Barmherzig sein, weil Gott barmherzig ist? - Predigt zu Lukas 6,36-42 von Paul Geiß
6,36-42

Barmherzig sein, weil Gott barmherzig ist? - Predigt zu Lukas 6,36-42 von Paul Geiß

Barmherzig sein, weil Gott barmherzig ist?

Jesus spricht in der Feldrede des Lukas:

Lk 6, 36 Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist.
37 Und richtet nicht, so werdet ihr auch nicht gerichtet. Verdammt nicht, so werdet ihr nicht verdammt. Vergebt, so wird euch vergeben.
38 Gebt, so wird euch gegeben. Ein volles, gedrücktes, gerütteltes und überfließendes Maß wird man in euren Schoß geben; denn eben mit dem Maß, mit dem ihr messt, wird man euch wieder messen.
39 Er sagte ihnen aber auch ein Gleichnis: Kann auch ein Blinder einem Blinden den Weg weisen? Werden sie nicht alle beide in die Grube fallen?
40 Der Jünger steht nicht über dem Meister; wenn er vollkommen ist, so ist er wie sein Meister.
41 Was siehst du aber den Splitter in deines Bruders Auge und den Balken in deinem Auge nimmst du nicht wahr?
42 Wie kannst du sagen zu deinem Bruder: Halt still, Bruder, ich will den Splitter aus deinem Auge ziehen, und du siehst selbst nicht den Balken in deinem Auge? Du Heuchler, zieh zuerst den Balken aus deinem Auge und sieh dann zu, dass du den Splitter aus deines Bruders Auge ziehst!

Liebe Gemeinde,

gerade hat Jesus seine Predigttätigkeit in Galiläa, ja in ganz Palästina begonnen. Er wurde von Johannes getauft, er hat seinen Auftritt in der heimatlichen Synagoge in Nazareth gehabt, die ersten Menschen mit seiner Predigt verstört, andere begeistert. Er hat erste Heilungen an Kranken vorgenommen. Gerade hat Jesus die zwölf Jünger ausgesucht, da schwingt er sich zu seiner ersten großen Predigt auf, der berühmten Feldrede, die Lukas in seinem Evangelium notiert hat.

Seine Jünger sind um ihn versammelt, viele Menschen sind von nah und fern gekommen,  um ihn zu erleben, sein Ruf ist schon weit ins Land gedrungen. Und jetzt diese Rede.

Überschrift Barmherzigkeit

Unter der Überschrift Barmherzigkeit fasst Jesus Lebensregeln zusammen, die auf der Grundlage beruhen: Seid barmherzig, wie auch Euer Vater barmherzig ist.

Barmherzigkeit als Grundlage des Zusammenlebens?

- Diese Regel Jesu will verstanden werden,
- sie soll kritisch befragt werden, und das soll
- hinführen zur eigenen Aufgabe, ja Lebensaufgabe in den ethischen Wirren der heutigen Zeit.

I. Wie kann man die Rede Jesu und seine Lebensregeln verstehen?

In der Feldrede sind Lebensregeln angesprochen, allgemeingültige Regeln, die das Zusammenleben verbessern, Regeln zur Verbesserung der eigenen Wahrnehmung, einfach Regeln zum besseren Umgang mit Gott, mit den Mitmenschen und mit uns selbst.

Die Lebensregeln sind Sprichwörter geworden, die sogar wie das Gleichnis vom Splitter im Auge des Nächsten und vom Balken im eigenen Auge den Weg in unsere Alltagssprache gefunden haben.

Die kurz zuvor in Vers 31 beschriebene Goldene Regel: „Wie ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen, so tut ihnen auch!“ hat der große Philosoph der Aufklärung Immanuel Kant im 18. Jahrhundert mit einer ganzen Philosophie geadelt, dem Idealismus auf der Basis des berühmten kategorischen Imperativs.

Richtet nicht, verdammt nicht andere, vergebt, gebt reichlich. Das bezieht sich auf uns, die wir uns oft und schnell Urteile anmaßen, die uns nicht zustehen und die wir oft nicht einmal selbstkritisch prüfen.

Psychologen sagen, dass oft ein Blick genügt um einen Mitmenschen sympathisch oder unsympathisch zu finden, noch ohne mit ihm oder mit ihr ein längeres Gespräch geführt zu haben. Anscheinend sind wir rasch im Beurteilen, rasch auch im Verurteilen.

