Gnade sei mit euch von dem, der da ist, der da war und der da kommt. Amen.
Liebe Gemeinde,
Seht Ihr manchmal einen alten Mann mit langem, weissem Bart auf einem Thron sitzen?
Natürlich nicht bei Euch daheim.
Da gibt es ja nur Sessel, Stühle und ein Sofa.
Da wäre auch gar nicht genug Platz.
Noch weniger im Schloss Versailles bei der Touristenführung.
Da ist es sogar für Senioren streng verboten, sich irgendwohin zu setzen in der ganzen Pracht!
Dieses Bild vom alten Mann mit weissem Bart erscheint vielleicht manchen unwillkürlich in Euch, wenn ihr an Gott denkt.
Dabei denkt Ihr gleich: Ach, so ist es ja ganz bestimmt nicht!
Aber Ihr seht es schon wieder, dieses Bild vom alten Mann mit ...
Das Klischee ist erstaunlich weit verbreitet. Es ist sogar bei Agnostikern, Atheisten und Spöttern bekannt, die doch immer angeben, sich mit sowas gar nicht abzugeben.
Aber wisst Ihr, woher es kommt?
Wer es in die Welt gesetzt hat?
Hört aus dem Buch des Propheten Daniel, Kapitel 7, einen Traum, aber nicht nur von einem uralten Mann mit Haar wie reine, weisse Wolle.
1 Im ersten Jahr Belsazars, des Königs von Babel, hatte Daniel einen Traum und Gesichte auf seinem Bett; und er schrieb den Traum auf:
2 Ich, Daniel, sah ein Gesicht in der Nacht, und siehe, die vier Winde unter dem Himmel wühlten das große Meer auf. 3 Und vier große Tiere stiegen herauf aus dem Meer, ein jedes anders als das andere.
4 Das erste war wie ein Löwe und hatte Flügel wie ein Adler. Ich sah, wie ihm die Flügel ausgerissen wurden. Und es wurde von der Erde aufgehoben und auf die Füße gestellt wie ein Mensch, und es wurde ihm ein menschliches Herz gegeben. 5 Und siehe, ein anderes Tier, das zweite, war gleich einem Bären und war auf der einen Seite aufgerichtet und hatte in seinem Maul zwischen seinen Zähnen drei Rippen. Und man sprach zu ihm: Steh auf und friss viel Fleisch! 6 Danach sah ich, und siehe, ein anderes Tier, gleich einem Panther, das hatte vier Flügel wie ein Vogel auf seinem Rücken und das Tier hatte vier Köpfe, und ihm wurde Herrschergewalt gegeben.
7 Danach sah ich in diesem Gesicht in der Nacht, und siehe, ein viertes Tier war furchtbar und schrecklich und sehr stark und hatte große eiserne Zähne, fraß um sich und zermalmte, und was übrigblieb, zertrat es mit seinen Füßen. Es war auch ganz anders als die vorigen Tiere und hatte zehn Hörner. 8 Als ich aber auf die Hörner achtgab, siehe, da brach ein anderes kleines Horn zwischen ihnen hervor, vor dem drei der vorigen Hörner ausgerissen wurden. Und siehe, das Horn hatte Augen wie Menschenaugen und ein Maul; das redete große Dinge.
9 Da sah ich: Throne wurden aufgestellt, und einer, der uralt war, setzte sich. Sein Kleid war weiß wie Schnee und das Haar auf seinem Haupt wie reine Wolle; Feuerflammen waren sein Thron und dessen Räder loderndes Feuer. 10 Da ergoss sich ein langer feuriger Strom und brach vor ihm hervor. Tausendmal Tausende dienten ihm, und zehntausendmal Zehntausende standen vor ihm. Das Gericht wurde gehalten und die Bücher wurden aufgetan.
11 Ich sah auf um der großen Reden willen, die das Horn redete, und ich sah, wie das Tier getötet wurde und sein Leib umkam und in die Feuerflammen geworfen wurde. 12 Und mit der Macht der anderen Tiere war es auch aus; denn es war ihnen Zeit und Stunde bestimmt, wie lang ein jedes leben sollte.
13 Ich sah in diesem Gesicht in der Nacht, und siehe, es kam einer mit den Wolken des Himmels wie eines Menschen Sohn und gelangte zu dem, der uralt war, und wurde vor ihn gebracht. 14 Ihm wurde gegeben Macht, Ehre und Reich, dass ihm alle Völker und Leute aus so vielen verschiedenen Sprachen dienen sollten.
Seine Macht ist ewig und vergeht nicht, und sein Reich hat kein Ende.
Liebe Gemeinde,
Seht Ihr jetzt einen alten Mann mit langem, weissem Bart auf einem Thron sitzen?
Ziemlich wahrscheinlich.
Aber Daniel ist nicht schuld daran!
Daniel hat davon nur geträumt.
Diese Bilder hat er sich nicht ausgesucht.
Niemand sucht sich einen Albtraum aus.
Aber Daniel hat es aufgeschrieben.
Viele haben es überliefert.
