Augenblicke der Großmut: Wie wir werden können, was wir sind … - Predigt zu 1Sam 24,1-20 (ohne 14-16) von Uwe Habenicht

Augenblicke der Großmut: Wie wir werden können, was wir sind … - Predigt zu 1Sam 24,1-20 (ohne 14-16) von Uwe Habenicht
24,1-20

Ein Stofffetzen

Der vorliegende Predigtentwurf ist so angelegt, dass der Predigtext von einer anderen Person vom Lesepult oder von einem anderen Ort in mehreren Abschnitten gelesen werden kann. Ich schlage zudem eine leichte Kürzung des sehr langen Textes vor.
Das besprochene Lied von Silbermond könnte an der entsprechenden Stelle, wenn dies möglich und gewünscht ist, eingespielt werden, der Liedtext dann zum Mitlesen per Beamer/Bildschirm oder auf einem Blatt zum Mitlesen.
Wer mag, kann auch einen Stofffetzen mit auf die Kanzel nehmen, ihn auch während der Predigt durch die Bank- oder Stuhlreihen wandern lassen. Auch ist es denkbar, am Ende der Predigt einen Korb mit Stofffetzen zum Mitnehmen durch die Reihen wandern zu lassen.

„Das war knapp. Fast hätte es mich erwischt.“
Kurzatmig und verschwitzt steht der kleine Nikolai in der Küchentür. Seine Eltern blicken ihn erstaunt an.
Wie siehst du denn aus?, fragt ihn seine Mutter, steht auf und drückt ihn erstmal ganz fest an sich.
„Und was ist mit deiner Jacke? Die sieht ja ganz zerfetzt aus? Setz dich erstmal hin und trink was“, fügt sein Vater hinzu, rückt den Stuhl zurecht und giesst Wasser in ein grosses Glas.
Nikolai löst sich aus der Umarmung seiner Mutter, setzt sich und sofort sprudelt es aus ihm heraus.
„Auf dem Schulhof, da gab es eine Prügelei mit ganz ganz vielen und fast hätten sie mich auch gekriegt, aber ich konnte noch wegrennen. Nur an der Jacke haben sie mich festgehalten und haben sie zerrissen. Und jetzt fehlt ein Stück …“

Liebe Gemeinde,
manchmal ist es ganz knapp und nur haarscharf entgehen wir einer Gefahr. Wer kann sich nicht daran erinnern, sich in einer brenzligen Situation im letzten Augenblick gerettet zu haben? Wahrscheinlich könnten wir die nächste Stunde damit verbringen, einander solche Geschichten zu erzählen, wie sich für uns im letzten Moment ein Ausweg, eine Rettung ergab.
Zerfetzte Kleidung, Löcher in den Hosen, abgerissene Stofffetzen gibt es nicht nur in der Kindheit. Auch als Jugendliche oder Erwachsene lassen wir im wahrsten Sinne des Wortes hin und wieder Federn und kommen gerade so davon. 
Ein Stofffetzen erzählt von Rettung in letzter Minute. Das Samuelbuch hat eine Begebenheit aufbewahrt, in der ein Stofffetzen eine ganze Geschichte erzählt. Im alten Israel jagt König Saul den jungen David, weil er fürchtet, von diesem vom Thron gestossen zu werden. Doch hört selbst:

1. Samuel 24, 1-5a:

1 Und David zog von dort hinauf und blieb in den Bergfesten bei En-Gedi. 2 Als nun Saul zurückkam von der Verfolgung der Philister, wurde ihm gesagt: Siehe, David ist in der Wüste En-Gedi. 3 Und Saul nahm dreitausend auserlesene Männer aus ganz Israel und zog hin, David samt seinen Männern zu suchen bei den Steinbockfelsen. 4 Und als er kam zu den Schafhürden am Wege, war dort eine Höhle, und Saul ging hinein, um seine Füße zu decken[1]. David aber und seine Männer saßen hinten in der Höhle. 5 Da sprachen die Männer Davids zu ihm: Siehe, das ist der Tag, von dem der HERR zu dir gesagt hat: Siehe, ich will deinen Feind in deine Hand geben, dass du mit ihm tust, was dir gefällt. Und David stand auf …

Das ist ganz grosses Kino und alles, was eine spannende Filmszene braucht, ist hier versammelt. Zwei Kontrahenten, die einander bis aufs Blut jagen und bekriegen. Eine echte Männergeschichte, in der es um Macht und den Königsthron geht. Die sich steigernde dramatische Filmmusik höre ich fast mit, in diesen Momenten, in denen sich Saul aus der Menge seiner Krieger löst, um für einen Moment allein zu sein. Es ist ein menschliches Bedürfnis, das Sauls Rachefeldzug gegen David für einige kurze Augenblicke unterbricht. Wahrscheinlich haben Sie sich beim Zuhören eben schon gefragt, was es wohl bedeuten mag, wenn es heisst: Saul ging in eine Höhle, um seine Füsse zu decken. Die hebräische Wendung «seine Füsse decken» umschreibt nichts anderes als das Austreten, das Verrichten der Notdurft – wie wir es auch im Deutschen ein wenig umschreibend sagen. Der vor Wut schäumende und auf Rache sinnende Saul muss seine Jagd auf David unterbrechen, weil er mal austreten muss. So lässt er seine Gefolgsleute hinter sich und betritt die Höhle, in deren Tiefen sich David mit seinen Leuten befindet. Die Filmmusik wird dunkler und bedrohlicher.  Wir sehen, wie König Saul geradewegs seinem Unheil in die Arme läuft. Saul hockt sich hin – ich bleibe mal im biblischen Sprachgebrauch –, um seine Füsse zu decken. Die Filmmusik wird noch dramatischer, die Celli setzen ein, wir sehen, wie sich David von hinten an seinen Kontrahenten heranschleicht, das Schwert bereits in der Hand. David hebt das Schwert und …

1. Samuel 24, 5a -6a:

und schnitt leise einen Zipfel vom Rock Sauls. 6 Aber danach schlug ihm sein Herz, dass er den Zipfel vom Rock Sauls abgeschnitten hatte, 

Liebe Gemeinde,

die biblische Dramaturgie dieser Erzählung nimmt im letzten, im allerletzten Moment, eine überraschende Wende. David verschont seinen Widersacher. Aber nicht nur das: Die sonst so sparsame und zurückhaltende Erzählerstimme fügt noch ein weiteres überraschendes Detail hinzu: Aber danach schlug Davids Herz, dass er den Zipfel vom Rock Sauls abgeschnitten hatte.
Spätestens hier an dieser Stelle wird uns klar, dass die beiden starken Männer, die um die Königskrone in Israel kämpfen, mehr sind als die gewöhnlichen Filmhelden, die uns sonst auf der Grossleinwand präsentiert werden. Denn beide Kämpfer erleben entscheidende Momente der Schwäche: Der eine muss austreten und der andere entscheidet sich gegen Rache und Bluttat und kämpft inmitten seines Verzichts auf Rache mit seinem pochenden Herz. In den grossen Kinofilmen ist in der Regel wenig Zeit für Zwischentöne und Grauschatten. Die Guten sind die Guten und kämpfen gegen die Bösen. Saul und David allerdings stehen sich hier als sehr menschliche Helden gegenüber. Und das hilft uns auch, das Ende der Geschichte viel genauer und kritischer zu hören, als wir es sonst gehört hätten:

