Aus Traum wird Text wird Testament - Predigt zu Dan 7,1-14 von Dörte Gebhard
Gnade sei mit euch von dem, der da ist, der da war und der da kommt. Amen.
Liebe Gemeinde,
Seht Ihr manchmal einen alten Mann mit langem, weissem Bart auf einem Thron sitzen?
Natürlich nicht bei Euch daheim.
Da gibt es ja nur Sessel, Stühle und ein Sofa.
Da wäre auch gar nicht genug Platz.
Noch weniger im Schloss Versailles bei der Touristenführung.
Da ist es sogar für Senioren streng verboten, sich irgendwohin zu setzen in der ganzen Pracht!
Dieses Bild vom alten Mann mit weissem Bart erscheint vielleicht manchen unwillkürlich in Euch, wenn ihr an Gott denkt.
Dabei denkt Ihr gleich: Ach, so ist es ja ganz bestimmt nicht!
Aber Ihr seht es schon wieder, dieses Bild vom alten Mann mit ...
Das Klischee ist erstaunlich weit verbreitet. Es ist sogar bei Agnostikern, Atheisten und Spöttern bekannt, die doch immer angeben, sich mit sowas gar nicht abzugeben.
Aber wisst Ihr, woher es kommt?
Wer es in die Welt gesetzt hat?
Hört aus dem Buch des Propheten Daniel, Kapitel 7, einen Traum, aber nicht nur von einem uralten Mann mit Haar wie reine, weisse Wolle.
1 Im ersten Jahr Belsazars, des Königs von Babel, hatte Daniel einen Traum und Gesichte auf seinem Bett; und er schrieb den Traum auf:
2 Ich, Daniel, sah ein Gesicht in der Nacht, und siehe, die vier Winde unter dem Himmel wühlten das große Meer auf. 3 Und vier große Tiere stiegen herauf aus dem Meer, ein jedes anders als das andere.
4 Das erste war wie ein Löwe und hatte Flügel wie ein Adler. Ich sah, wie ihm die Flügel ausgerissen wurden. Und es wurde von der Erde aufgehoben und auf die Füße gestellt wie ein Mensch, und es wurde ihm ein menschliches Herz gegeben. 5 Und siehe, ein anderes Tier, das zweite, war gleich einem Bären und war auf der einen Seite aufgerichtet und hatte in seinem Maul zwischen seinen Zähnen drei Rippen. Und man sprach zu ihm: Steh auf und friss viel Fleisch! 6 Danach sah ich, und siehe, ein anderes Tier, gleich einem Panther, das hatte vier Flügel wie ein Vogel auf seinem Rücken und das Tier hatte vier Köpfe, und ihm wurde Herrschergewalt gegeben.
7 Danach sah ich in diesem Gesicht in der Nacht, und siehe, ein viertes Tier war furchtbar und schrecklich und sehr stark und hatte große eiserne Zähne, fraß um sich und zermalmte, und was übrigblieb, zertrat es mit seinen Füßen. Es war auch ganz anders als die vorigen Tiere und hatte zehn Hörner. 8 Als ich aber auf die Hörner achtgab, siehe, da brach ein anderes kleines Horn zwischen ihnen hervor, vor dem drei der vorigen Hörner ausgerissen wurden. Und siehe, das Horn hatte Augen wie Menschenaugen und ein Maul; das redete große Dinge.
9 Da sah ich: Throne wurden aufgestellt, und einer, der uralt war, setzte sich. Sein Kleid war weiß wie Schnee und das Haar auf seinem Haupt wie reine Wolle; Feuerflammen waren sein Thron und dessen Räder loderndes Feuer. 10 Da ergoss sich ein langer feuriger Strom und brach vor ihm hervor. Tausendmal Tausende dienten ihm, und zehntausendmal Zehntausende standen vor ihm. Das Gericht wurde gehalten und die Bücher wurden aufgetan.
11 Ich sah auf um der großen Reden willen, die das Horn redete, und ich sah, wie das Tier getötet wurde und sein Leib umkam und in die Feuerflammen geworfen wurde. 12 Und mit der Macht der anderen Tiere war es auch aus; denn es war ihnen Zeit und Stunde bestimmt, wie lang ein jedes leben sollte.