Ein schlimmes Beispiel haben die vergangenen Monate und Wochen gezeigt:

Eine Studentin versucht junge Mädchen zu schützen, die nach ihrer Wahrnehmung von jungen Männern bedrängt werden. Die jungen Männer schimpfen auf die Studentin und ihre Freundinnen ein, später versetzt ein junger Mann ihr einen Schlag, sie fällt hin, unglücklich auf ihren Kopf, sie fällt in ein Koma und stirbt kurze Zeit darauf. Für einen Juristen Mord, Totschlag oder Körperverletzung mit Todesfolge.

Die öffentliche Meinung ist sich sehr rasch einig: Das Mädchen musste ihre Zivilcourage mit dem Tod bezahlen. Es war Mord aus Hass.

In der Gerichtsverhandlung stellt sich aber heraus, dass die Studentin mit ihren Freundinnen und die Jungen schon länger mit einander im Streit lagen, Beschimpfungen und Beleidigungen übelster Art waren hin und her geflogen und der Streit eskalierte schließlich in der verhängnisvollen Ohrfeige.

Die Lage war also nicht so eindeutig, das klar war, wer die Guten waren und wer die Bösen.

Erst eine sorgfältige Gerichtsverhandlung warf ein anderes Licht auf die scheinbar klare Sachlage.

Die Mahnung von Jesus hat also ihren Grund. Wenn wir vorschnell urteilen, kann uns das gleiche auch von unseren Mitmenschen geschehen.

Jesus mahnt zur Barmherzigkeit, zum Vergeben und zum Geben, zum freigebig sein.

Er warnt vor Hochmut und Heuchelei, auch davor, dass man sich schon viel zu rasch für klüger hält als ein Lehrer, als ein Meister, als ein lebenserfahrener Mensch, der seine Erfahrungen weitergibt. Goethe hat das in seinem Gedicht „Der Zauberlehrling“ drastisch beschrieben.

Es geht um ein gutes geregeltes Zusammenleben auf der Basis der Barmherzigkeit.

Diese Gedanken öffnen Wege zum Verständnis dessen, was Jesus sagen will für seine Jünger, für seine Mitmenschen, für seinen Auftrag im Namen Gottes.

II. Diese Regeln muss man kritisch befragen!

All das ist aber schneller gesagt als umgesetzt. Am liebsten würde ich jetzt mit Jesus diskutieren, ihm meine Erfahrung mitteilen und dazu seine Meinung hören, ich will seine Regeln doch kritisch befragen:

Wenn man immer nachgibt, wenn man  immer reichlich gibt, wenn man versucht barmherzig zu sein, dann erlebt man auf diesem Wege manchmal Schlimmes. Man wird ausgenutzt, ausgelacht, gemobbt, nicht ernst genommen, man wird mit seiner Meinung übergangen.

Im europäischen und im globalen Umfeld erleben wir immer wieder, dass ein Land, das sich nicht wehren kann, überrollt wird oder angegriffen, Israel annektiert seit vielen Jahrzehnten Teile von Palästina gegen entsprechende Resolutionen der vereinten Nationen und beutet Palästina wirtschaftlich aus, es gibt jetzt sogar Boykottbewegungen dagegen.

Russland annektiert Teile der Ukraine, von Georgien und Moldawien. Sogenannte Gotteskrieger terrorisieren ganze Länder und Landstriche, besetzen sie, ermorden, vertreiben und verschleppen die angestammte Bevölkerung. Der Terror wird zur unterschwelligen Gefahr für unser Zusammenleben und die Staaten versuchen sich mit überbordender Überwachung der Bürger zu wehren. Angst und Misstrauen regiert, nicht Vernunft und Ausgleich auf der Basis des Menschen- und Staatenwohls für alle.

Staaten oder die Völkergemeinschaften wehren sich auf unterschiedliche Weise. Vorschnelle Verurteilungen in der öffentlichen Meinung bedürfen der sachgerechten Aufklärung. Alles barmherzig zuzudecken, das ermuntert die Gegner und Feinde doch nur und ob man sich immer auf Gottes Barmherzigkeit verlassen kann, das stellen viele in Frage. Mit dem Guten, das ich tun will, gebe ich zugleich dem Bösen Raum, ermuntere ich manchmal sogar die, die finstere Absichten hegen, sie auch umzusetzen. Es gibt offenbar keine klare Lösung in der Auseinandersetzung zwischen Gut und Böse, zwischen richtig und falsch. Wenn ich gegen meine Feinde Liebe übe, verkenne ich, dass in mir auch Zorn und Hass brodelt gegenüber so viel Ungerechtigkeit, Gemeinheit und Bosheit.

Eduard Mörike hat das in einer eindrucksvollen Übersetzung einer Sentenz des römischen Dichters Catull so formuliert:

Hassen und Lieben zugleich muss ich. – Wie das? – Wenn ichs wüsste!