1. Samuel 24,7-13.16-20

7 und David sprach zu seinen Männern: Das lasse der HERR ferne von mir sein, dass ich das tun sollte und meine Hand legen an meinen Herrn, den Gesalbten des HERRN; denn er ist der Gesalbte des HERRN. 8 Und David wies seine Männer mit diesen Worten von sich und ließ sie sich nicht an Saul vergreifen. Als aber Saul sich aufmachte aus der Höhle und seines Weges ging, 9 machte sich danach auch David auf und ging aus der Höhle und rief Saul nach und sprach: Mein Herr und König! Saul sah sich um.
Und David neigte sein Antlitz zur Erde und fiel nieder. 10 Und David sprach zu Saul: Warum hörst du auf das Reden der Menschen, die da sagen: David sucht dein Unglück? 11 Siehe, heute haben deine Augen gesehen, dass dich der HERR heute in meine Hand gegeben hat in der Höhle, und man hat mir gesagt, dass ich dich töten sollte. Aber ich habe dich verschont; denn ich dachte: Ich will meine Hand nicht an meinen Herrn legen; denn er ist der Gesalbte des HERRN. 12 Mein Vater, sieh doch hier den Zipfel deines Rocks in meiner Hand! Dass ich den Zipfel von deinem Rock schnitt und dich nicht tötete, daran erkenne und sieh, dass nichts Böses in meiner Hand ist und kein Vergehen. Ich habe mich nicht an dir versündigt; aber du jagst mir nach, um mir das Leben zu nehmen. 13 Der HERR wird Richter sein zwischen mir und dir und mich an dir rächen, aber meine Hand soll nicht gegen dich sein; (14 wie man sagt nach dem alten Sprichwort: Von Frevlern kommt Frevel; aber meine Hand soll nicht gegen dich sein. 15 Wem zieht der König von Israel nach? Wem jagst du nach? Einem toten Hund, einem einzelnen Floh! 16 Der HERR sei Richter und richte zwischen mir und dir und sehe darein und führe meine Sache, dass er mir Recht schaffe und mich rette aus deiner Hand!) 17 Als nun David diese Worte zu Saul geredet hatte, sprach Saul: Ist das nicht deine Stimme, mein Sohn David? Und Saul erhob seine Stimme und weinte 18 und sprach zu David: Du bist gerechter als ich, du hast mir Gutes erwiesen; ich aber habe dir Böses erwiesen. 19 Und du hast mir heute gezeigt, wie du Gutes an mir getan hast, als mich der HERR in deine Hand gegeben hatte und du mich doch nicht getötet hast. 20 Wo ist jemand, der seinen Feind findet und lässt ihn im Guten seinen Weg gehen? Der HERR vergelte dir Gutes für das, was du heute an mir getan hast!

Ein Stofffetzen erzählt hier. Genauer gesagt: Die eine Seite des Stofffetzen erzählt davon, dass jemand nicht zu Schaden gekommen ist, sondern verschont wurde, grosszügig verschont wurde und wegen dieser erlebten Grosszügigkeit weinen muss. Tränen fliessen, weil Saul es in seiner eigenen Rachsucht nicht fassen kann, dass ein anderer den Kreislauf von Mord und Gewalt unterbricht und ins Leere laufen lässt. Saul weint über sich selbst, weil er erkennt, wie wenig er selbst in der Lage war, die Gewalt, die von ihm Besitz ergriffen hatte, abzuschütteln. Die Tränen des starken Mannes zeugen von der überwältigenden Erfahrung, auf einen Schlag zu verstehen: Dein Leben hing an einem seidenen Faden. Es hat nicht viel gefehlt und dein Leben wäre zu Ende gewesen. Diese Einsicht, die uns ganz plötzlich entgegenspringt, taucht unseren Blick auf uns in ein ganz anderes Licht: Wir bestimmen über unser Leben immer nur ein Stück weit. Das fehlende Stück Stoff ist das Unterpfand der eigenen Machtlosigkeit. Und die treibt Saul die Tränen in die Augen.
Wenden wir den Stofffetzen einmal. Die andere Seite zeigt die grosse Tat Davids, seine Fähigkeit, auf Rache zu verzichten. Ja, Gott als Richter anzurufen und selbst auf ein vorzeitiges Urteil zu verzichten: Der HERR wird Richter sein zwischen mir und dir und mich an dir rächen, aber meine Hand soll nicht gegen dich sein.
Wenn wir den Stofffetzen dieser Geschichte also hin und her wenden, gewinnt diese alte Geschichte immer wieder neue Facetten und Schattierungen, denn wir sehen jetzt nicht nur David und Saul in ihrer Menschlichkeit. Wir sehen sogar noch mehr als das: Wir sehen einen David als einen religiösen Menschen, der kein endgültiges Urteil, kein abschliessende Bewertung über Saul fällt, sondern Gott als oberste Instanz über sich weiss. Hier erleben wir live mit, wie entlastend es sein kann, Gott als Richter über sich zu wissen, weil wir dann nicht verurteilen nicht abschliessend urteilen müssen, sondern das Urteil in der Schwebe lassen können. Der Herr wird Richter sein, sagt David – und spricht innerlich mit: Darum muss ich jetzt kein Urteil über dich fällen.

Wie sehr wünsche ich mir in dieser Zeit Menschen wie David, die die Spirale von Hass und Gewalt unterbrechen und auf Gegenschläge verzichten. Wie viel besser wären wir dran in der grossen Politik und im Alltag, wenn aufkommende Rachegefühle zugunsten von Grosszügigkeit und Grossmut überwunden würden? Ich brauche dafür keine Beispiele anzuführen, denn die stehen uns allen sehr genau vor Augen, was es heisst, wenn die Gewaltspirale kein Ende findet und immer und immer noch mehr Waffen eingesetzt werden. Was wir bräuchten, wären eben nicht nur wehrhafte Kriegsleute, von denen neuerdings so viel die Rede ist, sondern Krieger des Lichts, deren größte Waffe das Herz ist, wie es in dem Lied «Krieger des Lichts» von Silbermond heisst. Herzenskrieger des Lichts, deren Herz weiss, das über allem Gott ist, dem wir die endgültigen Urteile überlassen dürfen. Wieviel weicher, wieviel weiter sind Herzen, in denen ein solcher Glaube wohnt. Herzen, die im Alltag nicht draufhauen und zurückschlagen müssen, sondern zurückhaltend sich des Urteils enthalten.
Wenn mir das doch auch gelänge, hin und wieder: Das Bewerten und Urteilen in der Schwebe lassen; auf Gegenschläge verzichten und Gottes Sicht Raum lassen.
Ja, wir selbst könnten uns in solche Herzens-Krieger des Lichts verwandeln; der Sound von Silbermond könnte unser Handeln bestimmen.

Silbermond: Krieger des Lichts

Sei wie der Fluß, der eisern ins Meer fließt
Der sich nicht abbringen läßt egal wie schwer's ist
Selbst den größten Stein fürchtet er nicht
Auch wenn es Jahre dauert bis er ihn bricht
Und wenn Dein Wille schläft, dann weck ihn wieder
Denn in jedem von uns steckt dieser Krieger
Dessen Mut ist wie ein Schwert
Doch die größte Waffe ist sein Herz

Lasst uns aufstehn
Macht Euch auf den Weg
An alle Krieger des Lichts
An alle Krieger des Lichts
Wo seid Ihr
Ihr seid gebraucht hier
Macht Euch auf den Weg
An alle Krieger des Lichts
An alle Krieger des Lichts
Das hier geht an alle Krieger des Lichts.

(Silbermond, Krieger des Lichts)

Geschichten verwandeln. Und Geschichten wie die von David und seiner Grossmut Saul gegenüber nähren unsere Seele, füttern die guten Kräfte in uns. Nicht umsonst war Jesus ein grosser Geschichtenerzähler, der die Samen vom Reich Gottes in erzählte Ohrwürmer zu verwandeln wusste, nicht umsonst besteht unsere Bibel aus so vielen Geschichten, die uns erlauben, in uns verschiedene Seiten wahrzunehmen. Die Erkenntnis, wie sehr unser Leben an einem seidenen Faden hängen kann, und die Chance, durch Gewaltverzicht eingespielte Logiken zu durchbrechen.

