Wenn Gott die Lasten verteilt, wirds bunt - Predigt zu Num 11, 11-12. 14-17. 24-25 von Michael Greßler
I. Was zu schwer ist zu tragen
»Mose sprach zu dem Herrn:
Was bekümmerst du deinen Knecht?
Und warum finde ich keine Gnade vor deinen Augen,
dass du die Last dieses ganzen Volks auf mich legst?
Hab ich denn all das Volk empfangen oder geboren,
dass du zu mir sagen könntest:
Trag es in deinen Armen, wie eine Amme ein Kind trägt,
in das Land, das du ihren Vätern zugeschworen hast?
Willst du aber doch so mit mir tun, so töte mich lieber,
wenn anders ich Gnade vor deinen Augen gefunden habe,
damit ich nicht mein Unglück sehen muss.«
»Ich kann nicht mehr«.
Ich höre Mose klagen. Und ich fühle, wie es ihm geht.
Als würde er einen Riesenstein tragen müssen, die ganze Zeit …
Die Arme schmerzen. Schweiß rinnt ihm von der Stirn.
Das letzte bisschen Kraft verlischt gerade wie ein glimmender Docht.
Und die Seele wird müde … so müde.
»Ich kann nicht mehr«.
Pfingsten ist etwas für Leute, die nicht mehr können.
II. Vereinswesen
»Und der Herr sprach zu Mose:
Sammle mir siebzig Männer unter den Ältesten Israels,
von denen du weißt, dass sie Älteste im Volk
und seine Amtleute sind.«
Wenn ich nicht mehr kann, dann frage ich andere.
Dann bitte ich um Hilfe.
Und ich finde immer welche.
Gemeinsam geht das besser.
Sie nehmen mir etwas ab. Sie geben mir von ihrer Kraft.
Sie haben alle ihre eigenen Stärken, können anderes und mehr als ich.
Und sie haben ihre Schwächen. Da kann ich vielleicht helfen.
Pfingsten ist etwas für Leute mit Gemeinsinn.
Kirche wächst im Miteinander und Gemeinde wird gemeinsam gebaut.
Allerdings: Nur Gemeinsinn reicht nicht.
Den haben wir auch im Kaninchenzüchterverein, und das ist gut so.
Aber er macht noch keine Kirche.
III. Klage
»Mose sprach zu dem Herrn:
Was bekümmerst du deinen Knecht?
Warum finde ich keine Gnade vor deinen Augen?
Laß mich doch nicht mein Unglück sehen …«
Es fängt erst einmal mit Klage an –
mit dieser mächtigen Klage des Mose: »Ich kann nicht mehr«.
Und er klagt richtig – also: Richtig sehr.
Aber auch in die richtige Richtung.
Mose klagt. Er jammert nicht. Diese Klage ist kein Gemecker –
wie böse doch die Welt ist. Und wie blöd die anderen.
Und »die da oben« machen doch eh, was sie wollen.
Mose klagt es Gott.
Seine Klage ist ein Gebet.
Ein intensives, inniges Herzensgebet:
Gott, ich kann nicht mehr.
Pfingsten ist etwas für Leute, die über sich hinausschauen.
Und die wissen, wohin sie schauen müssen.
IV. Geistkraft
»Gott sprach zu Mose: Bringe die Siebzig vor die Stiftshütte
und stelle sie dort vor dich,
so will ich herniederkommen und dort mit dir reden
und von deinem Geist, der auf dir ist, nehmen und auf sie legen,
damit sie mit dir die Last des Volks tragen
und du nicht allein tragen musst.«
Gott hilft Mose.
Er stellt ihm siebzig Helferinnen und Helfer an die Seite.
Da haben wir wieder das mit dem Gemeinsinn.
Und doch haben wir unendlich mehr.
Sie finden sich nicht einfach so zusammen.
Gott verbindet sie.
Die Geistkraft Gottes – er verteilt sie.
Und das verbindet. Das hilft.
Das macht Gemeinde – damals in Israel.
Und hier und heute in Kirche und Gemeinde.
Pfingsten ist etwas für Leute, die Gott was zutrauen.
V. Verzückung
»Und Mose ging heraus und sagte dem Volk die Worte des Herrn
und versammelte siebzig Männer aus den Ältesten des Volks
und stellte sie rings um die Stiftshütte.
Da kam der Herr hernieder in der Wolke
und redete mit ihm und nahm von dem Geist,
der auf ihm war, und legte ihn auf die siebzig Ältesten.
Und als der Geist auf ihnen ruhte,
gerieten sie in Verzückung wie Propheten und hörten nicht auf.«
Da kann allerhand passieren.
