Liebe Gemeinde,
wie gut ist es, weinen zu können. Tränen der Verzweiflung, Tränen der Trauer, Tränen der Wut, der Fassungslosigkeit wollen geweint werden. Auch Tränen der Einsamkeit, des Schmerzes, der Ohnmacht.
Heute denken wir an die vielen, die leben wollten. Leben, lieben, das Leben teilen, sich am Leben erfreuen und am Leben leiden.
Heute denken wir an die, die nicht mehr leben wollten, nicht mehr lieben, nicht mehr leiden, nichts mehr fühlen.
Heute denken wir an die Menschen, die nicht mehr leben konnten. Die gestorben sind, bevor das Leben richtig begonnen hat. Und die gestorben sind, weil sie in die Jahre gekommen sind.
Heute denken wir an unsere Toten.
Wie gut ist es, weinen zu können. Und sie sind kostbar, die Tränen. Und wollen geweint werden. Wer kann Tränen zurückhalten?
Unsere Tränen erzählen Geschichten. Geschichten gemeinsam gelebten Lebens, Geschichten von Träumen und Zukunft, Geschichten von Hoffnung und Freude, Geschichten von Schmerz und Verzweiflung. Unsere Tränen stellen Fragen. Warum? Warum ich? Warum jetzt? Und mit den Tränen fließen auch die Worte, die Fragen, die Gefühle. Und irgendwann gehen die Tränen aus. Oder werden getrocknet, zärtlich durch die Hand eines Menschen, der versteht. Wie kostbar sind solche Begegnungen mit mir selbst, mit meinem Schmerz. Und mit Menschen die mich trösten.
Wie gut ist es, diese Tränen nicht allein zu weinen.
Gott, sammle meinen Tränen in deinen Krug, so betet ein Mensch im Psalm (Ps 56,9). Gott, sammle meine Tränen in deinen Krug. Wer so spricht, ahnt, dass kein Mensch die tiefe Trauer heilen kann. Dass kein Mensch die Lücke schließen kann, die der Tod hinterlässt.
Gott, sammle meine Tränen in deinem Krug.
Keine Träne soll verloren gehen. Auch die kleinste Träne, die ich geweint habe, die ich noch weinen muss oder schon gar nicht mehr weinen kann – Gott soll sie sammeln, Gott soll unser Weinen zu seinem machen, unsere Tränen zu seinen Tränen. Unsere Tränen sollen nicht verloren gehen. Gott soll sie sammeln.
Wie gut ist es, diese Tränen nicht allein zu weinen.
Einmal kommt die Zeit, da wird Gott alle Tränen abwischen.
Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid noch Schmerz wird mehr sein, denn das Erste ist vergangen. (Off 21,4)
Noch unbegreiflich, aber vielleicht zu ahnen: Es gibt eine Zeit, in der der Schmerz aufhören wird. In der Ruhe einkehrt. Und Frieden. Alle Ohnmacht hat ein Ende, alles Tun, alles Fragen und Weinen.
Es gibt eine Zeit nach dem Schmerz, eine Zeit nach der Trauer, eine Zeit nach den Tränen. Für manche von uns immer noch schwer vorstellbar. Andere spüren es schon, wenn ein Jahr vergangen ist, oder zwei. Die Tränen kommen seltener, sie gehören in den Alltag, sie kommen, und sie gehen auch. Und manche Menschen spüren Dankbarkeit. Für das, was war. Für das, was zu Ende gehen musste. Für das, was so nicht weitergehen konnte. Dankbarkeit für gemeinsame, kostbare Zeit.
Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid noch Schmerz wird mehr sein, denn das Erste ist vergangen.
Das sagt die Bibel, in der großartigen Vision des Sehers Johannes. Ganz hinten steht es, im letzten Buch der Bibel. Mit starken gewaltigen Bildern und voller Poesie: Ein neuer Himmel, eine neue Erde, das neue Jerusalem, und Gott wohnt bei den Menschen. Gott an der Seite der Menschen. Gott der zärtlich ihre Tränen abwischt, kein Tod mehr, kein Leid noch Geschrei noch Schmerz mehr. Gott macht alles neu.
Johannes Brahms komponierte in seinem Deutschen Requiem eine ergreifende Fuge zu den Worten: „Die Erlösten des Herrn werden wiederkommen und gen Zion kommen mit Jauchzen; Freude, ewige Freude wird über ihrem Haupte sein; Freude und Wonne werden sie ergreifen und Schmerz und Seufzen wird weg müssen.“ Brahms‘ Musik kann uns in den tröstlichen Bann einer Verheißung ziehen, die Neues, ganz Neues verspricht.
Gott sagt: Siehe, ich mache alles neu.(Off 21,5b)
Was aber wird bis dahin? Was wird mit den Tränen, die noch geweint werden müssen in dunklen Nächten? Was ist mit den Tränen die noch geweint werden wollen? Wer könnte sie zurückhalten?
Was wird bis dahin? Gehen wir auf den Friedhof und an die Orte unserer Erinnerung. Lassen wir einander teilhaben an der Traurigkeit. Achten wir die Tränen derer, die weinen. Teilen wir den Schmerz. Und teilen wir auch die kostbaren Erinnerungen, die uns dankbar machen. Stehen wir beieinander in der Trauer und auch in der Zeit nach der Trauer.
Tränen haben heilende Kraft. Aus Traurigkeit wächst eine neue Energie, dem Leben zugewandt in allem Schmerz. Tränen helfen, loszulassen, was war, und sich dem zu stellen, was kommt.
(Melodie eg 16 im Hintergrund, leise)
(In die Musik hinein sprechen:) Die Nacht ist vorgedrungen, der Tag ist nicht mehr fern; so sei nun Lob gesungen dem hellen Morgenstern! Auch wer zur Nacht geweinet, der stimme froh mit ein. Der Morgenstern bescheinet auch deine Angst und Pein.
Gott will im Dunkel wohnen und hat es doch erhellt. Als wollte er belohnen, so richtet er die Welt. Der sich den Erdkreis baute, der lässt den Sünder nicht. Wer hier dem Sohn vertraute, kommt dort aus dem Gericht. (Jochen Klepper)
(Musik geht zu Ende)
Nach heute kommt morgen. Nach dem Ewigkeitssonntag kommt der Advent. Auf dem Rückweg vom Friedhof gehen wir ins Leben, in unser Leben, das gelebt werden will. Unser Leben, unsere Zeit, unsere Endlichkeit.
„Wer zur Nacht geweinet, der stimme froh mit ein“, dichtet Jochen Klepper, kurz vor seinem Tod. Und wenn uns die Adventslieder in diesem Jahr noch im Halse stecken bleiben, hören wir sie, hören wir hin, wie traurig, wie fröhlich, wie hoffnungsvoll sie klingen.
„Wer zur Nacht geweinet, der stimme froh mit ein.“ Amen.
Inspiriert von einer Predigt zu Psalm 56,9 von Präses Annette Kurschus am 17.4.2015 /Trauerfeier im Kölner Dom)