Eines Abends erzählte der Grossvater seinem Enkelsohn am Lagerfeuer von einem Kampf, der in jedem Menschen tobt.
Er sagte: „Mein Sohn, der Kampf wird von zwei Wölfen ausgefochten, die in jedem von uns wohnen.
Einer ist böse. Er ist der Zorn, der Neid, die Eifersucht, die Sorge, der Schmerz, die Gier, die Arroganz, das Selbstmitleid, die Schuld, die Vorurteile, die Minderwertigkeitsgefühle, die Lügen, der falsche Stolz und das Ego.
Der andere ist gut. Er ist die Freude, der Friede, die Liebe, die Hoffnung, die Heiterkeit, die Demut, die Güte, das Wohlwollen, die Zuneigung, die Großzügigkeit, die Aufrichtigkeit, das Mitgefühl und der Glaube.“
Der Enkel dachte einige Zeit über die Worte seines Großvaters nach und fragte dann: „Welcher der beiden Wölfe gewinnt?“
Der Grossvater antwortete: „Der, den du fütterst.“

Und der Stofffetzen, den David mitnimmt, ist das Futter seiner Erinnerung an einen Moment der Grossmut und des Verzichts. Manchmal ist es gut, sich selbst an solche Momente zu erinnern, damit die guten Kräfte gefüttert werden. Wovon erzählen deine Stofffetzen der Erinnerung? Wann gab es bei dir solche Momente der Grossmut und der Weite?

Denn in jedem von uns steckt dieser Krieger
Dessen Mut ist wie ein Schwert
Doch die größte Waffe ist sein Herz

Lasst uns aufstehn
Macht Euch auf den Weg
An alle Krieger des Lichts.

Amen.

Vier Fragen zur Predigtvorbereitung an Uwe Habenicht

1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Am 4. Sonntag nach Trinitatis darf mit Gottesdienstbesucherinnen und -besuchern gerechnet werden, die geübte Zuhörende und zum Nachdenken bereit sind und im Herzen die vielen Fragen und Krisen mitbringen, die unsere Gegenwart prägen. Und sie alle werden danach fragen: Wie gelingt es uns, diese Krisen zu überwinden und zu deren Überwindung etwas beizutragen – im Grossen und Kleinen. Was können wir tun und welchen Beitrag leistet dazu unser Glaube?

2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Der Song „Krieger des Lichts“ von Silbermond gibt dem Predigttext einen wunderbaren Sound.

3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Die Predigt nimmt das Kriegerische des Predigttextes auf, das ja inzwischen auch unseren Alltag prägt, und versucht diesem alltagsnah eine andere Wendung zu geben: Unser Glaube an Gott als Richter schafft Freiraum für eine Haltung, die auf Rache, Gegenschläge und Gewalt verzichten kann. Und eine solche Haltung der Grossmut braucht konkrete Geschichten und Erinnerungsstücke, die ihn nähren.

4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Es war sehr hilfreich, durch das Coaching nochmals einige Grundentscheidungen klar vor Augen geführt zu bekommen und diese dann klarer herausarbeiten zu können. Die theologische Bedeutung der Vorstellung Gottes als Richter habe ich erst im zweiten Durchgang zu fassen bekommen.

Perikope
23.06.2024
24,1-20

Gott verwandelt Schatten in Engel - Predigt zu 1.Sam 2,1-8a von Manfred Wussow

Gott verwandelt Schatten in Engel - Predigt zu 1.Sam 2,1-8a von Manfred Wussow
2,1-8a

Und Hannah betete und sprach:

Mein Herz ist fröhlich in dem Herrn,
mein Horn ist erhöht in dem Herrn.
Mein Mund hat sich weit aufgetan wider meine Feinde,
denn ich freue mich deines Heils.

Es ist niemand heilig wie der Herr,
außer dir ist keiner,
und ist kein Fels, wie unser Gott ist.

Lasst euer großes Rühmen und Trotzen,
freches Reden gehe nicht aus eurem Munde;
denn der Herr ist ein Gott, der es merkt,
und von ihm werden Taten gewogen.

Der Bogen der Starken ist zerbrochen,
und die Schwachen sind umgürtet mit Stärke.
Die da satt waren, müssen um Brot dienen,
und die Hunger litten, hungert nicht mehr.
Die Unfruchtbare hat sieben geboren,
und die viele Kinder hatte, welkt dahin.

Der Herr tötet und macht lebendig,
führt ins Totenreich und  wieder herauf.
Der Herr macht arm und macht reich;
er erniedrigt und erhöht.
Er hebt den Dürftigen aus dem Staub
und erhöht den Armen aus der Asche,
dass er ihn setze unter die Fürsten
und den Thron der Ehre erben lasse.

[>> Hinweis: Zwei SprecherInnen übernehmen in der Predigt das Lied Hannahs (Stimme 1) und das Lied Paul Gerhardts (Stimme 2).]

Herz, Kopf und Mund

Ein fröhliches Herz, ein erhobener Kopf, ein offener Mund! Ich sehe eine junge Frau vor mir. Sie wäre in ihrem Leben fast zerbrochen – jetzt ist ihr ein Lied zugewachsen. Der Anfang ist grandios. Und nicht nur er. Selbst das Totenreich wird aufgewühlt.

Stimme 1:

„Mein Herz ist fröhlich in dem Herrn,
mein Kopf ist erhöht in dem Herrn.
Mein Mund hat sich weit aufgetan wider meine Feinde,
denn ich freue mich deines Heils.“

Die Frau heißt „Hannah“ – oder „Channah“. Anna hören wir auch heraus. Hannah heißt: Gott ist gnädig, Gott ist barmherzig. Ein sprechender, vielsagender Name! Sie werden Hannah schnell lieben lernen!
Hannah wünscht sich ein Kind. Am liebsten einen Sohn. Um ihr herum wird das Kinderlachen immer heller, das Kindergeschrei immer größer - doch sie sieht nur beschämt auf das Glück der anderen. Sie gibt sich die Schuld. Sie gibt Gott die Schuld. Hilflos schaut sie auf ihr Leben. Es scheint ihr sinnlos und ohne Zukunft. Ist nicht selbst in kritischen Zeiten jedes Kind ein Hoffnungszeichen? Ein neuer Anfang? Ein Versprechen, dass es weitergeht?
Hannahs Sehnsucht ist dann auch noch komplizierter als gedacht. Sie hat Nebenfrauen – in der orientalischen Welt nicht einmal ungewöhnlich. In dieser Frauenriege hätte sie sich behaupten müssen – und konnte es nicht. Die anderen brachten es – sie nicht! Wie stand sie da? Auch in den Augen ihres Mannes? Sie hätte platzen können. Vor Neid? Vor Wut? Vor Angst? Schwer zu sagen. Sie fühlt sich abgehängt, ausgemustert und unbrauchbar. Hinter ihrem Rücken hört sie das Tuscheln. Sie hört sogar das Tuscheln, das schon lange nicht mehr tuschelt. Es hat sich längst in ihrem Herzen festgefressen. Nachts träumt sie davon. Sie findet keinen Frieden.
Ein trauriges Herz, ein gesunkener Kopf, ein verbissener Mund.

Tod

Karl Heinrich Waggerl, ein österreichischer Schriftsteller, 1973 verstorben, meinte einmal: „Wir Menschen sterben viele Tode, bevor wir sterben. Der letzte ist nicht der schlimmste.“
Ob er an Hannah gedacht hat? Wer weiß… Aber viele Menschen werden aufgerieben. Sie sind irgendwann mit ihrem Latein am Ende. Sie stehen vor einer großen Leere. Lebenspläne platzen, Hoffnungen verpuffen, Träume werden zunichte.
Wann hat Hannah in den Abgrund geblickt?
Ob langsam oder plötzlich – was ist das für ein Gefühl, nichts zu sein? Hinter Erwartungen zurückzubleiben? Sich selbst nicht lieben zu können? Das Gefühl, ein Versager, eine Versagerin zu sein, muss nicht einmal berechtigt sein – es windet sich wie eine Schlange um die Seele, macht sogar die Sonne dunkel und huscht wie ein Schatten. Eine Todeserfahrung. Nur liebevolles Zuhören, gemeinsames Suchen kann Wunder wirken.
Wie lange hat das bei Hannah gedauert?
Hannah, um ihre Geschichte weiter zu erzählen, ist in den Tempel gegangen. Hier konnte sie loswerden, was sie bedrückte – und was sie an keiner anderen Stelle zu sagen wagte. Hier wurde sie gesehen und wahrgenommen. Ob sie an diesem Ort auch bekannt war, erzählen die alten Geschichten nicht. Hannah ist eine unter vielen.