Ich weiß nicht, wie das genau war, damals bei Mose und den Siebzig.
Aber es war wohl sehr lebendig, bunt;
und es war nicht zu übersehen:
Die sind ergriffen.
Wer weiß, was sie gemacht haben – geredet und getan –
bestimmt jede und jeder etwas anderes.
Und es war bestimmt auch ziemlich verrückt.
So darf Kirche sein! So soll sie sein.
Sehr bunt und voll Leben.
Es gibt eigentlich nichts, was nicht sein darf.
Probiert es ruhig aus.
Pfingsten ist was für Leute, die auch noch mit dem völlig Abgedrehten rechnen.
VI. Una Sancta
Das wird dann natürlich ein sehr lebendiges Ding.
Nicht alles wird mir gefallen.
Manches werde ich lieben.
Und manches verrückt finden.
Manches vielleicht sogar falsch.
Aber ich will den Geist wehen und die Geistkraft wirken lassen.
Unbedingt.
Da muss und will ich auch die anderen aushalten.
Die Stillen und die Lauten,
die Erneuerer und die Bewahrer,
die Traditionalistinnen und die, die voran gehen –
und die Konfessionen und die verschiedenen Glaubensweisen –
weiß ich denn, wo die Wahrheit ist? Ob ich sie habe?
Das weiß ich nicht.
Aber ich weiß von Gottes Geistkraft.
Und dass sie wirkt.
Auf so viele Weisen.
Da muss ich die anderen schon so sein lassen,
wie Gott sie nun mal gemacht hat.
Und ich selbst »hänge mich voll rein« – so gut ich kann.
Gemeinsam mit all den anderen.
Pfingsten ist etwas für Leute, die die Vielfalt lieben.
Amen.
1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Predigt in zahlreichen Pfingstsonntagsgottesdiensten mit Besucher*innenzahlen von 5 bis 50.
2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Wahrnehmungsübungen, Exegese, Textmeditation, Austausch mit befreundeten Kolleg*innen.
3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Den AT-Text als Pfingsttext predigen, ohne ihn zu vereinnahmen.
4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Die Predigt zu ‚feilen’ ist für mich Grundhandwerkszeug. Dazu gehört auch und vor allem das (laute!) Üben des Textes, möglichst in einer der Kirchen.
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Gemeinsam statt einsam – Predigt zu Num 11, 11-12. 14-17. 24-25 von Anke Fasse
„Das tat soooo gut“, erzählt die junge Frau und ihr Gesicht leuchtet dabei. „Mit anderen zusammenzukommen und zu spüren, ich bin nicht allein mit meiner Angst und meiner Ohnmacht angesichts dieses fruchtbaren Krieges. Das tut sooo gut – gemeinsam zu singen und für den Frieden zu beten, Hoffnungslichter zu entzünden, das ist mein Halt in dieser Zeit. Und beim Friedensgebet habe ich auch die anderen kennengelernt. Gemeinsam unterstützen wir jetzt geflüchtete Menschen in der Nachbarschaft. Als Lehrerin fühle ich mich gebraucht mit ihnen Deutsch zu lernen. Allein in meiner Wohnung bin ich vorher schier verzweifelt.“
Gemeinsam statt einsam – was für eine wohltuende und befreiende Erfahrung. Angst und Ohnmacht zu teilen und gemeinsam Hoffnung und Tatkraft zu gewinnen. Ich darf meine Zweifel mit anderen teilen. Es hilft mir meinen Glauben neu zu erspüren. In meiner Einsamkeit andere zu entdecken, ist befreiend. Ich spüre, wie Gemeinschaft wächst und trägt. Ich darf mir eingestehen, etwas allein nicht zu schaffen und Unterstützung zu suchen. Wie befreiend und entlastend ist es zu erfahren, dass gemeinsam viel mehr möglich ist als einsam und allein. All dies – Pfingsterfahrungen!
Wie schön, dass wir heute am Pfingstmontag gemeinsam hier Gottesdienst feiern. Uns sehen, spüren, unsere Stimmen im Gesang und Gebet verbinden und erfahren: Ich bin nicht allein mit meinem kleinen oder großen Glauben, da sind noch andere. Wir sind gemeinsam, in einem Geiste unterwegs und das stärkt, tut einfach gut.
