitten in der Nacht in Philippi zuträgt, erzählt Lukas folgendermassen:

Um Mitternacht beteten Paulus und Silas und sangen Gott Loblieder. Die anderen Gefangenen hörten ihnen zu. Plötzlich gab es ein starkes Erdbeben, dass die Fundamente des Gefängnisses erschütterte. Da sprangen alle Türen auf, und die Ketten fielen von den Gefangenen ab.

Liebe Gemeinde

Das sind doch die fabelhaften und fieberhaften Fantasien von Inhaftierten überall auf der Welt! Was sollen sich Gefangene denn Besseres wünschen als so ein passendes Erdbeben? Genau so stark, dass die Türen aufspringen, aber so schwach, dass niemandem die Decke auf den Kopf fällt?! Stark genug, um die Freiheit zu erlangen und doch so schwach, dass niemand begraben wird unter tödlichen Trümmern? Leider ist nicht überliefert, welche Lieder und wie laut man singen muss, um ein solch treffliches Erdbeben auszulösen. Wir wissen auch nichts mehr von den anderen Gefangenen, die den Gesängen lauschten, leider.

Eine dritte Frage habe ich noch:

Kennen Sie schon die Geschichte aus dem Gefängnis, in der zwei Gefangene den Wächter befreien? Wahrscheinlich nicht! Bis jetzt! Diese Geschichte steht auch nur in der Apostelgeschichte des Lukas im 16. Kapitel. Sie geht erst so richtig los, wenn alle anderen Geschichten von Befreiungen leider längst zu Ende sind. Aber Freiheit ist niemals das Ende, sondern immer der Anfang von etwas Neuem! Jetzt wird es spannender:

Der Gefängniswärter wurde aus dem Schlaf gerissen. Als er sah, dass die Gefängnistüren offen standen, zog er sein Schwert und wollte sich töten. Denn er dachte: Die Gefangenen sind entflohen.

Dieser Wächter weiss Bescheid! Der Mann hat keine Illusionen oder sowas. Und er braucht kein Fitzelchen Fantasie dazu, sich seine Zukunft auszumalen. Da er Schloss und Riegel aus nächster Nähe kennt, weiss er leider nur zu gut, wie es sein wird, wenn er gleich drin sitzt, halbnackt, halbtot, frisch verprügelt mit Ruten, in der hintersten Zelle, die Füsse im Holzblock eingeschlossen. Warum sollten es die Römer mit ihm anders machen?!

Aber Paulus schrie laut: »Tu dir nichts an! Wir sind alle noch hier.«

Sie sind noch alle da, aber es ist nichts mehr wie es war. Die Gefangenen sind frei, sie könnten fliehen. Machen sie aber nicht. Mit Gottes Hilfe kommt es überhaupt nicht so, wie es eigentlich kommen muss.  Denn der Gefängniswärter muss eben auch erst noch befreit werden. Er ist noch gefangen in Finsternis, Gehorsam und Todesangst.

Der Wärter rief nach Licht. Er stürzte in die Zelle und warf sich zitternd vor Paulus und Silas nieder. Dann führte er sie hinaus und fragte: »Ihr Herren, was muss ich tun, damit ich gerettet werde?« Etwas anderes als Gefangenschaft kann sich der Wächter leider gar nicht vorstellen, er stellt sich nur einen Wechsel in der Chefetage vor und hofft, dass Paulus und Kollege die neuen Chefs werden und er so seinen alten Wächtern, den Römern, entgeht. An echte Freiheit kann er gar nicht denken, aber Silas und Paulus schaffen es mit Gottes Hilfe.

Die beiden fangen ihn auf in der Freiheit Gottes.

Sie antworteten: »Glaube an den Herrn, Jesus, dann wirst du gerettet und mit dir alle in deinem Haus.« Und sie verkündeten ihm und allen anderen in seinem Haus das Wort des Herrn. Jetzt kennen wir schon drei Sorten Gefangenschaft und Freiheit.  Zuerst sind da die Mitgefangenen, die sich selbst leider nicht zu singen trauen: Sie sind äusserlich und innerlich gefangen.  Dann kommen Paulus und Silas, sie sind zwar äusserlich gefangen, aber innerlich vollkommen frei. Sie sind sogar so frei, auch noch andere zu befreien. Zuerst eine Frau, dann sich selbst, jetzt vor allem ihren Wächter, denn der wiederum ist zwar äusserlich tendenziell frei, aber innerlich stark gefangen.