Stimme 1:

„Und sie war von Herzen betrübt und betete zum Herrn und weinte sehr …
Und als sie lange betete vor dem Herrn, achtete Eli – ein Priester – auf ihren Mund,
denn Hannah redete in ihrem Herzen und ihre Lippen bewegten sich, ihre Stimme aber hörte man nicht …“

Hannah schüttet ihr Herz aus. Sie macht es leer – wie ein Glas, das gefüllt ist mit Bitterkeit und Enttäuschung, mit Verzagtheit und Angst. Es ist, als ob sich jetzt ein Knoten lösen kann. Erst im Herzen, dann auf den Lippen, schließlich im Bauch. Eli tröstet Hannah: „Geh hin mit Frieden; der Gott Israels wird dir die Bitte erfüllen, die du an ihn gerichtet hast.“ Woher Eli den Mut hat, das zu sagen? Ich bin ganz fasziniert. Eli weiß doch nichts. Er hat aber die Lippen gesehen! Hannahs Mund muss sich sehr bewegt, ihr Gesicht viel gesagt haben. Weil Gott für jeden Menschen eine Verheißung, eine Zusage hat, gibt Eli Hannah das Wort, das glücklich macht. „Geh hin mit Frieden!“
Wieder zu Hause, wird Hannah schwanger! Sie wird ihren Sohn Samuel nennen, Schamuel. Was dieser Name genau meint, ist ein wenig offen: Samuel kann „Nachkomme Gottes“ heißen oder auch „Gott ist erhaben“. So oder so: ein Hohelied auf Gott. Hannah trägt den Namen Gottes auch in ihrem. Im Namen ist Gott nah. Sprechen sich jetzt Menschen an, ist er gegenwärtig.

Samuel wird in der Geschichte Israels eine herausragende Rolle spielen. Als Priester, Prophet, Richter, Retter und Königsmacher. Hannahs Sohn! Was, wenn sie ihn nicht erbeten hätte?

Lasst das

Etwas muss geschehen sein. Wir hören Hannah singen. Ziemlich vollmundig sogar: Nicht wieder zu erkennen. Die graue Maus.

Stimme 1:

„Lasst euer großes Rühmen und Trotzen,
freches Reden gehe nicht aus eurem Munde;
denn der Herr ist ein Gott, der es merkt,
und von ihm werden Taten gewogen“

Wer auch immer hier gemeint ist:
Alle, die Hannah abgeschrieben haben, werden überrascht.
Alle, die Hannah klein machen, werden kleinlaut.
Alle, die die Welt unter sich aufteilen, werden die Welt verlieren.
Gott, singt Hannah, ist ein Gott, der auf Menschen achtet – und nichts übersieht.
Gemeint hat sie auch: Gott ist ein Gott, der mich angesehen hat.
Der mich ansieht! Ich bin in seinen Augen, in seinem Herzen.

Hannah war am Ende, schwach und verletzt. Aber jetzt treffen die Pfeile nicht mehr. Gott hat den Bogen der Starken, der Lauten, der Selbstsicheren zerbrochen. Mit leeren Händen stehen sie da. Schlimmeres kann es für Bogenschützen nicht geben. Die Schwachen aber gürtet Gott. Er richtet sie auf und macht sie stark und schön. Sie sehen dann aus wie – ein König, eine Königin im Ornat! Der Gürtel mit Schnalle – ein Hoheitszeichen! Ab heute wird nicht mehr gekrochen!
Hannahs Lied klingt wie aus einer anderen Welt:

Stimme 1:

„Die da satt waren, müssen um Brot dienen,
und die Hunger litten, hungert nicht mehr.
Die Unfruchtbare hat sieben geboren,
und die viele Kinder hatte, welkt dahin.“

Die verkehrte Welt ist das nicht – so ist die Welt richtig!

War Hannah eine schwache Frau? Als Frau war sie schwach – oder klein geredet. Gemessen an ihren Erwartungen hat sie sich dann noch den Rest gegeben. Nach den Regeln alter Zeit, die manchmal noch bis heute dauert. Dass Hannahs Lied markant und wuchtig alle Grenzen verschiebt und dann auch noch in die Bibel gerät – wer hätte das gedacht? Ihr Lied ist – Gottes Wort. Gottes Wort im Lied einer Frau. In ihrer Leidensgeschichte, in ihrer Trauer hat Gott Platz genommen und sich eingenistet. Ganz so, wie es Hannahs Namen sagt: Gott ist gnädig, Gott ist barmherzig.

Alles, was bisher als Größe galt – weggewischt.
Alles, was sich selbst groß macht   – weggewischt.
Alles, was Menschen zerstört – weggewischt.
Die alte Ordnung ist hin.
„Die Unfruchtbare hat sieben geboren“ – das sagt Hannah, glücklich mit ihrem Samuel. Sieben – das ist die vollkommene Zahl. Sieben – das sind die Tage der Schöpfung. Sieben – das ist Gottes Zahl. Sieben – das ist das ganz erfüllte Leben.
Dieses Lied zu Ostern zu singen – grandios!
Einer hat Hannah auf den Mund geschaut. Paul Gerhardt. Liederdichter in der Zeit des dreißigjährigen Kriegs. Und genauso verwegen wir Hannah.

Stimme 2:

Auf, auf, mein Herz,
mit Freuden nimm wahr,
was heut geschieht;
wie kommt nach großem Leiden
nun ein so großes Licht!
Mein Heiland war gelegt
da, wo man uns hinträgt,
wenn von uns unser Geist
gen Himmel ist gereist.

Der Herr macht …

Heute feiern wir Ostern. Hannah leiht uns ihr Lied, damit wir für unsere Hoffnungen Worte haben! Worte, gesättigt mit Erfahrungen! Worte, die die Welt schon einmal verwandelt haben.
Heute feiern wir die Auferstehung Jesu. Das Fest einer Liebe, die es mit Tod und Teufel und allem Bösen aufnimmt. Wir feiern das Leben.

Als Hannah ihre Worte findet, war Jesus noch nicht geboren. Aber Gott wehrte dem Tod und seinen vielen Helfershelfern schon immer. Er hat die Welt geschaffen. Er erhält sie liebevoll. Seit Urzeiten, von Anfang an, ist er ihr zugewandt. Er ist treu und verlässlich.
Hannah wagt in ihrem Lied sogar, das Totenreich ans Licht zu zerren! Das hat vor ihr noch keiner gewagt, auch keiner für möglich gehalten. Hier hausen doch nur die Schatten. Verstummt ist jedes Lob, jedes Lachen. Alles ist verloren. Gott war da – nach der Meinung der Menschen – nie, natürlich nicht. Nicht auszudenken. Mit dem Totenreich habe der Ewige doch nichts zu schaffen.

Da hören wir die Stimme Hannahs:

Stimme 1:

„Der Herr tötet und macht lebendig,
führt ins Totenreich und  wieder herauf.
Der Herr macht arm und macht reich;
er erniedrigt und erhöht.
Er hebt auf den Dürftigen aus dem Staub
und erhöht den Armen aus der Asche,
dass er ihn setze unter die Fürsten
und den Thron der Ehre erben lasse.“

Dass Gott ins Totenreich führt und wieder herauf – ein Schock. Dass er auch der Herr über das Totenreich ist – der Schock wird immer größer. Im Reich der Schatten bewegt sich Gott so souverän wie im – Himmel. Er gibt den Schatten einen Namen und ein Gesicht. Er birgt sie in seiner Hand. Er holt sie aus der Vergangenheit heraus. Es entstehen neue Geschichten!
Das Kalkül der Mächtigen geht nicht auf. Sie können nicht einmal die Toten zum Schweigen bringen! Sie stehen auf! Im Totenreich aber sind die Kriegsherren auch nur Schatten. Ihr Ruhm ist dahin.

