Augenblicke der Großmut: Wie wir werden können, was wir sind … - Predigt zu 1Sam 24,1-20 (ohne 14-16) von Uwe Habenicht
24,1-20

Ein Stofffetzen

Der vorliegende Predigtentwurf ist so angelegt, dass der Predigtext von einer anderen Person vom Lesepult oder von einem anderen Ort in mehreren Abschnitten gelesen werden kann. Ich schlage zudem eine leichte Kürzung des sehr langen Textes vor.
Das besprochene Lied von Silbermond könnte an der entsprechenden Stelle, wenn dies möglich und gewünscht ist, eingespielt werden, der Liedtext dann zum Mitlesen per Beamer/Bildschirm oder auf einem Blatt zum Mitlesen.
Wer mag, kann auch einen Stofffetzen mit auf die Kanzel nehmen, ihn auch während der Predigt durch die Bank- oder Stuhlreihen wandern lassen. Auch ist es denkbar, am Ende der Predigt einen Korb mit Stofffetzen zum Mitnehmen durch die Reihen wandern zu lassen.

„Das war knapp. Fast hätte es mich erwischt.“
Kurzatmig und verschwitzt steht der kleine Nikolai in der Küchentür. Seine Eltern blicken ihn erstaunt an.
Wie siehst du denn aus?, fragt ihn seine Mutter, steht auf und drückt ihn erstmal ganz fest an sich.
„Und was ist mit deiner Jacke? Die sieht ja ganz zerfetzt aus? Setz dich erstmal hin und trink was“, fügt sein Vater hinzu, rückt den Stuhl zurecht und giesst Wasser in ein grosses Glas.
Nikolai löst sich aus der Umarmung seiner Mutter, setzt sich und sofort sprudelt es aus ihm heraus.
„Auf dem Schulhof, da gab es eine Prügelei mit ganz ganz vielen und fast hätten sie mich auch gekriegt, aber ich konnte noch wegrennen. Nur an der Jacke haben sie mich festgehalten und haben sie zerrissen. Und jetzt fehlt ein Stück …“

Liebe Gemeinde,
manchmal ist es ganz knapp und nur haarscharf entgehen wir einer Gefahr. Wer kann sich nicht daran erinnern, sich in einer brenzligen Situation im letzten Augenblick gerettet zu haben? Wahrscheinlich könnten wir die nächste Stunde damit verbringen, einander solche Geschichten zu erzählen, wie sich für uns im letzten Moment ein Ausweg, eine Rettung ergab.
Zerfetzte Kleidung, Löcher in den Hosen, abgerissene Stofffetzen gibt es nicht nur in der Kindheit. Auch als Jugendliche oder Erwachsene lassen wir im wahrsten Sinne des Wortes hin und wieder Federn und kommen gerade so davon. 
Ein Stofffetzen erzählt von Rettung in letzter Minute. Das Samuelbuch hat eine Begebenheit aufbewahrt, in der ein Stofffetzen eine ganze Geschichte erzählt. Im alten Israel jagt König Saul den jungen David, weil er fürchtet, von diesem vom Thron gestossen zu werden. Doch hört selbst:

1. Samuel 24, 1-5a:

1 Und David zog von dort hinauf und blieb in den Bergfesten bei En-Gedi. 2 Als nun Saul zurückkam von der Verfolgung der Philister, wurde ihm gesagt: Siehe, David ist in der Wüste En-Gedi. 3 Und Saul nahm dreitausend auserlesene Männer aus ganz Israel und zog hin, David samt seinen Männern zu suchen bei den Steinbockfelsen. 4 Und als er kam zu den Schafhürden am Wege, war dort eine Höhle, und Saul ging hinein, um seine Füße zu decken[1]. David aber und seine Männer saßen hinten in der Höhle. 5 Da sprachen die Männer Davids zu ihm: Siehe, das ist der Tag, von dem der HERR zu dir gesagt hat: Siehe, ich will deinen Feind in deine Hand geben, dass du mit ihm tust, was dir gefällt. Und David stand auf …

