Heute morgen war es endlich soweit, heute durften sie sie aufmachen. Schon gestern Abend habe ich, wie jedes Jahr, die Adventskalender für meine Kinder aufgehängt. Für jedes Kind und jeden Tag der Adventszeit ein kleines Stoffbeutelchen mit einer Süßigkeit oder einem kleinen Spielzeug, rot und grün und golden eingepackt. Schön sieht das aus in der Küche, bunt und geheimnisvoll. Und in der Adventszeit stehen meine Kinder tatsächlich ein bisschen lieber auf als sonst, obwohl es jetzt morgens so dunkel ist wie zu keiner anderen Zeit im Jahr. Mehr Päckchen, sagen meine Kinder, wir können nicht mehr warten, wir wollen sie endlich aufmachen dürfen.
Mit der Ungeduld der Kinder beginnt die Adventszeit. Eine Zeit der Geheimnisse und Überraschungen, für Kinder manchmal regelrecht quälend. „Ich kann gar nicht einschlafen, ich bin so aufgeregt“, das ist die Entschuldigung für das Getrappel auf dem Flur trotz der strengen Ermahnungen, jetzt besser zu schlafen, weil sonst der bekanntermaßen etwas menschenscheue Nikolaus bestimmt nicht kommt. Die Ungeduld erreicht ihren Höhepunkt dann in der Viertelstunde am Heiligen Abend, bevor die Tür zum Weihnachtszimmer endlich aufgemacht wird. Und dann dürfen sie wieder aufmachen, endlich auspacken, die Geschenke in ihren bunten Umhüllungen, die Pakete, die schon einige Tage vorher angekommen waren und da lagen, verschlossen und geheimnisvoll. Aufmachen, endlich. Heute morgen war es soweit.
Und ich sah in der rechten Hand dessen, der auf dem Thron saß, ein Buch, beschrieben innen und außen, versiegelt mit sieben Siegeln. Und ich sah einen starken Engel, der rief mit großer Stimme: Wer ist würdig, das Buch aufzutun und seine Siegel zu brechen? Und niemand, weder im Himmel noch auf Erden noch unter der Erde, konnte das Buch auftun und hineinsehen. Und ich weinte sehr, weil niemand für würdig befunden wurde, das Buch aufzutun und hineinzusehen. Und einer von den Ältesten spricht zu mir: Weine nicht! Siehe, es hat überwunden der Löwe aus dem Stamm Juda, die Wurzel Davids, aufzutun das Buch und seine sieben Siegel.
Aufmachen, endlich. Ein Buch mit sieben Siegeln – nicht nur die Neugier der Kinder wird bei diesem Anblick geweckt. Längst ist das Buch mit den sieben Siegeln sprichwörtlich geworden. Etwas, das ich nicht verstehe, etwas, das sich mir nicht erschließt, obwohl ich es doch so gerne aufmachen würde. Das Buch mit den sieben Siegeln reizt wie alles Versiegelte, Verbotene, Verschlossene zu endlosen Spekulationen über seinen Inhalt. Der Inhalt dieses Buches, die großen Visionen aus dem Buch der Offenbarung, geben dazu ja durchaus auch Anlass. Ein Buch, das nur selten gepredigt wird – aber eines der biblischen Bücher, dessen Inhalt auch bei völlig kirchenfernen Menschen noch etwas wachruft. Die Zahlen- und Tiersymbolik, der Löwe, das Lamm, die Siebenzahl, die Zahl des Tieres – da war doch etwas? Das kommt doch in der Bibel vor, da, wo es um das Ende der Zeiten geht?