„Lasst euer großes Rühmen und Trotzen,
freches Reden gehe nicht aus eurem Munde“

War das Totenreich einmal Niemandsland (in den Köpfen und auf den Karten der Menschen), so ist es jetzt Raum Gottes, das Totenreich gehört gar zu seinem Reich. Es gibt nichts, was Gott fremd wäre – oder entfremdet werden – oder vorenthalten werden könnte.
Im 139. Psalm heißt es: „Führe ich gen Himmel, so bist du da; bettete ich mich bei den Toten, siehe, so bist du auch da. Nähme ich Flügel der Morgenröte und bliebe am äußersten Meer, so würde auch dort deine Hand mich führen und deine Rechte mich halten. Spräche ich: Finsternis möge mich decken und Nacht statt Licht um mich sein –, so wäre auch Finsternis nicht finster bei dir, und die Nacht leuchtete wie der Tag. Finsternis ist wie das Licht.“

Paul Gerhardt hat das gesehen:

Stimme 2:

„Das ist mir anzuschauen                                               
ein rechtes Freudenspiel;
nun soll mir nicht mehr grauen
vor allem, was mir will
entnehmen meinen Mut
zusamt dem edlen Gut,
so mir durch Jesus Christ
aus Lieb erworben ist.“

Aus Lieb erworben! Eine neue Welt tut sich auf.
Noch einmal Hannah:
Dürftige gehen nicht namenlos in das Totenreich – sie werden liebevoll aufgehoben.
Arme verschwinden nicht als Schatten – sie werden hochgehoben.
Aufgehoben. Hochgehoben. Zu Ehren gebracht. Geachtet. Bei Gott – und vor aller Welt!
Fürsten müssen ihnen einen Platz einräumen – gar den Thron!
Und die Despoten sind nicht mehr unter sich!

Das Lied wird zur Majestätsbeleidigung. Hannah muss in Lagerhaft. Sagen die Herren. Hannah muss weggesperrt werden. Sagen die Propagandisten.
Und Hannah singt!

Ich sehe die vielen Totenreiche. Menschen werden zu Schatten degradiert. Sie verschwinden summarisch in Zahlen. Im Gazastreifen, in Israel, in der Ukraine, in Russland – und, und, und … Ich kann die vielen Orte nicht einmal alle hintereinander nennen, sie in eine Reihenfolge bringen, das Unheil gewichten.
Schatten, Schatten. Umrisse. Keine Gesichter. Geschichten – mundtot gemacht.

Doch Ostern ist ein aufmüpfiges Fest! Und Hannah die Festsängerin. Was sie erlebt hat, wird zu einem großen Lied:
Gott hat sich Hannah angenommen.
Gott nimmt sich aller Traurigen, aller Schwachen an.
Gott räumt im Totenreich auf.
Gott gibt jedem Menschen seinen Namen zurück.
Gott verwandelt Schatten in Engel!

Übrigens: Wo war Christus nach seinem Tod? Im Totenreich. „Hinabgestiegen in das Reich des Todes“, sagen wir im Glaubensbekenntnis. Wir sagen das regelmäßig. Viel zu bescheiden, viel zu vorsichtig! ER ist „hinabgefahren“ in die Hölle – hinabgefahren! Und hat dem Totenreich Dach und Wände im Nu genommen. Das Gefängnis des Todes ist zerstört, ein für alle mal – und Christus führt die Gefangenen hinaus. Das Totenreich wird – von Liebe erobert. Die Schatten fangen zu singen an!

Paul Gerhardt:

Stimme 2:

Ich hang und bleib auch hangen
an Christus als ein Glied;
wo mein Haupt durch ist gangen,
da nimmt er mich auch mit.
Er reißet durch den Tod,
durch Welt, durch Sünd, durch Not,
er reißet durch die Höll;
ich bin stets sein Gesell.

Mit einem fröhlichen Herzen, einem erhobenen Kopf und einem offenen Mund!
Ich bin stets sein Gesell!
Für Wahrheit und Recht, für eine neue Welt, für das Glück der Menschen.

„Es ist niemand heilig wie der HERR,
außer dir ist keiner,
und ist kein Fels, wie unser Gott ist.“

Der Herr ist auferstanden!
Frohe Ostern!

Und der Friede Gottes, der höher ist als unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus, unserem Herrn.

 

Vier Fragen zur Predigtvorbereitung an Manfred Wussow

1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Ostern steht für mich in diesem Jahr besonders unter dem Eindruck, dass das Leben lieber Menschen am seidenen Faden hängt. Die allgemeine Situation – Ukraine, Russland, Hamas, Israel, Haiti, Sudan – verunsichert zudem und treibt auch die Menschen in der Gemeinde um. Es ist zu viel in kurzer Zeit los. „Man kommt nicht mehr mit“. Die Zerreißproben in der Gesellschaft liegen offen zu Tage wie die Nerven. Das Lied Hannahs ist seelsorgerlich und aufmüpfig.

2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Das Lied enthält in sich eine ungeheure Steigerung und Spannung – bis ins Totenreich. Die vielen Bilder haben mich in ihrer Vielfalt sehr beflügelt. Die Vielfalt lässt sich aber nicht bändigen. Es muss noch eine zweite Predigt geben (und eine dritte ….)

3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Alles, was mit dem „Totenreich“ zu tun hat, wird mich noch lange begleiten. Dogmengeschichtlich, kunstgeschichtlich, literarisch und seelsorgerlich. Das „Totenreich“ im Lied Hannahs bietet zudem die Möglichkeit, Schatten wieder einen Körper zu geben, eine Stimme und ein Gesicht.

4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Mein Gesprächspartner hat den roten Faden der Predigt neu gereiht. Nach Anmerkungen und Hinweisen ist dadurch z.T. ein neuer Text entstanden. Es war eine schöne Begegnung. Schade, dass sie sich nicht fortsetzen lässt. Danke!

Perikope
31.03.2024
2,1-8a

Kontrollgang lächelnd beendet - Predigt zu 1 Sam 3,1-10 von Frank Nico Jaeger

Kontrollgang lächelnd beendet - Predigt zu 1 Sam 3,1-10 von Frank Nico Jaeger
3,1-10

1. Samuel 3
1Und zu der Zeit, als der Knabe Samuel dem Herrn diente unter Eli, war des Herrn Wort selten, und es gab kaum noch Offenbarung. 2Und es begab sich zur selben Zeit, dass Eli lag an seinem Ort, und seine Augen fingen an, schwach zu werden, sodass er nicht mehr sehen konnte. 3Die Lampe Gottes war noch nicht verloschen. Und Samuel hatte sich gelegt im Tempel des Herrn, wo die Lade Gottes war. 4Und der Herr rief Samuel. Er aber antwortete: Siehe, hier bin ich!, 5und lief zu Eli und sprach: Siehe, hier bin ich! Du hast mich gerufen. Er aber sprach: Ich habe nicht gerufen; geh wieder hin und lege dich schlafen. Und er ging hin und legte sich schlafen. 6Der Herr rief abermals: Samuel! Und Samuel stand auf und ging zu Eli und sprach: Siehe, hier bin ich! Du hast mich gerufen. Er aber sprach: Ich habe nicht gerufen, mein Sohn; geh wieder hin und lege dich schlafen. 7Aber Samuel kannte den Herrn noch nicht, und des Herrn Wort war ihm noch nicht offenbart. 8Und der Herr rief Samuel wieder, zum dritten Mal. Und er stand auf und ging zu Eli und sprach: Siehe, hier bin ich! Du hast mich gerufen. Da merkte Eli, dass der Herr den Knaben rief. 9Und Eli sprach zu Samuel: Geh wieder hin und lege dich schlafen; und wenn du gerufen wirst, so sprich: Rede, Herr, denn dein Knecht hört. Samuel ging hin und legte sich an seinen Ort.10Da kam der Herr und trat herzu und rief wie vorher: Samuel, Samuel! Und Samuel sprach: Rede, denn dein Knecht hört. 