13 Ich sah in diesem Gesicht in der Nacht, und siehe, es kam einer mit den Wolken des Himmels wie eines Menschen Sohn und gelangte zu dem, der uralt war, und wurde vor ihn gebracht. 14 Ihm wurde gegeben Macht, Ehre und Reich, dass ihm alle Völker und Leute aus so vielen verschiedenen Sprachen dienen sollten.
Seine Macht ist ewig und vergeht nicht, und sein Reich hat kein Ende.
Liebe Gemeinde,
Seht Ihr jetzt einen alten Mann mit langem, weissem Bart auf einem Thron sitzen?
Ziemlich wahrscheinlich.
Aber Daniel ist nicht schuld daran!
Daniel hat davon nur geträumt.
Diese Bilder hat er sich nicht ausgesucht.
Niemand sucht sich einen Albtraum aus.
Aber Daniel hat es aufgeschrieben.
Viele haben es überliefert.
Aber was heisst schon: «nur geträumt»?! Es war eine der Nächte, die man nie wieder vergisst. Solche Träume kann man nicht vergessen, auch dann nicht, wenn man sie nicht, wie Daniel, aufschreibt.
Aber was haben wir da gerade gehört?
Einen traumatisierenden Traum?
Einen tierischen Text?
Ein trotziges Testament?
Alles zugleich!
Zuerst einmal ist es
1. ein traumatisierender Traum
Daniel hat einen entsetzlichen Albtraum.
Es fängt schon schrecklich an und wird dann viermal schlimmer.
Daniel nennt es – genau übersetzt – «ein Gesicht in der Nacht».
Er sieht nicht nur ein Gesicht.
Es sind viele und vor allem furchtbare Fratzen.
Daniel behält diesen Traum, weil er trotz allem und ganz am Schluss ein gutes Ende nimmt.
Er schreibt ihn auf, weil er bis zur Ewigkeit gebraucht wird.
Wir lesen ihn immer noch, weil es nicht der letzte Albtraum war, den ein Mensch träumte.
Wir deuten ihn, weil wir unsere eigenen Nachtgesichter und tagtäglichen Geschichten dann besser verstehen.
Ich hoffe von ganzem Herzen, Ihr kennt solche Träume nicht!
Ihr habt solche Nachtgesichte noch nicht erlitten, in denen ihr tatenlos immer grauenvollere Dinge ansehen müsst. Daniel verschlägt es fast die Sprache. Beim Schreiben gehen ihm die Worte aus. Die Schilderung der Tiere führt ins Reich des Unvorstellbaren.
Am Anfang versucht er es noch: Es sehe aus wie ein Löwe, habe Flügel wie ein Adler ... Beim vierten Tier kann der Prophet nur noch vage festhalten, es sei furchtbar, schrecklich und sehr stark, ... auch ganz anders als die vorigen Tiere.
So ein Albtraum schwankt in der Länge zwischen wenigen Minuten und einer halben Stunde. Er endet nicht selten mit Aufschrecken. Danach sei man in der Regel sofort bewusst und verfüge über räumliche und zeitliche Orientierung. Als psychologische Ursachen für Albträume werden in unserer Gegenwart unverarbeitetes Tagesgeschehen, traumatische oder traumatisierende Erlebnisse, Stress oder psychische Probleme, aber auch physische Faktoren angenommen.
Davon hatte Daniel mehr als reichlich zu berichten.
Er wurde mit drei Freunden deportiert nach Babylon, sah seine Heimat untergehen und hatte unter Kriegsgewalt und Not zu leiden. Ich wünschte, ich müsste Euch erklären, was das überhaupt ist. Leider wissen wir es – wieder – zu gut.
Auch ohne solche Träume sind unsere Seelen über den Rand gefüllt mit Kriegsbildern, mit Ruinen, mit Menschen, denen Verzweiflung und Elend ins Gesicht geschrieben steht.