Längst haben Filme, Musik und Computerspiele sich der Auslegung dieses Buches bemächtigt, auch die zahllosen Internetseiten, die über die Anzeichen und die Stadien des Weltuntergangs philosophieren. Man kann das alles als Spinnerei oder bestenfalls überschießende Phantasie abtun. Und trotzdem: Aufmachen, endlich, dieses Gefühl ist nicht nur den Kindern vorbehalten. Aufmachen und dann Bescheid wissen, was drin ist, ob es so ist, wie ich erwartet habe, ob es mich überrascht oder nicht. Ein Buch, das Offenbarung heißt und da soll etwas drinstehen darüber, wie das einmal alles ausgehen wird mit uns und wo wir jetzt gerade stehen. Seit es aufgeschrieben worden ist, hat das Buch der Offenbarung die Phantasie der Menschen genährt. Nimmt man nur das Bild der vier apokalyptischen Reiter, die beim Öffnen der Siegel losgelassen werden – zu allen Zeiten haben Menschen versucht, ihre Erfahrungen von Verfolgung, von Bedrohung und Not mit diesen Bildern in Übereinstimmung zu bringen. Und sie haben es als Verfolgte, Bedrohte und Notleidende getan, um zu wissen, woran sie sind, um Sinn und Bedeutung in ein ansonsten namenloses Schicksal zu bringen, um nicht überrascht zu werden von schlimmen und noch schlimmeren Erfahrungen. Wenn es in dem Buch steht, dann muss es ja so kommen, dann ertragen wir das in dem Wissen, dass es am Ende doch gut ausgehen wird. Wenigstens ein kleines bisschen Sicherheit, bloß auf Schlimmeres gefasst sein, aber immerhin gefasst sein. Eine ängstliche Erwartung, eine Hoffnung, die ihren Namen nicht verdient, aber eine Hoffnung. Aufmachen, endlich und dann wissen, woran man ist. Wissen, was kommt.
Wissen, was kommt. Ein starker, großer Wunsch. Im Blick auf das Buch mit den sieben Siegeln wird er noch drängender. Denn außen steht ja schon etwas drauf, es ist von innen und außen beschrieben. Einzelne Worte, vielleicht Sätze sind schon zu lesen. So wie der Absender auf einem Weihnachtspäckchen erst recht neugierig macht, steigert das, was da außen auf dem Buch geschrieben ist, die Neugier. Jetzt will ich es aber genau wissen. Aufmachen, endlich und wissen, was kommt.
Heute ist der erste Advent. Was vor uns liegt, ist kein Buch mit sieben Siegeln. Wir wissen ja, was kommt. Die Zeit der Geheimnisse und Überraschungen, zuallererst für die Kinder, aber auch für das Kind in uns. Die Zeit, in der wir mehr oder weniger angestrengt suchen und überlegen und kaufen und einpacken, damit andere aufmachen können und ihre Freude unsere Freude wird. Manchmal ist es schwer, sich aufzuraffen, das „Alle Jahre wieder“ alle Jahre wieder hat ja auch etwas Erschöpfendes. Meine Gedanken beim Befüllen von drei Adventskalendern mit 72 Päckchen sind jedenfalls nicht immer so adventlich. Da wäre es gut, sich manchmal etwas leihen zu können von der unbändigen Kraft der Erwartung, die den Kindern eigen ist. Manchmal wünsche ich mir das, noch einmal so sein zu können, so voller Erwartung. An den Kindern ist aber auch zu sehen, wie quälend die Erwartung sein kann. Dass man nicht schlafen kann vor Aufregung, bis zu Tränen gespannt ist auf das, was da kommt.
Es ist Advent und wir beruhigen uns, dass wir ja wissen, was kommt. Kein Grund für unruhige Nächte, kein Anlass für Tränen. Und doch beginnen wir heute auch ein neues Kirchenjahr, steuern wieder einmal auf Weihnachten zu, auf einen ersten wichtigen Haltepunkt im Lauf der Zeit.
Weißt du noch, letztes Jahr Weihnachten? Schöne Erinnerungen, an das erste gemeinsame Weihnachten, an das letzte Weihnachten zu zweit vor der Geburt des Kindes. Und auch schwere Erinnerungen, an das erste Weihnachten allein, an das letzte Weihnachten, das wir noch zusammen gefeiert haben. So gehen die Gedanken zurück zu den Adventszeiten, zu den Weihnachtsfesten, die wir schon erlebt haben, Haltepunkte im Lauf der Zeit und wir merken auf einmal: Wir wissen ja auch nicht, was kommt. Niemand weiß das. Wir gehen in die Zeit, die auf uns zukommt, voll freudiger Erwartung, auf Schlimmeres gefasst, mit Hoffnung, die den Namen verdient oder auch nicht. Wie ein Buch liegt sie vor uns, die Zeit, die kommt, mit sieben Siegeln. Aufmachen?