Aber was heisst schon: «nur geträumt»?! Es war eine der Nächte, die man nie wieder vergisst. Solche Träume kann man nicht vergessen, auch dann nicht, wenn man sie nicht, wie Daniel, aufschreibt.
Aber was haben wir da gerade gehört?
Einen traumatisierenden Traum?
Einen tierischen Text?
Ein trotziges Testament?
Alles zugleich!
Zuerst einmal ist es
1. ein traumatisierender Traum
Daniel hat einen entsetzlichen Albtraum.
Es fängt schon schrecklich an und wird dann viermal schlimmer.
Daniel nennt es – genau übersetzt – «ein Gesicht in der Nacht».
Er sieht nicht nur ein Gesicht.
Es sind viele und vor allem furchtbare Fratzen.
Daniel behält diesen Traum, weil er trotz allem und ganz am Schluss ein gutes Ende nimmt.
Er schreibt ihn auf, weil er bis zur Ewigkeit gebraucht wird.
Wir lesen ihn immer noch, weil es nicht der letzte Albtraum war, den ein Mensch träumte.
Wir deuten ihn, weil wir unsere eigenen Nachtgesichter und tagtäglichen Geschichten dann besser verstehen.
Ich hoffe von ganzem Herzen, Ihr kennt solche Träume nicht!
Ihr habt solche Nachtgesichte noch nicht erlitten, in denen ihr tatenlos immer grauenvollere Dinge ansehen müsst. Daniel verschlägt es fast die Sprache. Beim Schreiben gehen ihm die Worte aus. Die Schilderung der Tiere führt ins Reich des Unvorstellbaren.
Am Anfang versucht er es noch: Es sehe aus wie ein Löwe, habe Flügel wie ein Adler ... Beim vierten Tier kann der Prophet nur noch vage festhalten, es sei furchtbar, schrecklich und sehr stark, ... auch ganz anders als die vorigen Tiere.
So ein Albtraum schwankt in der Länge zwischen wenigen Minuten und einer halben Stunde. Er endet nicht selten mit Aufschrecken. Danach sei man in der Regel sofort bewusst und verfüge über räumliche und zeitliche Orientierung. Als psychologische Ursachen für Albträume werden in unserer Gegenwart unverarbeitetes Tagesgeschehen, traumatische oder traumatisierende Erlebnisse, Stress oder psychische Probleme, aber auch physische Faktoren angenommen.
Davon hatte Daniel mehr als reichlich zu berichten.
Er wurde mit drei Freunden deportiert nach Babylon, sah seine Heimat untergehen und hatte unter Kriegsgewalt und Not zu leiden. Ich wünschte, ich müsste Euch erklären, was das überhaupt ist. Leider wissen wir es – wieder – zu gut.
Auch ohne solche Träume sind unsere Seelen über den Rand gefüllt mit Kriegsbildern, mit Ruinen, mit Menschen, denen Verzweiflung und Elend ins Gesicht geschrieben steht.
Aber Daniel schreibt sich nicht nur einen Albtraum von der Seele, sondern er schreibt
2. einen tierischen Text.
Mischwesen, Chimären kommen auf, kämpfen miteinander, gehen unter. Es gibt ein glotzendes, schreiendes Horn. Es kommen Gestalten vor mein inneres Auge, gegen die Drachen und Dinos geradezu zahm und harmlos wirken.
Gott hat Daniel mit diesem anfänglichen Albtraum das Leben gerettet und ihm «nur» solche tierischen Monster gezeigt. Er hat ihm nicht mit Adresse und Mobilfunknummer die jeweils gemeinten Diktatoren angesagt.
Daniel wäre verhaftet, gefoltert, getötet worden, wenn er die aktuellen Herrscher namentlich genannt hätte. So blieb er – wegen der tierischen Bilder – verschont.
In Verfolgungszeiten, in denen es um Leben und Tod geht, schreibt man besser versteckt über die scheinbar Mächtigen, also in tierischen Bildern: wie ein Löwe, wie ein Bär, wie ein Panther ...
Das ist die lebensrettende Verschlüsselungstechnik in allen Zeitaltern vor dem Computer gewesen. Manchmal braucht es Klugheit und Metaphern, Wortbilder, um der Todesstrafe zu entgehen.
Denn die eine Botschaft dieses alten Albtraums ist klar: Wie gefährlich und grausam sich auch ein Herrscher gebärdet, wie gewaltig er wirkt – seine Macht hat einmal ein Ende. Daniel schreibt ungeschützt: Und mit der Macht der anderen Tiere war es auch aus; denn es war ihnen Zeit und Stunde bestimmt, wie lang ein jedes leben sollte.
Die grösste Grausamkeit hört auf.
Das Böse währt nicht ewig.
Aber die Kehrseite dieses tierischen Textes folgt sogleich.
Er lockt, seit er geschrieben ist, die wildesten Deutungen hervor.
Immer rief und ruft er neue Traumdeuter auf den Plan.
Denn immer hat es Diktatoren und Despoten, totale Verbrecher an der Spitze von Gruppen, Gemeinschaften und Staaten gegeben.