Aber Daniel schreibt sich nicht nur einen Albtraum von der Seele, sondern er schreibt
2. einen tierischen Text.
Mischwesen, Chimären kommen auf, kämpfen miteinander, gehen unter. Es gibt ein glotzendes, schreiendes Horn. Es kommen Gestalten vor mein inneres Auge, gegen die Drachen und Dinos geradezu zahm und harmlos wirken.
Gott hat Daniel mit diesem anfänglichen Albtraum das Leben gerettet und ihm «nur» solche tierischen Monster gezeigt. Er hat ihm nicht mit Adresse und Mobilfunknummer die jeweils gemeinten Diktatoren angesagt.
Daniel wäre verhaftet, gefoltert, getötet worden, wenn er die aktuellen Herrscher namentlich genannt hätte. So blieb er – wegen der tierischen Bilder – verschont.
In Verfolgungszeiten, in denen es um Leben und Tod geht, schreibt man besser versteckt über die scheinbar Mächtigen, also in tierischen Bildern: wie ein Löwe, wie ein Bär, wie ein Panther ...
Das ist die lebensrettende Verschlüsselungstechnik in allen Zeitaltern vor dem Computer gewesen. Manchmal braucht es Klugheit und Metaphern, Wortbilder, um der Todesstrafe zu entgehen.
Denn die eine Botschaft dieses alten Albtraums ist klar: Wie gefährlich und grausam sich auch ein Herrscher gebärdet, wie gewaltig er wirkt – seine Macht hat einmal ein Ende. Daniel schreibt ungeschützt: Und mit der Macht der anderen Tiere war es auch aus; denn es war ihnen Zeit und Stunde bestimmt, wie lang ein jedes leben sollte.
Die grösste Grausamkeit hört auf.
Das Böse währt nicht ewig.
Aber die Kehrseite dieses tierischen Textes folgt sogleich.
Er lockt, seit er geschrieben ist, die wildesten Deutungen hervor.
Immer rief und ruft er neue Traumdeuter auf den Plan.
Denn immer hat es Diktatoren und Despoten, totale Verbrecher an der Spitze von Gruppen, Gemeinschaften und Staaten gegeben.
Immer waren diese tierischen Texte «Passbilder», also passende Bilder, für die Bösen an der Macht.
Dazu kommt:
Immer haben Menschen ihre Gegenwart für die Endzeit gehalten, weil sie sich nicht vorstellen konnten, wie das Leben weitergehen sollte.
Immer haben apokalyptische Träume mit ihren Horrorszenarien die Menschen auch ziemlich fasziniert. Daniels Traum ist schaurig-schön wie ein Hollywoodfilm.
Aber viel wichtiger als der Albtraum am Anfang ist der Frieden am Schluss. Da entdeckt der geneigte Leser, die geneigte Leserin
3. ein trotziges Testament vom ewigen Frieden
Nach allen Enden mit Schrecken nach Schrecken schier ohne Ende wird der Traum unerwartet friedlich. Eben galten noch Fressen und Gefressenwerden mit Getöse, eben waren noch Feuer und Vernichtung überall.
Im nächsten Moment wird der Traum des Daniel menschlich.
Das böse Monströse vergeht.
Jetzt werden die Gesichter und Gestalten ganz und gar human.
Jetzt geschieht alles ohne Lärm und Geschrei.
Bücher lassen sich nahezu geräuschlos aufschlagen.
Jetzt werden die Bilder himmlisch. Heiter bis wolkig.
Wolken sind jene Wesen, die sehr gross und still ihre Bahnen ziehen.
13 Ich sah in diesem Gesicht in der Nacht, und siehe, es kam einer mit den Wolken des Himmels wie eines Menschen Sohn und gelangte zu dem, der uralt war, und wurde vor ihn gebracht.
Die Jünger sehen Jesu Himmelfahrt.
Sie denken, sie träumen.
Daniel träumt von Jesu Himmelheimat.
Davon können wir, solange wir mit den Beinen auf der Erde stehen und nur wenig gen Himmel reichen, nur träumen.
Wie Daniel.
Zu sehen ist bei Tageslicht – nichts.