Diese Gefangenschaft ist am wenigsten offensichtlich, hat aber im Falle der Befreiung die herrlichsten Konsequenzen. Jetzt überschlagen sich die Ereignisse. Lukas kommt mit dem Erzählen kaum nach. In Freiheit geschieht viel mehr als in Gefangenschaft, man muss nicht einmal auf den nächsten Morgen warten. Es passiert so viel, dass leider nicht einmal Zeit bleibt, um das Waschwasser vor der Taufe auszuwechseln:

Noch in derselben Nachtstunde nahm der Wärter Paulus und Silas zu sich. Er wusch ihnen die Wunden aus. Dann ließ er sich umgehend taufen und mit ihm alle, die in seinem Haus lebten.

Anschließend führte er die beiden in sein Haus hinauf und lud sie zum Essen ein. Die ganze Hausgemeinschaft freute sich, dass sie zum Glauben an Gott gefunden hatte. Liebe Gemeinde Langsam wird es hell in Philippi, stelle ich mir vor!  Die längste Nacht hat ein Ende.  Hoffentlich haben sie dann das Wasser fortgeschüttet und nicht vor dem Essen auch noch Hände und Füsse darin gewaschen. Ich mag gar nicht daran denken!  Taufwasser sollte frisch sein wie bei uns, finde ich!

Aber das Beste ist: Auch wir, die ganze Gemeinschaft, sind heute zum Essen eingeladen. Wir sind so frei und feiern miteinander das Heilige Abendmahl.

Nochmals: Wie frei sind wir genau? Es gibt innere und äussere Freiheit, manchmal beide, manchmal keine.  Die Mitgefangenen sind gar nicht frei,  Paulus und Silas sind innerlich frei und werden es äusserlich.  Der Wächter ist äusserlich frei und wird es innerlich.  Wir sind schon, sonst wären wir nicht hier, äusserlich frei.

Innerlich sind wir auch frei – oder werden es, wenn es wir uns daran freuen, dass wir getauft sind, wenn wir vertrauen, dass der Glaube uns gefunden hat und dass wir aufgefangen und aufgehoben sind in Gottes Freiheit. Jetzt feiern wir Abendmahl, damit geht es los!

Denn in Freiheit geschieht viel mehr als in Gefangenschaft, man muss nicht einmal auf den nächsten Morgen warten.  Wir machen es wie Paulus und sein Kollege, wir fliehen nicht, wir bleiben noch etwas da.

Mit unserer Kollekte heute können wir protestantische Kirchen im Tessin aus ihren finanziellen Nöten befreien. Dort kann keine Kirchensteuer erhoben werden. Sie leben in und um Locarno von der Hand (am Portemonnaie) in den Mund.

Es passiert so viel, aber ich bin gewiss: In der Kaffeemaschine im Kirchgemeindehaus ist frisches Wasser.

Nachher gleich, beim Kirchenkaffee, können wir jemanden von der Hälfte seiner Sorgen befreien, nur schon durch Zuhören, denn geteiltes Leid ist nur noch halbes Leid.

Die Möglichkeiten, andere Menschen zu befreien sind ganz individuell, aber Gottes Reich guter Gelegenheiten näher und grösser als wir denken.

Paulus und Silas sitzen denn auch nicht ewig beim Essen, ich lese aus der Apostelgeschichte noch, was am nächsten Vormittag, ungefähr zu unserer Gottesdienstzeit geschieht:

Als es Tag geworden war, schickten die Stadtobersten die Amtsdiener und gaben dem Wärter die Anweisung: »Lass diese Leute frei!« Der Gefängniswärter gab Paulus die Nachricht weiter:  »Die Stadtobersten haben mich angewiesen, euch freizugeben. Ihr dürft das Gefängnis verlassen. Der Friede Gottes begleite euch!«

Aber Paulus sagte zu den Amtsdienern: »Man hat uns ohne ordentliches Gerichtsverfahren öffentlich verprügeln lassen. Dabei besitzen wir das römische Bürgerrecht! Dann hat man uns ins Gefängnis geworfen. Und jetzt will man uns heimlich abschieben? Das kommt nicht infrage! Die Stadtobersten sollen herkommen und uns persönlich aus dem Gefängnis begleiten!« Die Amtsdiener meldeten das den Stadtobersten. Die waren sehr erschrocken, als sie erfuhren, dass Paulus und Silas das römische Bürgerrecht besaßen. Sie kamen selbst und entschuldigten sich. Dann begleiteten sie die beiden aus dem Gefängnis und baten sie, die Stadt zu verlassen. Vom Gefängnis aus gingen Paulus und Silas zu Lydia. Dort trafen sie die Brüder und machten ihnen Mut. Dann verließen sie die Stadt.

Und der Friede Gottes, der höher ist als unsere Vernunft, stärke und bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus, Amen.