Immer waren diese tierischen Texte «Passbilder», also passende Bilder, für die Bösen an der Macht.
Dazu kommt:
Immer haben Menschen ihre Gegenwart für die Endzeit gehalten, weil sie sich nicht vorstellen konnten, wie das Leben weitergehen sollte.
Immer haben apokalyptische Träume mit ihren Horrorszenarien die Menschen auch ziemlich fasziniert. Daniels Traum ist schaurig-schön wie ein Hollywoodfilm.
Aber viel wichtiger als der Albtraum am Anfang ist der Frieden am Schluss. Da entdeckt der geneigte Leser, die geneigte Leserin
3. ein trotziges Testament vom ewigen Frieden
Nach allen Enden mit Schrecken nach Schrecken schier ohne Ende wird der Traum unerwartet friedlich. Eben galten noch Fressen und Gefressenwerden mit Getöse, eben waren noch Feuer und Vernichtung überall.
Im nächsten Moment wird der Traum des Daniel menschlich.
Das böse Monströse vergeht.
Jetzt werden die Gesichter und Gestalten ganz und gar human.
Jetzt geschieht alles ohne Lärm und Geschrei.
Bücher lassen sich nahezu geräuschlos aufschlagen.
Jetzt werden die Bilder himmlisch. Heiter bis wolkig.
Wolken sind jene Wesen, die sehr gross und still ihre Bahnen ziehen.
13 Ich sah in diesem Gesicht in der Nacht, und siehe, es kam einer mit den Wolken des Himmels wie eines Menschen Sohn und gelangte zu dem, der uralt war, und wurde vor ihn gebracht.
Die Jünger sehen Jesu Himmelfahrt.
Sie denken, sie träumen.
Daniel träumt von Jesu Himmelheimat.
Davon können wir, solange wir mit den Beinen auf der Erde stehen und nur wenig gen Himmel reichen, nur träumen.
Wie Daniel.
Zu sehen ist bei Tageslicht – nichts.
Seit der Auffahrt/Himmelfahrt Jesu glauben wir gegen den Augenschein.
Seit Auffahrt/Himmelfahrt ist hier nur zu sehen, dass hier nichts zu sehen ist!
Das aber ist sehr gut zu erkennen.
Seit der Auffahrt/Himmelfahrt Jesu verlassen wir uns auf Daniels Traum vom Menschensohn:
14 Ihm wurde gegeben Macht, Ehre und Reich, dass ihm alle Völker und Leute aus so vielen verschiedenen Sprachen dienen sollten.
Seine Macht ist ewig und vergeht nicht, und sein Reich hat kein Ende.
Der Friede des Menschensohns breitet sich aus.
Die brutalen, immer neuen Tode müssen einem friedfertigen, uralten Gott weichen, der Geschichtsbücher aufschlägt und liest.
Der Friede des Menschensohns verwandelt alles.
Tausendmal Tausende dienten ihm, und zehntausendmal Zehntausende standen vor ihm.
So viele Menschen können nun friedlich zusammenstehen.
Der Friede des Menschensohns breitet sich weiter aus.
Macht, Ehre und Reich werden dem Menschensohn gegeben. Sie werden nicht mehr an sich gerissen und einander gegenseitig ausgerissen wie Flügel bei lebendigem Leibe.
Der Friede des Menschensohns ist zuletzt überall.
Alle Völker sind vor Gott im Blick. So gewöhnen wir uns am besten schon jetzt daran, dass Gott alle Menschen liebt.
Diese Macht der Liebe ist ewig und vergeht nicht, und dieses Reich hat kein Ende.
Wir haben es gehört: Dieses Reich hat schon angefangen, auch wenn noch gar nichts zu sehen ist.
Der Friede Gottes, der höher ist als unsere Vernunft, der stärke und bewahre unsere Herzen und Sinne in Jesus Christus, Amen.
1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Die Predigt hören einige wenige Personen, die Verschwörungsgeschichten ‚aberglauben‘. Die viel größere Mehrheit steht „solchen Stellen im Alten Testament“ wie Daniel 7 sehr skeptisch gegenüber. Soll man darüber überhaupt predigen? Mein Ziel: Die Fremdheit zeigen, Wesentliches erschließen und der gemütlich-harmlosen „Verwohnzimmerung des Glaubens“ (Steffensky) entgegenwirken.
2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Regelmäßig beschäftige ich mich mit meinen eigenen Träumen.
3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Mich begleiten grundsätzliche Überlegungen zu Albträumen. Angesichts der aktuellen Lage bin ich mir auch wieder neu der Ambivalenz bewusst, was verschlüsselte, metaphernreiche Texte für große Möglichkeiten und für gigantische Missbrauchsgelegenheiten sind. Beides hat Daniels Traum erlebt, im Guten wie im Bösen.
4. Was verdankt diese Predigt früheren Bearbeitungen?
Kurze Sätze. Das ist – ganz offensichtlich – eine Vorliebe in der Predigtwerkstatt Wittenberg.