Seit der Auffahrt/Himmelfahrt Jesu glauben wir gegen den Augenschein.
Seit Auffahrt/Himmelfahrt ist hier nur zu sehen, dass hier nichts zu sehen ist!
Das aber ist sehr gut zu erkennen.
Seit der Auffahrt/Himmelfahrt Jesu verlassen wir uns auf Daniels Traum vom Menschensohn:
14 Ihm wurde gegeben Macht, Ehre und Reich, dass ihm alle Völker und Leute aus so vielen verschiedenen Sprachen dienen sollten.
Seine Macht ist ewig und vergeht nicht, und sein Reich hat kein Ende.
Der Friede des Menschensohns breitet sich aus.
Die brutalen, immer neuen Tode müssen einem friedfertigen, uralten Gott weichen, der Geschichtsbücher aufschlägt und liest.
Der Friede des Menschensohns verwandelt alles.
Tausendmal Tausende dienten ihm, und zehntausendmal Zehntausende standen vor ihm.
So viele Menschen können nun friedlich zusammenstehen.
Der Friede des Menschensohns breitet sich weiter aus.
Macht, Ehre und Reich werden dem Menschensohn gegeben. Sie werden nicht mehr an sich gerissen und einander gegenseitig ausgerissen wie Flügel bei lebendigem Leibe.
Der Friede des Menschensohns ist zuletzt überall.
Alle Völker sind vor Gott im Blick. So gewöhnen wir uns am besten schon jetzt daran, dass Gott alle Menschen liebt.
Diese Macht der Liebe ist ewig und vergeht nicht, und dieses Reich hat kein Ende.
Wir haben es gehört: Dieses Reich hat schon angefangen, auch wenn noch gar nichts zu sehen ist.
Der Friede Gottes, der höher ist als unsere Vernunft, der stärke und bewahre unsere Herzen und Sinne in Jesus Christus, Amen.
1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Die Predigt hören einige wenige Personen, die Verschwörungsgeschichten ‚aberglauben‘. Die viel größere Mehrheit steht „solchen Stellen im Alten Testament“ wie Daniel 7 sehr skeptisch gegenüber. Soll man darüber überhaupt predigen? Mein Ziel: Die Fremdheit zeigen, Wesentliches erschließen und der gemütlich-harmlosen „Verwohnzimmerung des Glaubens“ (Steffensky) entgegenwirken.
2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Regelmäßig beschäftige ich mich mit meinen eigenen Träumen.
3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Mich begleiten grundsätzliche Überlegungen zu Albträumen. Angesichts der aktuellen Lage bin ich mir auch wieder neu der Ambivalenz bewusst, was verschlüsselte, metaphernreiche Texte für große Möglichkeiten und für gigantische Missbrauchsgelegenheiten sind. Beides hat Daniels Traum erlebt, im Guten wie im Bösen.
4. Was verdankt diese Predigt früheren Bearbeitungen?
Kurze Sätze. Das ist – ganz offensichtlich – eine Vorliebe in der Predigtwerkstatt Wittenberg.
Link zur Online-Bibel
Stichwort: Trümmer, überblüht - Predigt zu Dan 9,4-5.16-19
Dieser Beitrag entstand für die Seite stichWORTp des Zentrums für evangelische Predigtkultur.
Wort
Feuerofen und Löwengrube - Daniel kommt durch alles durch. In der Kinderbibel wird von ihm und seinem spannenden Leben gerne ausführlich und reich bebildert erzählt. Ansonsten ist man sich über seine Bedeutung nicht ganz einig. Zu den Propheten gehört aus Sicht der jüdischen Auslegung eher nicht, seine Prophezeiungen beziehen sich schließlich nur auf die Zukunft und weniger auf die Gegenwart. In dem für den Sonntag Rogate vorgeschlagenen, neu zu erprobenden Text finden wir Daniel sehr auf dem Boden der Tatsachen wieder. Die Frage nach der Dauer des babylonischen Exils treibt ihn um. Sie bleibt für ihn unbeantwortet. Die Datierung in das erste Jahr der Herrschaft des Darius (Dan 9,1) ist, so wissen wir heute, reine Fiktion. Neu ist bei Daniel die Übertragung eines „Tun-Ergehen-Zusammenhangs“ auf das Verhältnis zwischen Gott und seinem Volk. Was im Dekalog in Ex 20, 5f. bereits anklingt, hat sich in der Wirklichkeit des babylonischen Exils (der erzählten Zeit des Danielbuchs) schmerzhaft erfüllt.