Es scheint so zu sein, als sei auch das Buch mit den sieben Siegeln wie der Adventskalender meiner Kinder nur dazu da, die Menschen Geduld zu lehren. Was drin steht, was da kommt, darum geht es gar nicht zuerst. Das alles tritt in den Hintergrund vor der Frage, wer denn überhaupt kommen kann und das Buch öffnen. Ein starker, großer Engel ruft mit lauter Stimme, ganz anders als die zahllosen Engelchen, die schon längst wieder als Weihnachtsdekoration überall herumfliegen. Wer ist würdig, das Buch aufzutun und seine Siegel zu brechen? Aufmachen, das könnte man jetzt, das soll sogar geschehen, aber niemand ist da, der sich das zutraut, der dem starken Engel antwortet und sagt: Hier bin ich, ich mache auf, damit geschehen kann, was geschehen muss und kommen kann, was kommen muss.
Die Frage, was kommt, ist erst die zweite Frage. Die erste Frage ist: Wer kommt? Im Buch der Offenbarung ist bei allem, was mehrdeutig und unklar und endlos interpretierbar ist, eine Antwort klar. Es geht um Jesus Christus, um sein Reich und seine Herrschaft und wir wissen genau, wie es angefangen hat. Wir gehen darauf zu in diese Wochen, wir gehen nach Bethlehem mit Maria und Josef, in den Stall und zur Krippe, alle Jahre wieder, und finden das Kind, Jesus von Nazareth, geboren wie unsere Kinder, genauso klein, schwach, bedürftig.
Bist du es, der da kommen soll, oder sollen wir auf einen anderen warten? Es kommt einer, der muss Mut haben und Kraft, um die sieben Siegel zu öffnen. Einer, der mit allem fertig wird, was dann kommt. Es ist schwer zu glauben, dass es gerade das Kind, dessen Geburt wir bald feiern, mit allem aufnehmen kann, was die Zukunft bringt. Es ist doch selbst so klein, es ist schwach und bedürftig. Dieses Kind geht den einmal eingeschlagenen Weg immer weiter. Jesus von Nazareth mit seiner Leidenschaft für Armen und seinen absurden Forderungen. Die Wange hinhalten, die Feinde lieben. Nichts besitzen, keinen Einfluss haben. Und am Ende das Kreuz und der Tod. Der König, der auf dem Esel reitet, der ohne Macht und Herrlichkeit einzieht bei uns. Der Löwe, der ein Lamm ist. Er kennt alle, die verfolgt und verzweifelt sind, er hat Schmerz und Not an sich selbst erfahren. Er wird aufmachen und bei uns sein. Mit ihm an der Seite gehen wir durch alle Zeiten. Amen.
Text zum Eingang:
Und die Bewegtheit des Herrn ist ohne Groll
und von großer Dauer
Und seine Gerechtigkeit hört nicht auf
und seine Güte bleibt ewig
Und darum entfernen wir gern die Bitterkeit
wie ein enges Gewand
Und die Trauer legen wir ab
wie einen Mantel im Frühling.
Und mit viel Sorgfalt nehmen wir
die Einsamkeit von unserer Stirn
Und wir weisen unsere Aufmerksamkeit hin
zu den einfachen Dingen
Und wir verlassen uns auf das Dach,
das keinen Regen durchlässt
Und wir vertrauen dem Stuhl,
der fest steht, und der uns trägt
Und die Lieder der Hirten…
und die Gebete der erwachenden Frauen
Und es brechen die Tore auf…
und es treten hervor die Erkennbaren.
Und sie stehen makellos da...
und sie breiten ihre Flügel aus.
(nach Jesse Thor)
Psalmvorschlag: Psalm 24
Evangelium: Mt 21, 1-9
Lesung: Sacharja 9, 9-12
Liedvorschläge:
1,1-4 (Macht hoch die Tür)
4, 1-5 (Nun komm, der Heiden Heiland (Wochenlied)
14, 1-3 und 6 (Dein König kommt in niedern Hüllen)
19, 1-3 (O komm, o komm, du Morgenstern)
20, 1-6 (Das Volk, das noch im Finstern wandelt)