Das ist ganz grosses Kino und alles, was eine spannende Filmszene braucht, ist hier versammelt. Zwei Kontrahenten, die einander bis aufs Blut jagen und bekriegen. Eine echte Männergeschichte, in der es um Macht und den Königsthron geht. Die sich steigernde dramatische Filmmusik höre ich fast mit, in diesen Momenten, in denen sich Saul aus der Menge seiner Krieger löst, um für einen Moment allein zu sein. Es ist ein menschliches Bedürfnis, das Sauls Rachefeldzug gegen David für einige kurze Augenblicke unterbricht. Wahrscheinlich haben Sie sich beim Zuhören eben schon gefragt, was es wohl bedeuten mag, wenn es heisst: Saul ging in eine Höhle, um seine Füsse zu decken. Die hebräische Wendung «seine Füsse decken» umschreibt nichts anderes als das Austreten, das Verrichten der Notdurft – wie wir es auch im Deutschen ein wenig umschreibend sagen. Der vor Wut schäumende und auf Rache sinnende Saul muss seine Jagd auf David unterbrechen, weil er mal austreten muss. So lässt er seine Gefolgsleute hinter sich und betritt die Höhle, in deren Tiefen sich David mit seinen Leuten befindet. Die Filmmusik wird dunkler und bedrohlicher.  Wir sehen, wie König Saul geradewegs seinem Unheil in die Arme läuft. Saul hockt sich hin – ich bleibe mal im biblischen Sprachgebrauch –, um seine Füsse zu decken. Die Filmmusik wird noch dramatischer, die Celli setzen ein, wir sehen, wie sich David von hinten an seinen Kontrahenten heranschleicht, das Schwert bereits in der Hand. David hebt das Schwert und …

1. Samuel 24, 5a -6a:

und schnitt leise einen Zipfel vom Rock Sauls. 6 Aber danach schlug ihm sein Herz, dass er den Zipfel vom Rock Sauls abgeschnitten hatte, 

Liebe Gemeinde,

die biblische Dramaturgie dieser Erzählung nimmt im letzten, im allerletzten Moment, eine überraschende Wende. David verschont seinen Widersacher. Aber nicht nur das: Die sonst so sparsame und zurückhaltende Erzählerstimme fügt noch ein weiteres überraschendes Detail hinzu: Aber danach schlug Davids Herz, dass er den Zipfel vom Rock Sauls abgeschnitten hatte.
Spätestens hier an dieser Stelle wird uns klar, dass die beiden starken Männer, die um die Königskrone in Israel kämpfen, mehr sind als die gewöhnlichen Filmhelden, die uns sonst auf der Grossleinwand präsentiert werden. Denn beide Kämpfer erleben entscheidende Momente der Schwäche: Der eine muss austreten und der andere entscheidet sich gegen Rache und Bluttat und kämpft inmitten seines Verzichts auf Rache mit seinem pochenden Herz. In den grossen Kinofilmen ist in der Regel wenig Zeit für Zwischentöne und Grauschatten. Die Guten sind die Guten und kämpfen gegen die Bösen. Saul und David allerdings stehen sich hier als sehr menschliche Helden gegenüber. Und das hilft uns auch, das Ende der Geschichte viel genauer und kritischer zu hören, als wir es sonst gehört hätten:

1. Samuel 24,7-13.16-20

7 und David sprach zu seinen Männern: Das lasse der HERR ferne von mir sein, dass ich das tun sollte und meine Hand legen an meinen Herrn, den Gesalbten des HERRN; denn er ist der Gesalbte des HERRN. 8 Und David wies seine Männer mit diesen Worten von sich und ließ sie sich nicht an Saul vergreifen. Als aber Saul sich aufmachte aus der Höhle und seines Weges ging, 9 machte sich danach auch David auf und ging aus der Höhle und rief Saul nach und sprach: Mein Herr und König! Saul sah sich um.
Und David neigte sein Antlitz zur Erde und fiel nieder. 10 Und David sprach zu Saul: Warum hörst du auf das Reden der Menschen, die da sagen: David sucht dein Unglück? 11 Siehe, heute haben deine Augen gesehen, dass dich der HERR heute in meine Hand gegeben hat in der Höhle, und man hat mir gesagt, dass ich dich töten sollte. Aber ich habe dich verschont; denn ich dachte: Ich will meine Hand nicht an meinen Herrn legen; denn er ist der Gesalbte des HERRN. 12 Mein Vater, sieh doch hier den Zipfel deines Rocks in meiner Hand! Dass ich den Zipfel von deinem Rock schnitt und dich nicht tötete, daran erkenne und sieh, dass nichts Böses in meiner Hand ist und kein Vergehen. Ich habe mich nicht an dir versündigt; aber du jagst mir nach, um mir das Leben zu nehmen. 13 Der HERR wird Richter sein zwischen mir und dir und mich an dir rächen, aber meine Hand soll nicht gegen dich sein; (14 wie man sagt nach dem alten Sprichwort: Von Frevlern kommt Frevel; aber meine Hand soll nicht gegen dich sein. 15 Wem zieht der König von Israel nach? Wem jagst du nach? Einem toten Hund, einem einzelnen Floh! 16 Der HERR sei Richter und richte zwischen mir und dir und sehe darein und führe meine Sache, dass er mir Recht schaffe und mich rette aus deiner Hand!) 17 Als nun David diese Worte zu Saul geredet hatte, sprach Saul: Ist das nicht deine Stimme, mein Sohn David? Und Saul erhob seine Stimme und weinte 18 und sprach zu David: Du bist gerechter als ich, du hast mir Gutes erwiesen; ich aber habe dir Böses erwiesen. 19 Und du hast mir heute gezeigt, wie du Gutes an mir getan hast, als mich der HERR in deine Hand gegeben hatte und du mich doch nicht getötet hast. 20 Wo ist jemand, der seinen Feind findet und lässt ihn im Guten seinen Weg gehen? Der HERR vergelte dir Gutes für das, was du heute an mir getan hast!