Und dennoch hält Daniel fest an der Zuwendung Gottes zu seinem Volk. Sein Buch ist ein „Trostbuch für Menschen, die in ihrer Existenz und Identität bedroht waren“[1]. Und ein Beispiel für die verändernde Kraft des Gebets. Gott bleibt gerade in der Anerkenntnis individuellen und kollektiven Versagens ein Gegenüber für Daniel. Sein Gebet ist nicht „Ersatz eigenen Handelns, sondern das Bewusstsein des Anerkanntseins, das zu einer neuen, erweiterten Sicht der Möglichkeiten des eigenen Handelns führt“ (Dietrich Korsch).
Im Zusammenhang mit der Erinnerung an das Ende des 2. Weltkriegs vor siebzig Jahren, die an diesem Sonntag ein Thema sein sollte, bekommen die Erwähnung der siebzig Jahre im Kontext des Predigttextes und vor allem die Bedeutung des Eingeständnisses eigener Schuld ihre aktuelle Bedeutung für die Gegenwart.
Gerade angesichts der Diskussionen, etwa um das Schicksal der Flüchtlinge und Vertriebenen, aber auch um die „Kriegskinder“ und –enkel darf bei allem Gewinn, den dieser Zugang für die Vergangenheitsbewältigung bedeutet, nicht das Thema der individuellen und kollektiven Schuld aus dem Blick geraten. Es waren „unsere Mütter, unsere Väter“ (so der Titel des TV-Mehrteilers von 2013), die sich durch ihr Tun oder Lassen (mit)schuldig machten. In diesem Bewusstsein lässt sich Daniels Gebet an diesem Sonntag als ein Bußgebet mitsprechen.
Stich
Bleibtreu heißt die Straße
Vor fast vierzig Jahren wohnte ich hier;
... Zupft mich was am Ärmel, wenn ich
So für mich hin den Kurfürstendamm entlang
Schlendere - heißt wohl das Wort.
Und nichts zu suchen, das war mein Sinn.
Und immer wieder das Gezupfe.
Sei doch vernünftig, sage ich zu ihr.
Vierzig Jahre! Ich bin es nicht mehr.
Vierzig Jahre. Wie oft haben meine Zellen
Sich erneuert inzwischen
In der Fremde, im Exil.
New York, Ninety-Sixth Street und Central Park,
Minetta Street in Greenwich Village.
Und Zürich und Hollywood. Und dann noch Jerusalem.
Was willst du von mir, Bleibtreu?
Ja, ich weiß, Nein, ich vergaß nichts.
Hier war mein Glück zu Hause. Und meine Not.
Hier kam mein Kind zur Welt. Und mußte fort.
Hier besuchten mich meine Freunde
Und die Gestapo.
Nachts hörte man die Stadtbahnzüge
Und das Horst-Wessel-Lied aus der Kneipe nebenan.
Was blieb davon?
Die rosa Petunien auf dem Balkon.
Der kleine Schreibwarenladen.
Und eine alte Wunde, unvernarbt.
(aus: Mascha Kaleko: In meinen Träumen läutet es Sturm, München 1997, S. 186)
Predigt
Es ist ein Dienstag und die Sonne scheint. Die Bäume blühen wie zum Trotz, wie gegen alle Zerstörung. Sie blühen in den Parks der Städte oder in dem, was von den Parks übriggeblieben ist. Es blüht auch in den Vorgärten der Häuser, die stehengeblieben sind. Junges Grün am Straßenrand überwächst die Spuren, die Wagen und Menschen zurückgelassen haben auf ihrer Flucht. Im Graben, da, wo sie vor wenigen Monaten noch Schutz gesucht haben vor den Fliegern, antwortet eine Löwenzahnblüte der Sonne.