Aber ich fühls, und das Herz   möchte zerreißen in mir.

Solche Lebensregeln, wie Jesus sie formuliert, müssen immer wieder kritisch befragt werden. Gelten sie überhaupt, gelten Sie in jedem Falle, oder muss man Ausnahmen zulassen? Kann ich ehrlichen Gemütes vergeben, wenn mir Unrecht getan wurde? Der fast zu einem Sprichwort gewordene Satz in solcher Situation wird mir als Pfarrer oft gesagt: Vergeben kann ich wohl, vergessen nicht. Der Stachel einer Verletzung, eines Traumas, einer bösen Tat sitzt tief.

Der Zwiespalt bleibt und die theologische Diskussion über die Gültigkeit von Bergpredigt und Feldrede beweist das.

III  Was ist deshalb die Aufgabe des  Christenmenschen in unserer Zeit?

Was ist dann die Aufgabe von uns Christenmenschen in unserer Zeit?

Ich möchte mich so gerne auf die Barmherzigkeit Gottes verlassen, ich möchte blind vertrauen lernen, ich möchte aus vollem Herzen geben, aber kann ich das in jedem Falle tun? Muss ich mich nicht anderweitig absichern durch Kontrolle, durch Verträge, durch eine zweite Meinung, damit ich nicht vorschnell urteile? Und muss ich mich nicht besser im Griff haben, bevor ich urteile?

Die Fragen bleiben und Jesus ermuntert mich zu vernünftigen Lebensregeln. Ob sie mir helfen, weiß ich nicht im Voraus, sie umzusetzen, ist ein Wagnis, das ich manchmal eingehe, oft eher nicht, wenn ich ehrlich bin, weil ich mir das nicht zutraue.

Immanuel Kant, der berühmte Philosoph des 18. Jahrhunderts aus Königsberg hat in seiner Schrift „Vom ewigen Frieden“, für jeden Menschen und auch für die Staaten und Staatsregierungen die friedenschaffende und friedenstiftende Forderung aufgestellt: Alle Politik, alles Handeln muss sich vor dem Recht beugen. Es gibt einen universalen Anspruch auf Frieden, Gerechtigkeit und Lebensschutz. Er vertrat damals schon so etwas wie eine Weltinnenpolitik, die das Wohl aller auf der Basis des Rechts im Auge hatte.

Aber Recht wird gebeugt, die Macht des Stärkeren scheint zu siegen, die Schere zwischen arm und reich öffnet sich immer mehr.

Deshalb scheint es mir, als ob wir von der Vision des alten Philosophen des Idealismus weiter entfernt sind als je und dass die Konflikte, in denen sich jeder Mensch und viele Staaten vorfinden, eher zunehmen als abnehmen.

Ich lebe in einem Zwiespalt zwischen Hoffen und Enttäuschung. Aus diesem Zwiespalt können mich nur mein Glaube an Gottes Liebe und Barmherzigkeit befreien, manchmal auch gegen den Augenschein, aber ich darf mich auch ebenso mutig zu meiner Unfähigkeit bekennen, so zu lieben, zu geben und zu vergeben, wie Jesus es gefordert hat.

Also lasse ich Kant und den kategorischen Imperativ beiseite und versuche mich selbst ganz auf die Barmherzigkeit Gottes zu werfen mit der Bitte: Herr, erbarme Dich unser.

Vernunft scheint die Welt nicht zu regieren, Gottes Friede kann von uns nicht erreicht werden, es ist Seine Aufgabe.

Weil wir Menschen nicht so barmherzig sind, wie Gott es will und fordert und wie Jesus Christus es uns ans Herz legt, kann ich mich nur auf seine Gnade verlassen, auf seinen Frieden, der höher ist als alle Vernunft.

Aus dieser Hingabe an Gottes Barmherzigkeit, an die Nachfolge Jesu und an die Kraft des Heiligen Geistes erwächst vielleicht auch die persönliche Kraft, so zu handeln, wie Jesus es in der Feldrede empfiehlt.

Ob uns das weiterhilft? Die Antwort kann trotz allem nur im Wagnis des Glaubens liegen, im Glauben der geglaubt wird und im von Gott geschenkten Glauben, durch den geglaubt wird.

Liedvorschlag: EG 360, EG 390, 1, 5, 6

 

Perikope
Datum 28.06.2015
Bibelbuch: Lukas
Kapitel / Verse: 6,36-42
Wochenlied: 428 495
Wochenspruch: Gal 6,2