Ausdrücklich selber denken - Predigt zu Römer 14,17-19 von Julia Neuschwander
14,17-19

Ausdrücklich selber denken - Predigt zu Römer 14,17-19 von Julia Neuschwander

Liebe Schwestern und Brüder,

ein Vater zog mit seinem Sohn und einem Esel in der Mittagsglut durch die staubigen Gassen von Keshan. Der Vater saß auf dem Esel, den der Junge führte. „Der arme Junge“, sagte da ein Vorübergehender. „Seine kurzen Beinchen versuchen, mit dem Tempo des Esels Schritt zu halten. Wie kann man so faul auf dem Esel herumsitzen, wenn man sieht, dass das kleine Kind sich müde läuft.“ Der Vater nahm sich dies zu Herzen, stieg hinter der nächsten Ecke ab und ließ den Jungen aufsitzen. Gar nicht lange dauerte es, da erhob schon wieder ein Vorübergehender seine Stimme: „ So eine Unverschämtheit. Sitzt doch der kleine Bengel wie ein Sultan auf dem Esel, während sein armer, alter Vater nebenherläuft.“ Dies schmerzte den Jungen und er bat den Vater, sich hinter ihn auf den Esel zu setzen. „Hat man so etwas schon gesehen?“ keifte eine schleierverhangene Frau, „solche Tierquälerei? Dem armen Esel hängt der Rücken durch, und der alte und der junge Nichtsnutz ruhen sich auf ihm aus, als wäre er ein Diwan, die arme Kreatur!“ Die Gescholtenen schauten sich an und stiegen beide, ohne ein Wort zu sagen, vom Esel herunter. Kaum waren sie wenige Schritte neben dem Tier hergegangen, machte sich ein Fremder über sie lustig: „So dumm möchte ich einmal sein! Wozu führt ihr denn den Esel spazieren, wenn er nichts leistet, euch keinen Nutzen bringt und noch nicht einmal einen von euch trägt?“ Der Vater schob dem Esel eine Hand voll Stroh ins Maul und legte seine Hand auf die Schulter seines Sohnes. „Gleichgültig, was wir machen“, sagte er, „es findet sich doch jemand, der damit nicht einverstanden ist. Ich glaube, wir müssen selbst wissen, was wir für richtig halten.“

(Quelle: Nossrat Peseschkian, Der Kaufmann und der Papagei Frankfurt a.M., 1979 – 2001)

Die Geschichte von Nossrat Peseschkian macht Mut zum Selberdenken! Es nicht allen recht machen wollen, denn gleich kommt wieder einer um die Ecke, der eine andere Meinung hat.

Aber wie machen wir es denn nun, fragten die Gemeindeglieder der römischen Gemeinde Paulus. Weiter die jüdischen Reinheitsgebote halten oder nicht? Weiter die jüdischen Feiertage einhalten oder nicht? Frei sein von Geboten und Vorschriften oder sich besser weiter um Gottes Willen daran halten?
Die einen sagten: Das ist das Richtige, das will Gott von uns!
Und die anderen sagten: Nein, Gott will es genau anders herum!
Es gab keinen, der eindeutig sagen konnte, was denn nun genau das Richtige sei. Nicht einmal Paulus.

Paulus plädiert in all den Debatten der aufgeregten Römerinnen und Römer für den jeweils eigenen Weg. Er stellt die jeweils eigene Entscheidung aus Glauben nicht in Frage. Die einen halten sich an die Feiertage, die anderen nicht. Die einen essen (Götzenopfer-)Fleisch, die anderen nicht. Das ist in Ordnung so, sagt er, und macht Mut zum eigenen Standpunkt im Glauben. Zum Selber-Denken und Entscheiden. Denn Grund aller ist der Glaube.
Und er betont: dass jeder und jede nur das tun darf und kann, was er oder sie mit seinem Gewissen und vor Gott vereinbaren kann. Und dann erst, in einem zweiten Schritt, schauen soll, dass er oder sie es dem Bruder oder den Schwestern nicht allzu schwer macht. Indem man zum Beispiel nicht all zu demonstrativ das Fleisch im Beisein des anderen isst, auf das der andere aus Glauben verzichten möchte. Aber dass auch die nicht plötzlich Fleisch isst, weil die anderen das tun, wenn es ihr selbst eigentlich völlig widerstrebt.
Die Christinnen und Christen in Rom waren insgesamt in Aufbruchsstimmung. Gott ist nahe, bald sind die Bedingungen dieser Welt außer Kraft gesetzt, so ihre Überzeugung. Und Gottes Königsherrschaft setzt sich durch. Freiheit von Fremdbestimmung, Freiheit von militärischer Fremdbesatzung, Freiheit von politischen Zwängen ist nahe! Freiheit auch im Glauben und im Leben eines jeden Christenmenschen durch den Heiligen Geist.