Beim abendlichen Kontrollgang durch die große Hallenkirche folgt er einem festgelegten Ablauf. Immer durch den Haupteingang rein und dann die schwere Holztür von innen abschließen. Langsam durch den Mittelgang gehen und zuerst die Bankreihen links und rechts im Kirchenschiff kontrollieren, dann die äußeren Bänke. Ist das erledigt, geht er zum Altar. Vor den Stufen bleibt er kurz stehen und geht erst dann bedächtig die drei Steintreppen hoch. Er löscht die zwei Altarkerzen, überprüft gekonnt die Blumen in der Vase und wendet sich zuletzt der Osterkerze zu. Weil sie zu dieser Zeit im Jahr noch nicht sehr runtergebrannt ist, muss er sich kaum bücken, um sie auszupusten.
Sobald die Flamme aus ist, verharrt er einen Moment und lauscht in die leere Kirche. Und bevor er seinen Kontrollgang fortsetzt, fragt er sich, wie es wäre, wenn jetzt, genau in die Stille hinein, Gott zu ihm spräche. So wie er einst zu Samuel gesprochen hatte.

Seit Jahrzehnten tut er schon Dienst in dieser Kirche. Er hat viele Pfarrer und Pfarrerinnen kommen und gehen sehen. Hat ihnen zugehört, wenn sie sich beschwert haben, über die Institution, über den Dekan oder wie furchtbar kalt es heute schon wieder in der Kirche ist. Er hat den Geistlichen dann manchmal Decken und Tee gebracht, weiter Stühle gestellt und in seinem Kämmerlein, in dem die ganze Technik untergebracht ist, im richtigen Moment die Vater-Unser-Glocken angestellt.
Halb im Ernst, halb im Spaß würde er sagen, dass man zu diesem Dienst berufen sein muss.
Auch wenn Gott noch nie zu ihm gesprochen hat, beim Auspusten der Kerzen

Egal. Seine Handgriffe sind routiniert. Auch ohne Berufung. Und er geht in seiner Arbeit auf. Manchmal hat er Angst davor, dass es ihm einst so ergehen könnte, wie dem alten Prophetenlehrer Eli. Der war so alt, dass er nur noch liegend Anweisungen erteilen konnte und niemand in Sicht, der seinen Dienst tun könnte. Sein Dienst, dem Untergang geweiht. Als er damals seine Stelle angetreten hat, hatte er keine Ahnung, was auf ihn zukommen würde. Aber man kann das lernen, hauptberuflich etwas mit Gott und seinem Personal zu machen. Man wächst in diese Aufgabe rein. Und erfährt schnell die Vorteile: Im Sommer ist es gut, dass es in der Kirche nicht so heiß ist.
Manchmal riecht es muffig, aber dann öffnet er einfach die großen Holztüren und lässt Licht und Luft herein. Und mit der Sonne kommt der Glanz durch die bunten Kirchenfenster in das große Schiff. Er weiß um alle Spardebatten, er hat den Geistlichen zugehört, wenn sie in der Sakristei über Reformprozesse reden, als würden sie sich über Nagelpilz austauschen. Dabei wäre ein bisschen Veränderung bestimmt nicht schlecht. Ab und an eine kleine Störung vom Himmel wäre hilfreich. Natürlich, Selbsterkenntnis ist schmerzhaft. Aber er sieht ja, wie viele (noch) kommen. Woran das liegt, weiß er auch. Es sind nicht nur all die schlimmen Verfehlungen, es ist auch das Sich-Einrichten in einem dunklen, muffig riechenden Kirchlein. Seine Diagnose: Fehlender Mut. Auch zur Veränderung. Was fehlt? Ein Hoffnungsschimmer, glänzend wie das Sonnenlicht in den bunten Kirchenfenstern.

Samuel, der kleine Prophetenschüler, ist so ein glänzender Hoffnungsschimmer. Er ist bereit. Schläft sogar im Tempel, für den Fall, das Gott zu ihm sprechen würde. Unwahrscheinlich scheint das damals jedenfalls nicht gewesen zu sein. Und als das Unwahrscheinliche tatsächlich geschieht, denkt Samuel, sein Meister, Eli, spreche zu ihm. Gottes Stimme hat anscheinend einen menschlichen Klang.
So unwahrscheinlich es auch ist, dass Gott zu mir spricht, denkt sich der Küster zurecht, es geschieht. Und so selten das Wort des Herren auch sein mag, die Welt ist nicht ohne dieses Wort. Es erreicht Menschen und wartet auf deren Antwort. Ein kurzes Gebet, ein schnell gesprochenes Bekenntnis oder einfach nur ein, ich höre. Die Welt braucht mehr Geschichten wie die vom jungen Prophetenschüler Samuel, auch weil sie davon erzählt, dass die Kirche nicht nur eine hauptamtliche Kirche ist. Der kleine Samuel passt (noch) nicht in seine Rolle und Gott spricht trotzdem zu ihm.

Am Ende seines Kontrollgangs hat die Dunkelheit fast gewonnen. Langsam verschwindet das Licht aus der Kirche. Der Küster hat alle Lichter ausgemacht, alle Kerzen ausgepustet. Und während die Erde der Nacht entgegenrollt blickt der Küster in das immer dunkler werdende Kirchenschiff, geht durch seinen Technikraum raus vor die Tür und schließt für diesen Tag die Kirche ab. Mit einem Lächeln denkt er an den kleinen Samuel. Auch wenn Gott heute Abend wieder nicht zu ihm gesprochen hat, man darf damit rechnen. Wer weiß schon, wann Gott sein Schweigen bricht und die Lampe Gottes ist noch lange nicht erloschen.

Amen.

Perikope
21.05.2023
3,1-10

(Broken) Halleluja - Predigt zu 1 Sam 16,14-23 von Christian Stasch

(Broken) Halleluja - Predigt zu 1 Sam 16,14-23 von Christian Stasch
1,14-23

Der Predigttext ist im Laufe des Gottesdienst bereits verlesen worden.

1.
(Anm.: Krone aufsetzen)
Gestatten? Saul.
König Saul.
Stark sein muss ich. Und bin es auch – oft.
Ich muss den Überblick haben.
Führen und leiten, den Weg vorgeben, andere mitnehmen.
Alles kein Problem.
Oh ja, ich spüre den König in mir, diese vielen Möglichkeiten, was zu bewegen.
Gestaltungsmacht.
Großartig.

(Anm.: Krone abnehmen)
Ich kenne aber auch das andere.
Richtige Abstürze sind das.
Dann bin ich ungeduldig, unfair, ungerecht,
ich brülle rum wie ein Wilder,
schmeiße die Stühle um,
raste aus.
„Ihr Schwachköpfe! Was interessiert mich mein Geschwätz von gestern?“
Ich bin dann im Grunde arbeitsunfähig.
Oder werde ganz traurig, und kleinlaut, und mutlos.
„Ich, ein König? Der Aufgabe bin ich nicht gewachsen, ich pack das nicht.
Das können andere vielleicht besser.“

Tja, wer bin ich eigentlich? König oder Nicht-König?
Bin ich heute dieser und morgen ein anderer?
Vor Menschen ein Heuchler
und vor mir selbst ein wehleidiger Schwächling?
Wie hört das auf?
Ich höre auf…

Seit ein paar Wochen höre ich auf einen jungen Mann, David heißt er,
ich höre auf seine  Musik.
Er ist mir empfohlen worden.
Man sagte, er sei ein Naturtalent,
schreibt sogar Psalmen, gesungene Gebete,
mit viel „Halleluja“ und so.
Ich war erst skeptisch:
Na hör mal, ich ein König, und er so ein Schafhirte aus diesem Nest Bethlehem.
Aber ich muss sagen: es wirkt.
Er kommt immer zu mir, mit seiner kleinen Harfe,
mal spielt er nur, mal singt er dazu.
Mal ist es wie ein festlich-heiliges Halleluja,
mal wie ein nachdenkliches, gebrochenes Halleluja.
Mir tut die Musik gut.
Ich komme wieder zu mir.
Schöpfe neuen Lebensatem.
Seine fröhlichen Lieder bringen mir Energie zurück,
seine traurigen Lieder geben mir zu denken, trösten mich. 