Die scheint auch auf die bleichen Gefangenen. Aus dem Dunkel der Baracken sind sie ans Licht gekommen. Die Sonne scheint auf die Soldaten. Sie scheint gleichmäßig auf die Sieger und die Verlierer, auf das Land, auf seine Städte und Dörfer, auf die Trümmer und auf alles, was unversehrt blieb. Es ist ein Dienstag im Mai. Und der Mai tut, was nur der Mai kann. Er überblüht einfach alles. Alle Zerstörung, all das Leid, den Tod. Die Sonne scheint. Es ist still. Sie sagen, der Krieg ist zu Ende. Heute.
Siebzig Jahre sind vergangen seit diesem Mai, als der Krieg zu Ende gewesen sein soll in unserem Land. Wir erinnern uns daran in diesen Tagen. Und wir wissen heute, wie schwer es ist, zu sagen, wann der Krieg wirklich zu Ende war. Als der Mann, der Vater heimkehrte aus der Gefangenschaft? Oder als der Brief mit der Nachricht kam, dass er nie mehr wiederkommen würde? War der Krieg zu Ende, als die Flüchtlinge aus den Baracken am Rande der Stadt in das neu gebaute Viertel einziehen konnten, in dem wenigstens die Namen der Straßen nach Heimat klangen? Oder war er erst zu Ende, als die Kasernen sich leerten und die Sieger sich zurückzogen aus dem Land, von dem der Krieg ausgegangen war? Als die große Wunde anfing zu heilen und das geteilte Land begann, wieder ein Land zu werden?
Wann ist ein Krieg zu Ende? Wenn niemand mehr lebt, der dabei gewesen ist, weder die Täter noch die Opfer, wenn die Zeitzeugen gestorben sind? Auch das wissen wir heute: Der Krieg lebte weiter in ihnen, ein Leben lang. Die wenigsten haben es geschafft, davon zu erzählen. Und viele erleben im Alter, dass der Krieg zurück kommt. Oft dann, wenn der Verstand seine Kraft verloren hat, wenn nur noch Gefühle da sind. Dann kommen die Angst, der Schmerz und die Schuld.
Und wir wissen noch mehr: Der Krieg lebt weiter auch noch in den Kindern und den Enkel, in den Generationen, die geboren wurden, als längst schon wieder Frieden herrschte. Auch wenn der Krieg für sie keine bewusste Erinnerung mehr ist, hat er doch seinen Platz in ihren Herzen und Seelen. Er bestimmt ihr Verhalten, ihren Umgang mit anderen Menschen und mit sich selbst. Schutt und Trümmer, noch siebzig Jahre danach, nie weggeräumt. Manchmal wie überwachsen, manchmal offen und sichtbar. Wann ist der Krieg zu Ende?
Im ersten Jahr des Darius, des Sohnes des Ahasveros, aus dem Stamm der Meder, der über das Reich der Chaldäer König wurde, in diesem ersten Jahr seiner Herrschaft achtete ich, Daniel, in den Büchern auf die Zahl der Jahre, von denen der HERR geredet hatte zum Propheten Jeremia, dass nämlich Jerusalem siebzig Jahre wüst liegen sollte. Und ich kehrte mich zu Gott, dem Herrn, um zu beten und zu flehen unter Fasten und in Sack und Asche. (Dan 9, 1-3)
Wann ist es zu Ende? Wann ist es vorbei? Diese Frage stellt sich auch Daniel. Er ist einer von denen, die durch Krieg und Gewaltherrschaft ihre Heimat verloren haben und jetzt in der Fremde leben müssen. Es geht ihm nicht schlecht dabei, denn er hat sich unter den fremden Herrschern eine gute Position verschaffen können. Aber wie alle anderen um ihn herum lebt er mit einer Frage im Herzen: Wann ist es zu Ende? Wann können wir wieder nach Hause?