Wichtig ist jetzt, sagt Paulus, dass jeder und jede das, was er oder sie tut, ganz bewusst tut und erstmal bei sich bleibt. Und alles aus gutem Gewissen tut. Sagt er und macht damit ausdrücklich Mut zum Bei-Sich-Bleiben, zum Selberdenken im Glauben und zum Selbständig sein. Ausdrücklich!

Heute gibt es immer noch fast genau die gleichen Konflikte wie damals in Rom – bei uns heute in Deutschland in unserem Zusammenleben von evangelischen und katholischen Christinnen und Christen, zwischen Reformierten und Lutheranern, zwischen Muslimen und Christen. Es ist schon verblüffend: Manche Konflikte sind seit zweitausend Jahren sogar genau dieselben geblieben, wie sie Paulus in seinen Briefen beschreibt.

Zum Beispiel die Frage der Verschleierung von Frauen. Die einen Frauen bedecken ihr Haupt aus Ehrfurcht vor Gott. Die anderen Frauen halten eine Verschleierung für ein Sakrileg, weil Gott Männer und Frauen gleich geschaffen hat und die Frauen sich dadurch aus ihrer Sicht freiwillig klein machen.

Wer hat denn jetzt Recht? Wie soll jede weiter ihren Esel gelassen und zufrieden führen können?

Oder welche Vorstellungen wir Christen haben, wie es gottgefällig ist vor Gott zu leben. Die einen glauben, dass ehelos zu leben die richtige Entscheidung ist, angemessen vor Gott zu leben. Die anderen wieder glauben, dass die Ehe die einzige Lebensform ist, die Gott, dem Schöpfergott, wirklich gefällt. Und die Dritten wiederum halten die Frage der eigenen Lebensform für überhaupt gar nicht mehr wichtig, wenn man auf das beginnende Reich Gottes schaut.

Sollen besser beide auf dem Esel reiten, soll der Junge den Esel führen und der Vater reitet, oder sollen sie besser beide nicht auf dem Esel reiten? Was ist am besten?

Die einen glauben, dass man Gott gerade dann die Ehre erweist, wenn man im Gotteshaus in eine Richtung schaut, wenn Frauen und Männer sich nicht ansehen und so nicht von Gott ablenken lassen. Wenn man sich vor Ehrfurcht vor dem Heiligen die Schuhe auszieht und sich vor Gott ehrfürchtig zu Boden wirft.

Wieder andere glauben, dass genau das Sich-gegenseitig-Ansehen im Gotteshaus die einzig richtige Art ist, Gott die Ehre zu erweisen. Sie sitzen im Gottesdienst bewusst gegenüber. Sie sagen: Wenn man sich gegenseitig ansieht, werde deutlich, dass Gott die Menschen als Mann und Frau geschaffen hat und dass man im Angesicht des anderen und der anderen Gott selbst erkennen kann.

Was ist denn nun richtig? Den Esel alleine führen, zu zweit auf dem Esel reiten oder der Jüngere führt den Älteren oder der Ältere führt den Jüngeren? Oder läuft der Esel lieber allein?

Die einen glauben, dass Musizieren mit lauten Instrumenten und mehrstimmiges Singen und schöne Bilder und Stoffe Gott am besten die Ehre erweisen. Die andern glauben, dass nur die menschliche Stimme, Schriftzeichen und ein leerer, klarer Raum Gottes Heiligkeit angemessen ist.

Die einen glauben, dass es Gottes Heiligkeit entspricht, wenn wir im Gotteshaus selbst nicht essen. Andere glauben, dass es Gottes Heiligkeit dann entspricht, wenn wir im Gotteshaus feines, dünnes Oblatenbrot beim Abendmahl essen. Dritte wieder glauben, dass es gerade Gottes Heiligkeit mitten unter uns in unserem irdischen Leben entspricht, wenn wir frisches Brot miteinander brechen und Wein beim Abendmahl zu uns nehmen.

Auf dem Esel, neben dem Esel, alleine oder zu zweit? Wie essen und trinken wir denn am besten, damit es Gott gefällt?

Ist das Reich Gottes nicht mehr als Essen und Trinken? Was bedeutet es, dass das Gottesreich Gerechtigkeit und Friede und Freude im Heiligen Geist ist?

Wir merken: wir sind immer noch wie die Römer kurz davor. Das Reich Gottes ist nahe, aber es ist noch nicht ganz da. Wir ahnen, wie es gehen könnte, aber wir wissen es nicht wirklich. Wir springen und springen immer wieder über unseren Schatten – mal mehr, mal weniger gerne – immer um des anderen, um der anderen willen. Verschleierung oder nicht Verschleierung, sich im Gottesdienst ansehen oder sich nicht ansehen – vieles ist vielleicht völlig egal angesichts des anbrechenden Reiches Gottes und ich kann meinen Esel so oder so führen. Gleichzeitig versuche ich aber auch, in allem mich selbst und meinen eigenen Glauben nicht zu verlieren.