Ein Stofffetzen erzählt hier. Genauer gesagt: Die eine Seite des Stofffetzen erzählt davon, dass jemand nicht zu Schaden gekommen ist, sondern verschont wurde, grosszügig verschont wurde und wegen dieser erlebten Grosszügigkeit weinen muss. Tränen fliessen, weil Saul es in seiner eigenen Rachsucht nicht fassen kann, dass ein anderer den Kreislauf von Mord und Gewalt unterbricht und ins Leere laufen lässt. Saul weint über sich selbst, weil er erkennt, wie wenig er selbst in der Lage war, die Gewalt, die von ihm Besitz ergriffen hatte, abzuschütteln. Die Tränen des starken Mannes zeugen von der überwältigenden Erfahrung, auf einen Schlag zu verstehen: Dein Leben hing an einem seidenen Faden. Es hat nicht viel gefehlt und dein Leben wäre zu Ende gewesen. Diese Einsicht, die uns ganz plötzlich entgegenspringt, taucht unseren Blick auf uns in ein ganz anderes Licht: Wir bestimmen über unser Leben immer nur ein Stück weit. Das fehlende Stück Stoff ist das Unterpfand der eigenen Machtlosigkeit. Und die treibt Saul die Tränen in die Augen.
Wenden wir den Stofffetzen einmal. Die andere Seite zeigt die grosse Tat Davids, seine Fähigkeit, auf Rache zu verzichten. Ja, Gott als Richter anzurufen und selbst auf ein vorzeitiges Urteil zu verzichten: Der HERR wird Richter sein zwischen mir und dir und mich an dir rächen, aber meine Hand soll nicht gegen dich sein.
Wenn wir den Stofffetzen dieser Geschichte also hin und her wenden, gewinnt diese alte Geschichte immer wieder neue Facetten und Schattierungen, denn wir sehen jetzt nicht nur David und Saul in ihrer Menschlichkeit. Wir sehen sogar noch mehr als das: Wir sehen einen David als einen religiösen Menschen, der kein endgültiges Urteil, kein abschliessende Bewertung über Saul fällt, sondern Gott als oberste Instanz über sich weiss. Hier erleben wir live mit, wie entlastend es sein kann, Gott als Richter über sich zu wissen, weil wir dann nicht verurteilen nicht abschliessend urteilen müssen, sondern das Urteil in der Schwebe lassen können. Der Herr wird Richter sein, sagt David – und spricht innerlich mit: Darum muss ich jetzt kein Urteil über dich fällen.

Wie sehr wünsche ich mir in dieser Zeit Menschen wie David, die die Spirale von Hass und Gewalt unterbrechen und auf Gegenschläge verzichten. Wie viel besser wären wir dran in der grossen Politik und im Alltag, wenn aufkommende Rachegefühle zugunsten von Grosszügigkeit und Grossmut überwunden würden? Ich brauche dafür keine Beispiele anzuführen, denn die stehen uns allen sehr genau vor Augen, was es heisst, wenn die Gewaltspirale kein Ende findet und immer und immer noch mehr Waffen eingesetzt werden. Was wir bräuchten, wären eben nicht nur wehrhafte Kriegsleute, von denen neuerdings so viel die Rede ist, sondern Krieger des Lichts, deren größte Waffe das Herz ist, wie es in dem Lied «Krieger des Lichts» von Silbermond heisst. Herzenskrieger des Lichts, deren Herz weiss, das über allem Gott ist, dem wir die endgültigen Urteile überlassen dürfen. Wieviel weicher, wieviel weiter sind Herzen, in denen ein solcher Glaube wohnt. Herzen, die im Alltag nicht draufhauen und zurückschlagen müssen, sondern zurückhaltend sich des Urteils enthalten.
Wenn mir das doch auch gelänge, hin und wieder: Das Bewerten und Urteilen in der Schwebe lassen; auf Gegenschläge verzichten und Gottes Sicht Raum lassen.
Ja, wir selbst könnten uns in solche Herzens-Krieger des Lichts verwandeln; der Sound von Silbermond könnte unser Handeln bestimmen.