Gemeinsam statt einsam. Ich denke an einen Patienten, den ich vor kurzem im Krankenhaus besucht habe. „So kann es nicht weitergehen“, sagte er recht schnell. Vor wenigen Tagen hat er einen Schlaganfall erlitten. „Ich habe gearbeitet und gearbeitet. Durch die Umstrukturierungen und die Einsparungen wurden die Arbeit und die Verantwortung immer mehr. Ich bin doch ein gewissenhafter Mensch. Ja, ich kann sagen, Tag und Nacht ging mir die Arbeit nicht mehr aus dem Kopf – fertig und zufrieden war ich dennoch nie. Auch hatte ich an nichts anderem mehr Spaß. Keine Treffen mit Freundinnen oder Freunden, keine Unternehmungen mit der Familie, kein Sport. Und jetzt bin ich hier – und hatte Gott sei Dank noch einen Schutzengel. Ich muss etwas ändern. Allein schaffe ich diese Arbeit nicht. Und ich will das so auch nicht mehr. Lieber kündige ich, als so weiterzumachen.“
Lieber will ich sterben, als mit diesem murrenden Volk weiter auf dem Weg durch die Wüste zu sein. Mose war von Gott beauftragt das Volk Israel aus der Knechtschaft in die Freiheit zu führen. Eine wunderbare Aufgabe, den Traum der Freiheit wahr werden zu lassen. Und ausgerechnet Mose mit seiner zweifelhaften Vergangenheit, er war für diese Aufgabe von Gott auserwählt. Ihn hatte Gott dafür mit seinem Geist ausgestattet. Und Mose, ja, er nahm die Aufgabe mit Herz und Seele an. Eine wahrhaft schwere, gewichtige Aufgabe mit vielen Herausforderungen und zermürbenden, nicht enden wollenden Wüstenstrecken. Und jetzt murrte das Volk schon wieder. Seine Kräfte waren zu Ende. Mose spürte: Ich kann nicht mehr. Und mehr noch: Ich will nicht mehr! Wenn sich nichts ändert, möchte ich lieber sterben. Lieber kündige ich, als so weiterzumachen. Und Mose sprach zu dem Herrn: Ich vermag all das Volk nicht allein zu tragen, denn es ist mir zu schwer.
Es ist mir zu schwer. Eine Erfahrung, die Menschen in familiären Belastungen genauso spüren wie in beruflichen oder auch im Engagement für ein Ehrenamt, an dem viel Herzblut hängt. Eine einsame Erfahrung, die Lebensmut und Lebenskraft raubt.
Ich kann und will so nicht mehr weitermachen – diese Erkenntnis und sie dann auch auszusprechen bringt die Wende. Der Patient, er hat seine Erkenntnis im Gespräch öffentlich gemacht. Dadurch hat er Kraft und Entschlossenheit hinzu gewonnen, etwas in seinem Leben zu ändern. Er wird etwas ändern. Und Mose, er wendet sich mit seiner Last „es ist mir zu schwer“ an Gott.
Gemeinsam statt einsam – so unterstützt Gott. Gott entbindet Mose nicht von seiner Aufgabe. Aber er weitet seinen Blick. Sammle mir siebzig Männer … und bringe sie vor die Stiftshütte und stelle sie dort vor dich, so will ich herniederkommen und dort mit dir reden und von deinem Geist, der auf dir ist, nehmen und auf sie legen, damit sie mit dir die Last des Volkes tragen und du sie nicht allein tragen musst.
Einer trage des anderen Last. Geteiltes Leid ist halbes Leid. Gemeinsam statt einsam ist viel mehr zu bewirken. Die Aufgabe, die einen einzelnen Menschen erdrücken kann, ist für viele mit verschiedenen Gaben und vereinten Kräften nicht nur möglich, sie kann sogar Spaß machen – BeGEISTern.
Mose handelte, wie Gott es ihm gesagt hatte. Da kam der Herr hernieder in der Wolke und redete mit ihm und nahm von dem Geist, der auf ihm war, und legte ihn auf die siebzig Ältesten. Und als der Geist auf ihnen ruhte, gerieten sie in Verzückung wie Propheten und hörten nicht auf.
Was für einen zu schwer ist, kann viele beGEISTern. Gott wirkt hier gemeinschaftsstiftend. Es wird nicht direkt der Geist Gottes verteilt, sondern der Geist Moses wird verteilt. Der Geist eines Menschen also, der die Stärke hat, etwas aus der Hand zu geben. Der nicht an Macht und Anerkennung festhält, befreit zu Neuem – die siebzig Ältesten gerieten in Verzückung, sind begeistert, denn nun sind sie Teil von etwas Größerem und können gemeinsam etwas bewirken. Gott ist dabei mitten unter ihnen, indem sich diese Menschen in ihrer Verschiedenheit für eine größere Idee, für eine Vision, für den Weg in die Freiheit begeistern. Eine Pfingsterfahrung schon zu Zeiten des Alten Testaments.