Der Glaube, von dem Paulus spricht, ist ein Glaube, der erst einmal danach fragt, was ich mir selbst schulde. Was ich persönlich denn glaube, wie ich persönlich meinen Glauben zum Ausdruck bringe und welche Konsequenzen dies für mein Leben hat. Das gilt es erst einmal heraus zu finden. Denn bei aller Liebe für den anderen, bei allem Verständnis für den Fremden, bei aller Neugier, bei allem Interesse für den anderen, bei allem Einfühlungsvermögen für die andere und bei aller Geduld geht es darum, dass ich mir erst einmal selbst treu bleiben kann. Dass ich als Christin meinen Glauben, den ich habe, bei mir selbst und vor Gott behalten kann. Dass ich mich auf mich selbst und meine Überzeugungen und Werten als Christin konzentriere.

Und dass ich mich damit dann aber auch als nächsten Schritt frage, was ich dem anderen schulde. Wie ich meinen Mitmenschen mit meinem Glauben und meinen Überzeugungen angemessen begegne. Wie das genau in den Zehn Geboten gemeint ist und wie das gemeint ist, dass wir Gott lieben sollen und unseren Mitmenschen genauso wie uns selbst.

Für mich gibt es tatsächlich ein paar Überzeugungen, die ich – egal, in welcher Situation ich mich befinde – niemals aufgeben möchte.
Mir ist wirklich absolut wichtig: die Gleichberechtigung von Mann und Frau, von Mädchen und Jungen, egal, aus welchem Kulturkreis sie stammen.
Wenn ich irgendwo mit bekomme, dass Mädchen abgewertet werden und schlechtere Chancen als Jungen haben, bin ich sofort alarmiert. Ich rege mich sofort auf und spreche das direkt an.
Außerdem bin ich absolut kompromisslos gegen Gewalt, gegen Gewalt in der Partnerschaft oder gegenüber Kindern. Das kann und möchte ich nicht dulden. Diese Überzeugung werde ich niemals aufgeben, egal, mit wem ich in welcher Gemeinschaft zusammen leben werde. In welcher Lebensgemeinschaft auch immer ich leben werde, in welcher christlichen Gemeinde, in welcher Stadt, in welchem Bundesland oder in welchem Land auch immer.

Gibt es für Euch auch so etwas, was für Euch unaufgebbar ist aus Überzeugung? Was mit Eurem Glauben an Gott zu tun hat? Etwas, das Euch richtig an die Substanz geht, wenn hier Eure Überzeugungen verletzt werden? Dann solltet Ihr hier auch deutlich den Mund aufmachen, finde ich.
Wenn Gewalt und Missachtung um sich greifen, sollten wir laut und deutlich sagen, was hier nicht in Ordnung ist. Dann ist das die angemessene Form, dem eigenen Mitmenschen in Liebe zu begegnen. Dann sollten wir nicht mehr länger verständnisvoll, neugierig, interessiert und voller Einfühlungsvermögen für den anderen sein, sondern als Christen und Christinnen laut und deutlich unsere Meinung sagen. Laut und deutlich. Ausdrücklich. Egal, wer da uns da gegenüber steht.

Wenn wir nicht nur diese Stunde heute morgen am Sonntag als Gottesdienst verstehen, sondern unser ganzes Leben, dann hört die Suche nach Gottes Willen auf der Kirchenschwelle nicht auf. Dann suchen wir nicht nur sonntags nach Gottes Willen, sondern jeden Tag. In dem Umfeld, in dem wir uns bewegen. Als Radfahrer, als Bahnfahrerin, als Schnellrestaurantgast, als Konzertbesucherin, als Spaziergängerin und als Festbesucher. Dann führen wir unseren Esel gelassen und sicher durchs Leben, ganz bei uns – einzeln oder zu zweit. Dann bleiben wir bei unseren Überzeugungen auf dem Weg und auf die Weise, für die wir uns selbst entschieden haben. Im eigenen Tempo und voller Zuversicht und Klarheit. Und auch in aller Deutlichkeit. Was immer auch andere dazu sagen. Mein Glaube ist: Gott ist nicht fern, sondern nahe. Bald sind die Bedingungen dieser Welt außer Kraft gesetzt und Gottes Königsherrschaft setzt sich durch. Freiheit von Fremdbestimmung, Freiheit von Gewalt, Freiheit auch im Glauben und im ganz persönlichen Leben eines jeden Christenmenschen durch den Heiligen Geist!

In der Geschichte von Nossrat Peseschkian legt der Vater am Schluss seine Hand auf die Schulter seines Sohnes. „Gleichgültig, was wir machten.“ Sagte er zu seinem Sohn, „es findet sich doch jemand, der nicht damit einverstanden ist. Ich glaube, wir müssen selbst wissen, was wir für richtig halten.“ Und damit schob der Vater dem Esel eine Hand voll Stroh ins Maul.
Amen.