Silbermond: Krieger des Lichts

Sei wie der Fluß, der eisern ins Meer fließt
Der sich nicht abbringen läßt egal wie schwer's ist
Selbst den größten Stein fürchtet er nicht
Auch wenn es Jahre dauert bis er ihn bricht
Und wenn Dein Wille schläft, dann weck ihn wieder
Denn in jedem von uns steckt dieser Krieger
Dessen Mut ist wie ein Schwert
Doch die größte Waffe ist sein Herz

Lasst uns aufstehn
Macht Euch auf den Weg
An alle Krieger des Lichts
An alle Krieger des Lichts
Wo seid Ihr
Ihr seid gebraucht hier
Macht Euch auf den Weg
An alle Krieger des Lichts
An alle Krieger des Lichts
Das hier geht an alle Krieger des Lichts.

(Silbermond, Krieger des Lichts)

Geschichten verwandeln. Und Geschichten wie die von David und seiner Grossmut Saul gegenüber nähren unsere Seele, füttern die guten Kräfte in uns. Nicht umsonst war Jesus ein grosser Geschichtenerzähler, der die Samen vom Reich Gottes in erzählte Ohrwürmer zu verwandeln wusste, nicht umsonst besteht unsere Bibel aus so vielen Geschichten, die uns erlauben, in uns verschiedene Seiten wahrzunehmen. Die Erkenntnis, wie sehr unser Leben an einem seidenen Faden hängen kann, und die Chance, durch Gewaltverzicht eingespielte Logiken zu durchbrechen.

Eines Abends erzählte der Grossvater seinem Enkelsohn am Lagerfeuer von einem Kampf, der in jedem Menschen tobt.
Er sagte: „Mein Sohn, der Kampf wird von zwei Wölfen ausgefochten, die in jedem von uns wohnen.
Einer ist böse. Er ist der Zorn, der Neid, die Eifersucht, die Sorge, der Schmerz, die Gier, die Arroganz, das Selbstmitleid, die Schuld, die Vorurteile, die Minderwertigkeitsgefühle, die Lügen, der falsche Stolz und das Ego.
Der andere ist gut. Er ist die Freude, der Friede, die Liebe, die Hoffnung, die Heiterkeit, die Demut, die Güte, das Wohlwollen, die Zuneigung, die Großzügigkeit, die Aufrichtigkeit, das Mitgefühl und der Glaube.“
Der Enkel dachte einige Zeit über die Worte seines Großvaters nach und fragte dann: „Welcher der beiden Wölfe gewinnt?“
Der Grossvater antwortete: „Der, den du fütterst.“

Und der Stofffetzen, den David mitnimmt, ist das Futter seiner Erinnerung an einen Moment der Grossmut und des Verzichts. Manchmal ist es gut, sich selbst an solche Momente zu erinnern, damit die guten Kräfte gefüttert werden. Wovon erzählen deine Stofffetzen der Erinnerung? Wann gab es bei dir solche Momente der Grossmut und der Weite?

Denn in jedem von uns steckt dieser Krieger
Dessen Mut ist wie ein Schwert
Doch die größte Waffe ist sein Herz

Lasst uns aufstehn
Macht Euch auf den Weg
An alle Krieger des Lichts.

Amen.

Vier Fragen zur Predigtvorbereitung an Uwe Habenicht

1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Am 4. Sonntag nach Trinitatis darf mit Gottesdienstbesucherinnen und -besuchern gerechnet werden, die geübte Zuhörende und zum Nachdenken bereit sind und im Herzen die vielen Fragen und Krisen mitbringen, die unsere Gegenwart prägen. Und sie alle werden danach fragen: Wie gelingt es uns, diese Krisen zu überwinden und zu deren Überwindung etwas beizutragen – im Grossen und Kleinen. Was können wir tun und welchen Beitrag leistet dazu unser Glaube?

2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Der Song „Krieger des Lichts“ von Silbermond gibt dem Predigttext einen wunderbaren Sound.

3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Die Predigt nimmt das Kriegerische des Predigttextes auf, das ja inzwischen auch unseren Alltag prägt, und versucht diesem alltagsnah eine andere Wendung zu geben: Unser Glaube an Gott als Richter schafft Freiraum für eine Haltung, die auf Rache, Gegenschläge und Gewalt verzichten kann. Und eine solche Haltung der Grossmut braucht konkrete Geschichten und Erinnerungsstücke, die ihn nähren.

4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Es war sehr hilfreich, durch das Coaching nochmals einige Grundentscheidungen klar vor Augen geführt zu bekommen und diese dann klarer herausarbeiten zu können. Die theologische Bedeutung der Vorstellung Gottes als Richter habe ich erst im zweiten Durchgang zu fassen bekommen.

Perikope
23.06.2024
24,1-20