"Begegnung im Zwischenraum" - Predigt über 4. Mose 6, 22-27 von Monika Waldeck
6,22
Begegnung im Zwischenraum
  
  „Der Herr segne dich und behüte dich; der Herr lasse sein Angesicht leuchten über dir und sei dir gnädig; der Herr hebe sein Angesicht auf dich und gebe dir Frieden.“
  (4. Mose 6,27)
  
  
  
  
  Eine ganze Weile schon begleitet mich das Bild von Hilde Schürk-Frisch.
  „Begegnung“  hat sie es genannt.
  
  Mal bleibe ich an der einen Gestalt hängen, mal an der anderen, mal bewege ich mich im leeren Raum zwischen beiden.
  Wobei, nein: leer ist er nicht, im Gegenteil. Er entsteht, so scheint es mir, durch die Intensität des Blickes zwischen beiden. Je länger ich schaue, desto mehr scheint er zu vibrieren.
  
  Schau mich an, so scheint der Mensch zu sagen.
  Ich wende mich dir zu. Ich suche dich, ich suche dich wie eine Wärmequelle, einen Atemzug.
  Ich komme ohne Verkleidung, ohne Schutz, ohne etwas zu wissen, ich komme als die Frage, die ich mir selber bin.
  
  Und der andere, er sieht.
  Mit großen offenen Augen, warm, lebendig, wach, interessiert. Er scheint zu lächeln. Christus mit der Dornenkrone.
  Als ob er sich vom Kreuz herabbeugt, sein ausgezehrtes Gesicht dem Menschen zuwendet.
  Dieser Gott hier, dieser Christus, nimmt wahr.
  Raum gebend, Raum eröffnend.
  Er vermittelt das Gefühl:
  Ich sehe dich. Ich spüre, was du fühlst.
  Trau dich, erzähle, werde du selbst.
  
  Fremd ist er mir nicht, dieser gefüllte, lebendige Raum zwischen den Zweien.
  Ich kenne ihn, z.B. aus einem Gespräch mit einem vertrauten Menschen, in dem wir uns nicht auf das beschränken müssen, was wir von uns schon wissen.
  Uns nicht auf die abgegriffenen Bilder vom anderen verkürzen, sondern uns trauen, aus dem Bilderrahmen herauszutreten und einen Schritt ins Offene, Unbekannte zu wagen.
  
  Ich kenne diesen Raum aus Seelsorgegesprächen mit einem bis dahin unbekannten Menschen.
  Vor kurzem z.B., als ein Mann mir erzählt, wie er nach dem Tod seiner Frau das Kochen für sich entdeckt hat.
  Wie er experimentiert mit Gemüsesorten, die er bisher noch nicht kannte.
  Wie er eintaucht in die Welt der Gewürze und Kräuter, und wie er überraschende Geschmackserlebnisse damit macht.
  Wie ihm das Herz aufgeht, wenn seine Kinder und Freunde ihre Teller leeren und sein Essen genießen.
  Wie er Lust hat, weiter auszuprobieren, wohin ihn seine Kochkunst noch trägt.
  
  In all seiner Trauer hat er einen vitalen Lebenskern in sich gespürt und zum ersten Mal davon erzählt.
  Bisher wagte er das vor andern nicht zu tun und erst recht nicht vor sich selbst, denn es war ihm wie ein Verrat an seiner Frau erschienen, die dieses kleine Glück nicht mehr mit ihm teilen kann.
  Gegenüber mir, einer Fremden, gelingt es ihm, sich zu erzählen, und im Erzählen wird es für ihn und für mich eine in die Welt gesetzte Realität, die uns beide als Veränderte aus dem Gespräch gehen lässt.
  Ich habe hier in manchen Augenblicken die Anwesenheit Gottes gespürt, da, wo wir beide intuitiv verstanden haben, was „hoffen“ bedeutet.
  Nämlich: sich mit seiner verletzten Seele dem offenen Raum der Begegnung auszusetzen.
  
  Davon erzählt auch das Bild von Hilde Schürk-Frisch.
  Im Kontakt des Menschen mit dem verletzten und segnenden Gott eröffnet sich ein Raum, der bisher noch nicht existierte. Ein Zwischen-Raum, ein Raum voller Möglichkeiten, der erfüllt ist von Erkennen und An-Erkennen. Da gibt es kein Bewerten, keine vernichtende Kritik, keine Verurteilung.
  Ein „Lebensermöglichungsraum“.
  