Es wirkt nicht immer,
manchmal klappt es einfach nicht.
Bleibt unverfügbar.
Aber oftmals geht es mir danach besser.
Echt: Den schickt der Himmel.
Danke, David. Danke für die Musik.
Also: Krönchen wieder gerade rücken. 
(Anm.: Krone zeigen, dann weg.)

2.
Soweit, liebe Gemeinde, der erste König Israels überhaupt: Saul.
Nach biblischer Überlieferung gab es also sofort Musik am Königshof, genauer gesagt Musiktherapie.
Durch den jungen David.
David, der von Saul eine Festanstellung bekommt, lange bevor er später mal Sauls Nachfolger auf dem Königsthron sein wird.
Irgendwie sind da Resonanzen zwischen den beiden. „Er gewann ihn lieb.“ Heißt es da. Obwohl zwischen den beiden dann mehr und mehr auch eine Konkurrenz-Situation besteht. Aber wer ist „Er?“ Gewann Saul den David lieb, weil der so gesund und tatkräftig und musikalisch war? Oder gewann David den Saul lieb, weil er einen König erlebt, der auch Mensch war und der Schwächen zeigte?
Resonanzen löst auch die Musik selbst aus. Als ob durch die Musik etwas aufblüht, was wie abgestorben schien. Neuer Atemhauch, neue Zuversicht ins Leben, Trost und neuer Mut. Die Welt ist kein stummes, namenloses Nichts, sondern da ist eine Kraft, die mich meint und mich erreicht und mich beim Namen ruft. Mich fröhlich macht oder stärkt oder tröstet. Danke, Gott! Halleluja.
Das Gotteslob, das Singen, das Musizieren im Judentum und im Christentum gründet sich im Wesentlichen auf David. Er ist so was wie der Urvater der Musik. Und er ist sehr populär. So dass es später eine Ehre war zu sagen, man stamme aus der David-Linie, aus dem Hause und Geschlechte Davids.
Dabei ist David eine genauso zweischneidige Figur wie Saul. Auch er hat seine inneren Abgründe. Manchmal stürzt er andere ins Unglück, um sich selbst einen Vorteil zu sichern. Einmal sieht er eine schöne Frau nackt baden, er will sie haben. Und dass sie bereits verheiratet ist, Schwamm drüber, der Ehemann wird von David in ein Himmelfahrtskommando beordert – und kommt um, wie geplant. David nimmt sich die Frau, als wäre er im Selbstbedienungsladen.
Schonungslos ehrlich wird das in der Bibel berichtet. Der Urvater der Musik ist kein glänzender Superstar, sondern jemand mit Widersprüchen und Schattenseiten.

3.
Das gibt die Richtung vor bis heute: Widersprüche und Schattenseiten gehören dazu.  Auch in der Musik. Egal ob in der Kirchenmusik oder der Klassik, im Jazz oder in guten Pop-Songs:  Musik, die einen wirklich erreicht und anspricht, ist meistens vielschichtig, meistens mehr als „einfach nur schön“.
Wie ist das für Sie? Welche Musik beflügelt Sie? Welche Musik zeigt Ihnen etwas vom Geheimnis des Lebens? Welche Musik schenkt Ihnen Hoffnung? Welche Musik tröstet Sie? Gibt es Musik, wo all diese Aspekte zusammenkommen?

4.
Für mich zeigt sich das ganz besonders im „Halleluja“. Mal ein Jubelruf, mal ein trotziger Protest. Auch Leonard Cohen, der kanadische Liedermacher und Sänger (2016 verstorben) hat einen Song  namens „Hallelujah“ geschrieben. Der wird gern genommen für Freudenfeste, auf You Tube finden sich zahlreiche Vertonungen für Trauungen. Dabei ist der Song selbst eigentlich gar nicht so fröhlich. Es ist ein Song voller Brüche - so wie Saul voller Brüche war, und genauso David, der vielleicht erstmals Hallelujah (für Saul) gesungen hat.  
So wie wir Menschen voller Brüche sind - weil wir hinter Erwartungen zurückbleiben, oder weil uns manchmal die Hoffnung abhandenkommt.
Und: So wie eben auch Leonard Cohen voller Brüche war, mit vielen Erfolgen und vielem Scheitern, mit Suchbewegungen, jüdisch, christlich, buddhistisch – und mit einer Gabe, all das durch Musik auszudrücken.  
Wer genau hinhört, hört es der Musik an. Hinter dem Hallelujah steckt mehr. Lachen und Tränen, Jubel und Schmerz. „The holy or the broken Hallelujah“ (Anm.: ggf. kurz ansingen), das heilige Halleluja, andererseits aber auch das gebrochene Halleluja.
All das steckt drin im Lob Gottes: Lobt Jahwe. Lobt den Herrn. Mit allem. Trotz allem. Saul und David haben das getan. Wir tun es heute. Alle gemeinsam.
Amen.

Vier Fragen zur Predigtvorbereitung an Christian Stasch

1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Mir steht die wunderschöne Loccumer Klosterkirche vor Augen. Und die Menschen, die hier gern Musik hören und machen, u.a. die Kantorei und der vielseitig versierte Kantor/Organist. Erinnerung an viele Konzerte dort. 

2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Musik war und ist immer da. Hinzu kam die Lust, ein klein wenig in die biblische  „Szene“ einzusteigen und auf die Emotionen (hier also: die von Saul) zu achten.

3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Wenn Musik wie auch Glaube das ganze Leben umfasst, kann es nicht nur etwas Garnitur für schöne Tage sein.

4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Sehr hilfreiches und zielführendes Coaching! Danke dafür! Tipps waren u.a. (in meinen Worten): Weniger verschiedene Fässer aufmachen, schon gar nicht im Schluss-Satz. Gedanklich weniger herum hüpfen. Mitgebsel (Bild aus der Kunstgeschichte) überprüfen, ob es wirklich etwas bringt.

Perikope
07.05.2023
1,14-23

Ostern ist eine Auferstehungsgeschichte – Predigt zu 1. Samuel 2,1-2.6-8a von Christiane Borchers

Ostern ist eine Auferstehungsgeschichte – Predigt zu 1. Samuel 2,1-2.6-8a von Christiane Borchers
1. Samuel 2,1-2.6-8a

Liebe Gemeinde!

Der Schlüssel dreht sich im Schloss. Die Wärterin hat den Schlüssel in das Schloss gesteckt und die Tür aufgeschlossen. Dina ist von dem Geräusch aufgewacht. Sie liegt auf ihrer Pritsche und hebt leicht den Kopf. Die Wärterin öffnet die Gittertür. Dina bleibt liegen, guckt nur zu der Wärterin hoch. Sie erwartet nichts von ihr, außer dass sie ihr das Essen bringt wie jeden Tag. Dina hat sowieso keinen Appetit. Sie hat resigniert. Dina ist in einer nur wenige Quadratmeter großen Zelle eingesperrt. Das kleine Fenster hoch oben an der Mauer lässt nicht viel Tageslicht durch. Dina ist schon eine ganze Weile hier. Warum, weiß sie nicht. Niemand sagt ein Wort. Die Tage sind trostlos, die Unsicherheit ist zermürbend. Sie hat Angst, den Verstand zu verlieren. Sie zermartert sich den Kopf, jeden Tag aufs Neue. In der Nacht findet sie keine Ruhe. Sie muss abschalten, das weiß sie, sonst wird sie noch verrückt. Sie bekommt keine Antwort auf ihre Fragen.

Dina lässt den Kopf wieder sinken. Die Wärterin wird das Essen abstellen und wortlos die Zelle verlassen. „Hey, du da, aufstehen!“ befiehlt diese in einem barschen Ton: „Mitkommen.“  Dina reibt sich die Augen, begreift nicht sofort. „Hast du nicht gehört!“, schnauzt die Wärterin sie an „Mach schon! Glaubst du, ich will hier ewig auf dich warten?!“ Benommen richtet Dina sich auf, erhebt sich von der Pritsche und steht benommen auf. „Da lang“ kommandiert die Wärterin und stößt sie zur Tür hinaus. Mechanisch folgt Dina dem Befehl der Wärterin. Die Wärterin treibt sie einen Gang entlang, die Treppe hinunter, eine Etage tiefer dieselbe Richtung wieder zurück. Horrorgedanken schießen Dina durch den Kopf. Was wollen die von mir? Wollen sie mich verhören? Werden sie mich schlagen?