Siebzig Jahre sollte Jerusalem wüst liegen, ein Trümmerhaufen sein, aber dann wäre die Strafe vorbei. Dann wäre es zu Ende, dann könnten sie zurück. So steht es doch in den Schriften, bei Jeremia, dem Propheten. So hat es Gott doch versprochen.
Im ersten Jahr des Königs Darius, des Sohnes Ahasveros, der über das Reich der Chaldäer Herrscher wurde, in diesem ersten Jahr seiner Herrschaft, war es. Da soll Daniel überlegt haben, ob es wohl schon soweit ist. Und viele haben das gelesen und angefangen zu rechnen, ob das wohl sein kann, ob das passt zum Jahr der Rückkehr des Volkes Israel aus der babylonischen Gefangenschaft. Ob Gott wirklich handelt in unserer Menschengeschichte?
In diesem ersten Jahr, das hört sich so genau an. Aber heute wissen wir: Dieses Datum gibt es gar nicht, auch keinen König Darius aus dem Stamm der Meder, nichts davon. Es gibt den Zeitpunkt gar nicht, von dem aus man anfangen könnte zu rechnen. Die siebzig Jahre lassen sich in keinen Kalender eintragen. Und deswegen gibt auch kein Kalender eine Antwort auf die Frage, wann es vorbei ist. Damals nicht und heute nicht. Wir sehen nur: Es ist Zeit vergangen, nicht nur vierzig, sondern siebzig Jahre. Die Trümmer wurden weggeräumt, sie sind überbaut und überwachsen. Und sie sind doch nicht verschwunden, nicht aus dem Bild unserer Städte und nicht aus unseren Herzen und Seelen.
In seiner berühmten Rede zum 40. Jahrestag des Kriegsendes 1985 hat sich Richardvon Weizsäcker auch gefragt, wann der Krieg zu Ende ist, wie lange es dauert, bis man seine Vergangenheit ehrlich ansehen kann. Er erinnerte in seiner Rede an die biblische Bedeutung der vierzig Jahre. So lange, bis zu diesem 8. Mai 1985 habe es gedauert, bis dieser Tag von den meisten Deutschen als Tag der Befreiung gesehen werden konnte:
„Der 8. Mai war ein Tag der Befreiung. Er hat uns alle befreit von dem menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft. Niemand wird um dieser Befreiung willen vergessen, welche schweren Leiden für viele Menschen mit dem 8. Mai erst begannen und danach folgten. Aber wir dürfen nicht im Ende des Krieges die Ursache für Flucht, Vertreibung und Unfreiheit sehen. Sie liegt vielmehr in seinem Anfang und im Beginn jener Gewaltherrschaft, die zum Krieg führte. (…) Wir haben allen Grund, den 8. Mai 1945 als das Ende eines Irrweges deutscher Geschichte zu erkennen.“
II.
Und ich kehrte mich zu Gott, dem Herrn, um zu beten und zu flehen unter Fasten und in Sack und Asche. Ich betete aber zu dem HERRN, meinem Gott, und bekannte und sprach: Ach, Herr, du großer und heiliger Gott, der du Bund und Gnade bewahrst denen, die dich lieben und deine Gebote halten! Wir haben gesündigt, Unrecht getan, sind gottlos gewesen und abtrünnig geworden; wir sind von deinen Geboten und Rechten abgewichen. (Dan 9, 3-5.)
Daniel weiß nicht, wann es vorbei sein wird. Aber er glaubt, dass Gott der Gleiche bleibt über alle Zeiten. Zu ihm betet er und sein Gebet ist vor allem ein Eingeständnis eigener Verantwortung. Sonst sind am Leiden seines Volkes immer die anderen schuld gewesen, die Feinde, die fremden Herrscher.
Aber jetzt hört Daniel auf damit, anderen die Schuld zu geben. Er sagt: Wir sind es, wir sind von deinen Geboten und Rechten abgewichen. Und jeder, der das liest, weiß sofort, was damit gemeint ist: Die zehn Gebote, das Gesetz der Freiheit, gegeben von Gott, einem eifernden Gott, der die Missetat der Väter heimsucht bis ins dritte und vierte Glied an den Kindern derer, die ihn hassen, aber Barmherzigkeit erweist an vielen tausenden, die Gott lieben und seine Gebote halten. (Ex 20, 5f.)