  „Der Herr segne dich und behüte dich; der Herr lasse sein Angesicht leuchten über dir und sei dir gnädig; der Herr hebe sein Angesicht auf dich und gebe dir Frieden.“
  
  Das könnte der zu diesem Bild passende Segen sein.
  Unser Predigttext heute.
  
  Zweimal wird der älteste biblische Segen mit Gottes Angesicht in Verbindung gebracht. Segen hat etwas mit ansehen zu tun.
  
  Uns Menschen ist dieser Blick der Begegnung, des Kontakts schon aus der ganz frühen, vorsprachlichen Zeit unseres Lebens vertraut.
  Wie uns die erste Pflegeperson, meistens die Mutter, angeschaut hat, das hat unsere Erfahrung damit geprägt, ob uns die Welt freundlich oder abweisend gegenübertritt.
  
  Der Psychoanalytiker Heinz Kohut  hat in diesem Zusammenhang vom „Glanz im Auge der Mutter“ gesprochen, wenn sie in ihrer emotionalen Antwort die Äußerungen ihres Kindes aufnehmen, verstärken, verwandeln kann und ihm damit zu verstehen gibt, dass es gewollt, gut, geliebt ist.
  
  Welche erschütternden Auswirkungen es hat, wenn dieser Blick fehlte, das können Erwachsene erzählen, die psychisch krank geworden sind. Dann kann vielleicht erst in einer Therapie erlebt und nachgereift werden, was zu Beginn fehlte.
  
  Was bedeutet es uns heute hier im Gottesdienst, wenn am Schluss der Segen gesprochen wird? Könnte er als Eröffnung eines Segensraums etwas Heilendes, Integrierendes haben in den Brüchen und Konflikten unseres Lebens?
  
  Beim Blick in die Geschichte dieses sogenannten aaronitischen oder priesterlichen Segens fällt auf, dass er schon immer im Kult des Jerusalemer Tempels und dann in den Gottesdiensten und Sabbatfeiern des Judentums beheimatet war und dort bis heute eine zentrale Rolle spielt.
  Er ist kunstvoll gestaltet. Die drei Sätze nennen Gott jeweils beim Namen, jeder Satz geht über den vorherigen hinaus, legt ihn aus, ergänzt und verstärkt ihn.
  Jesus wird ihn gekannt haben, ob er ihn benutzt hat, wissen wir nicht. An anderen Stellen im Neuen Testament kommt er nicht vor.
  
  Es hat bis 1525 gebraucht, bis er wiederentdeckt wurde, und zwar von Martin Luther. Er fand ihn beim Bibelstudium und führte ihn in den Gottesdienst ein, weil Gott selbst ihn erlassen habe. (2)
  Für Luther drückt sich in ihm das zugewandte, gnädige, strahlende Angesicht Gottes, nach dem er lange verzweifelt gesucht hat, aus.
  Ganz umsonst, so ist seine umwälzende Erkenntnis, nimmt dieser Blick im Angesicht Gottes den Menschen an, macht heil und frei.
  
  Nach Luthers Entdeckung und nach seinem Verständnis sind alle getauften Christen dazu berufen, diesen Segen zuzusprechen. Der segnende Mensch tritt dabei zurück, im Mittelpunkt steht Gottes befreiendes, zugewandtes Handeln.
  
  Hilde Schürg bringt für mich auf faszinierende Weise diese von Juden und Christen geteilte Segensvorstellung als Begegnung im Zwischenraum mit der ihr eigenen Form, der bildenden Kunst, zum Ausdruck.
  
  Es bleibt ein Wagnis, sich ihm auszusetzen.
  Es gibt immer eine Schwelle, die ich übertreten muss. Die Schwelle ins Unbekannte, in den offenen Raum, der jedoch erst dadurch entstehen wird.
  Ich kann dann möglicherweise etwas ahnen und spüren von der Freiheit, die in der Begegnung zwischen Gott und Mensch liegt.
  
  Es ist keine endgültige, für immer sichere Antwort auf all unsere Fragen zu erwarten, aber eine, die über den Augenblick hinaus weiterträgt.
  
  Zum Schluss des Gottesdienstes, an der Schwelle zwischen innen und außen, erbitten wir auch heute diesen Segen von Gott. Amen.
  
  
  (1) Hilde Schürk-Frisch, "Begegnung". Monotypie. 50x35.1962  http://www.klosterkirche.de/rituale/segen/  (Zugriff vom 20.05.2013)
  
  (2) Ulrich Heckel, Der Segen im Neuen Testament, Tübingen 1982, S.78
Perikope
26.05.2013
6,22