„Warten“ stoppt die Wärterin Dina. Die Wärterin macht vor einem Glashaus am Ende des Ganges Halt. Hinter dem Glashaus sitzen zwei Männer, die gelangweilt auf Papiere gucken. Sie beachten Dina nicht, tun so, als ob sie Luft wäre. „Habt ihr die Papiere fertig?“ fragt die Wärterin ungehalten. Einer der beiden Männer greift nach zwei, drei Papieren, stempelt sie und überreicht sie missmutig der Wärterin. „Da“, sagt er und wendet sich seinem Kollegen zu. Die Wärterin nimmt die Papiere an sich und drückt sie Dina in die Hand. „Du bist entlassen, du kannst gehen“, bollert sie, dreht sich auf den Absatz um und lässt eine verdatterte Dina stehen. Der eine Mann im Glashaus drückt auf den Knopfsummer, die Tür öffnet sich. „Na los“, herrscht er Dina an „Geh schon, oder soll ich die Tür wieder zumachen?“ Eilig verschwindet Dina durch die Tür. Sie steht draußen vor dem Gefängnis. Die Sonne scheint, verblitzt ihr fast die Augen,  grell leuchtet das helle Tageslicht. Monatelang hat Dina die Sonne nicht mehr gesehen.

Was ist passiert, fragt Dina sich. Sie wird keine Antwort darauf bekommen. Es wird ihr ein Rätsel bleiben, warum sie eingesperrt worden ist und warum sie wieder freigekommen ist. Innerlich fröstelnd entfernt Dina sich von dem Ort des Schreckens. „Bloß weg“ ist ihr einziger Gedanke. Gehetzt irrt Dina durch die Straßen. Sie läuft den ganzen Tag ziellos umher, es wird schon dunkel. Schließlich lässt sie sich auf eine Bank nieder, kommt ein wenig zur Besinnung. Was soll sie tun? Wohin soll sie gehen? An wen kann sie sich wenden? - Sie wird zu ihrer Mutter gehen und sie um Hilfe bitten.

Sie findet Obdach. Ihre Mutter gibt ihr eine erste Heimstatt. Sie kommt wieder zu sich selbst. Später helfen andere Menschen ihr weiter, sorgen dafür, dass sie ein Flugticket bekommt. Dina ist ein Land geflogen, indem sie in Sicherzeit ist.  Als sie im Gefängnis saß, hätte sie nicht gedacht, dass sich ihr Leben je ändern würde.

Sie hat sich von einer verzweifelten Frau, die resigniert hat, in eine Frau verwandelt, die wieder Hoffnung schöpft und lachen kann. Nicht ist nicht sofort geschehen, das hat gedauert und war ein  Prozess.

„Mein Herz ist fröhlich, mein Haupt ist erhöht“, jubelt Hanna in unserem Predigttext. Die, die als unfruchtbar galt, hat ein Kind bekommen. Hanna hat darunter gelitten, dass sie keine Kinder bekommen hat, obwohl sie bereits Jahre mit Elkana verheiratet ist. Kinderlosigkeit ist im Alten Israel für eine Frau ein großer Makel. Ein Mann kann seine kinderlose Frau verstoßen. Das kann ihre Existenz bedrohen und ihren Tod zur Folge haben. Wenn ihre eigene Familie sie nicht aufnimmt, ist sie verloren. Als letzte Möglichkeit bleibt ihr das Betteln. Wer sollte einer verstoßenen Frau Almosen geben? Der Mann wird schon seine Gründe haben, weswegen er sie verstoßen hat, denkt sich so mancher und geht vorüber. Eine Frau, die keine Kinder bekommt, ist eine Schande für den Ehemann und für die ganze Familie. Eine kinderlose Frau ist ausgeschlossen von der Gesellschaft, wenn überhaupt, wird ihr ein Platz am Rande zugewiesen. Sie wird nicht geachtet, bestenfalls geduldet.

Dass Hanna wegen ihrer Kinderlosigkeit todunglücklich ist, ist verständlich. Auch wenn ihr Ehemann Elkana sie liebt, verändert sich ihre Stellung  nicht. Die Schmach und Schande bleibt. Überglücklich ist sie, als sie wider Erwarten doch noch ein Kind zur Welt bringt.  Außer sich vor Glück lobt und preist sie Gott. Ihr Herz ist fröhlich, ihr Haupt ist erhöht. Aufrecht und stolz läuft sie fortan umher. Erhobenen Hauptes geht sie über den Platz und durch die Zelte. Durch die Geburt ihres Kindes hat sie Achtung und Anerkennung gefunden. Sie ist wie verwandelt. Ihr Leben hat noch einmal eine Wende genommen. Sie kommt sich nicht mehr nutzlos vor, ihr Leben bekommt einen Sinn. „Mein Mund hat sich weit aufgetan gegen“ ruft sie begeistert und triumphiert über ihre  Feinde. Hanna singt aus vollen Herzen ihr Loblied auf einen gerechten Gott.

Darf sie das? So offensichtlich über ihre Feinde triumphieren? Hanna ist davon überzeugt, dass sie das darf. Sie ist zuvor verachtet worden, jetzt ist sie erhöht. Zuvor ist sie nichts wert gewesen, jetzt hat sie ihre Stellung in der Gesellschaft. Sie hat es tief in ihrem Herzen immer gewusst: Gott wird Unbarmherzigkeit und Unrecht ahnden. Er straft und sorgt für Gerechtigkeit. Er kann Arme reich machen und Reiche arm. Er erhebt die Niedrigen aus dem Staub und stützt Gewaltige vom Thron. Er erniedrigt und erhöht. Das erinnert an den großen Lobgesang der Maria, als sie den Heiland geboren hat.     

„Ich freue mich, Gott, deines Heils“, ruft Hanna freudestrahlend aus. Gott hat ihr Elend gesehen und sich ihrer erbarmt. Hanna nennt ihren Sohn Samuel, das heißt: „Gott hört“. Gott hat ihre Klagen erhört und ihr geholfen. Hanna hat Gottes Hilfe persönlich erfahren. Sie weiß aber auch, dass Gott allen Menschen Frieden und Gerechtigkeit zugedacht hat. „Er hebt die Dürftigen auf aus dem Staub und erhöht die Armen aus der Asche. Er setzt sie unter die Fürsten und auf den Thron der Ehre“, preist Hanna ihren Helfer. Sie ist voll des Jubels und der Freude über Gott, der sie aus ihrer Not erlöst.

Hannas Loblied ist ein Osterlied. Sie ist auferstanden, hat erlebt, was Auferstehung bedeutet. Hanna Geschichte ist eine Auferstehungsgeschichte. Von Gott erwartet sie alles. Ohne Scheu trägt sie ihm ihre Not vor. Sie war ganz klein, Gott hat sie groß gemacht. Sie lag am Boden, Gott hat sie aufgehoben.

Ostern ist das ganz große Fest des Lebens. Was vorher tot war, ist lebendig geworden. Wo Staub und Asche war, blüht jetzt das Leben. Wer zuvor im Schatten stand, hat jetzt einen Platz an der Sonne. Wo vorher Türen verschlossen waren, tun sich jetzt die Pforten auf. Menschen wie Hanna und Dina haben die Sonne neu gesehen. Menschen wie Hanna und Dina haben ihre persönliche Auferstehung erlebt.

Ostern ersteht das Leben neu. Aus Tod wird Leben, Trauer verwandelt sich in Freude, aus Angst wird Zuversicht.

Ostern feiern wir das ganz große Fest der Auferstehung.

Ostern geht die Sonne auf,

Ostern bringt Licht und Leben.

Amen.

EG-Nr. 105: Erstanden ist der heilig Christ….      

Perikope
01.04.2018
1. Samuel 2,1-2.6-8a