In seinem Gebet spricht Daniel Gott als den Barmherzigen an. Die Missetat der Väter bleibt darin noch unausgesprochen. Aber jeder weiß, dass es sie gibt, Daniel und sein Volk. Auch noch nach siebzig Jahren wissen das alle.
Wir wissen nach unseren siebzig Jahren viel mehr über die Folgen, die der Krieg bei den Kriegskindern und Kriegsenkeln hinterlassen hat. Viele Menschen haben gelernt, darüber zu sprechen und ihre Gefühle zu zeigen. Sie verdrängen nichts mehr und sehen sich die Trümmer an, die der Krieg in ihrer Familiengeschichte hinterlassen hat. Sie stellen sich ihren Verletzungen, ihrer Angst und ihrem Schmerz.
Aber niemand darf darüber vergessen, dass es neben der Angst und dem Schmerz auch unsere Schuld gibt. Der Krieg kam nicht von irgendwo her. Er kam aus unserem Land. Wir haben gesündigt, Unrecht getan, sind gottlos gewesen und abtrünnig geworden; wir sind von deinen Geboten und Rechten abgewichen. Und darum gibt es diese ganzen Trümmer in unserem Land, in unseren Herzen und Seelen. Bis heute, siebzig Jahre danach.
Unsere Vorfahren haben uns eine schwere Erbschaft hinterlassen, sagt Richard von Weizsäcker. Ein Erbe, das wir annehmen müssen: „Wir alle, ob schuldig oder nicht, ob alt oder jung, müssen die Vergangenheit annehmen. Wir alle sind von ihren Folgen betroffen und für sie in Haftung genommen. Jüngere und Ältere müssen und können sich gegenseitig helfen zu verstehen, warum es lebenswichtig ist, die Erinnerung wachzuhalten. (…) Wer aber vor der Vergangenheit die Augen verschließt, wird blind für die Gegenwart. Wer sich der Unmenschlichkeit nicht erinnern will, der wird wieder anfällig für neue Ansteckungsgefahren.“
III.
Ach Herr, um aller deiner Gerechtigkeit willen wende ab deinen Zorn und Grimm von deiner Stadt Jerusalem und deinem heiligen Berg. Denn wegen unserer Sünden und wegen der Missetaten unserer Väter trägt Jerusalem und dein Volk Schmach bei allen, die um uns her wohnen. Und nun, unser Gott, höre das Gebet deines Knechtes und sein Flehen. Lass leuchten dein Antlitz über dein zerstörtes Heiligtum um deinetwillen, Herr! Neige dein Ohr, mein Gott, und höre, tu deine Augen auf und sieh an unsere Trümmer und die Stadt, die nach deinem Namen genannt ist. (Dan 9, 16-18)
Wann ist der Krieg zu Ende? Nach vierzig Jahren nicht, nach siebzig Jahren nicht. Auch nicht, wenn alle gestorben sind, die damals dabei waren. Der Krieg bleibt in uns. Wir tragen die Schmach auch heute noch, bei allen die um uns wohnen. Aber Gott wendet sich nicht ab von uns, trotz allem.
Sieh an unsere Trümmer, Gott, bittet Daniel. Sieh an unsere Trümmer, Gott, bitte ich. Und hilf uns, dass wir sie selbst ansehen. Damit wir sehen, was gewesen ist vor siebzig Jahren, unsere Angst, unseren Schmerz und unsere Schuld. Dann geht der Krieg zu Ende in unseren Herzen und in unseren Seelen. Dann werden die Trümmer darin endlich überblüht, so wie vor siebzig Jahren im Mai.
Denn wir liegen vor dir mit unserm Gebet und vertrauen nicht auf unsre Gerechtigkeit, sondern auf deine große Barmherzigkeit.
Amen.
[1] Vgl. Markus Witte, Das Danielbuch, in: Jan Chr. Gertz (Hg.), Grundinformation Altes Testament, Göttingen 4. Auflage 2010, 495-514, 506.