Heute feiern wir Pfingsten, gemeinsam und in Verschiedenheit. Die Aufgabe von Mose und den Ältesten war das Volk Israel in das Gelobte Land zu führen. Auch heute sind unsere Aufgaben als Christinnen und Christen gemeinsam mit vielen anderen groß und vielfältig. Für eine und einen zu schwer, gemeinsam statt einsam können sie eine Kraft entfalten und uns begeistern. Beten für den Frieden, dem Nachbarn ein Ohr schenken und nicht aufhören an die große Verheißung vom Reich Gottes zu glauben, davon zu erzählen und begeistert schon mal loszugehen. So ereignet sich täglich Pfingsten – hier und überall auf der Welt.
Ich denke noch einmal an die junge Frau, von der ich zu Beginn erzählte, an ihre Pfingsterfahrung. Einsamkeit und Angst beschwerten sie. In der Gemeinschaft, im gemeinsamen Gebet wächst Vertrauen und die Erfahrung: Da ist mehr. Da ist etwas, das trägt. Da ist ein Geist, der göttliche Geist, der trägt, der verbindet, der bewegt.
Der Geist Gottes ist da. Ein Grund zu feiern. Frohe Pfingsten!
Amen.
1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Mein Predigtort ist die Kapelle des Krankenhauses. Meine Gemeinde sind eine kleine Zahl von Patient*innen, die ich in der Regel vorher nicht persönlich kenne. Auch wird der Gottesdienst per Video in die Zimmer übertragen. Ich feiere Gottesdienst mit und für Menschen, die sich im Krankenhaus in einer Ausnahmesituation befinden. Die Erfahrung von Einsamkeit und Angst liegen oft in der Luft und die Frage, wie es angesichts von Krankheit und schweren Diagnosen weitergehen kann.
2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Immer wieder mache ich die Erfahrung, wie wohltuend es – nicht nur im Krankenhaus – ist, Angst, Sorgen, Traurigkeit zu teilen. Einer trage des anderen Last wird wahr. Und noch befreiender ist die Erfahrung, wenn eine andere, göttliche, Dimension mit hinzukommt. Die Erfahrung im Glauben verbunden zu sein, das Vertrauen von Gott aufgehoben zu sein, kann Berge versetzen – und begeistert mich immer wieder.
3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Die Erkenntnis "Ich kann nicht mehr" ist der erste Schritt zur Veränderung. Gott hilft den Blick zu weiten: Ich muss nicht allein alles schaffen, ich stehe in einer Gemeinschaft, da ist ein gemeinsamer Geist – das ist befreiend und stärkend.
4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Die Präzisierung der Pfingsterfahrung: Gemeinsam statt einsam – verbunden, gestärkt und bewegt vom Geist Gottes.
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Gott verspricht: Ich lass dich nicht im Stich! - Predigt zu 4. Mose 6,22-27 von Winfried Klotz
Liebe Gemeinde!
Brauchen wir den Segen? Folgende Notiz habe ich dazu gefunden:
‚Ein alter Mann ist vollkommen taub. Aber er geht jeden Sonntag zum Gottesdienst. Als ihn jemand fragt, warum er in die Kirche geht, obwohl er kein Wort versteht, antwortet er: „Der Segen!”‘ (Das große Axel Kühner Textarchiv, Elektronische Ausgabe, Nr. 59)
Was ist denn so Besonderes am Segen, diesem kurzen Schlussritual? Warum braucht der alte, vollkommen taube Mann den Segen? Was verbindet er damit?
Offensichtlich mehr als nur Worte, mehr als eine Information; die erhobenen Hände und das Zeichen des Kreuzes sind ihm ein göttliches Versprechen, ein wirksames Zeichen für Gottes freundliche Gegenwart in seinem Leben. Segnen ist abgeleitet vom lateinischen „signare“- mit einem Zeichen versehen; ER verspricht uns Schutz, Gnade und Frieden, denn die sind nicht selbstverständlich.
Brauchen wir den Segen?
Es muss uns nachdenklich machen, was wir seit ungefähr zwei Monaten erleben. Es kündigte sich an als fernes Donnergrollen- ach ja, in China breitet sich ein Virus aus, aber wir sind weit weg von China. Und dann war es da, das Corona – Virus und legte nicht nur ein Land, sondern alle Industrieländer lahm. Und ein nicht für möglich gehaltenes Sterben begann, wurde das Virus nicht als eher ungefährlich angekündigt? Die Schulen, Universitäten, Kitas wurden geschlossen, Gottesdienste verboten, Geschäfte und Restaurants geschlossen, die Wirtschaft lahmgelegt; bleibt zu Hause! Steckt Euch nicht an!
Ja, liebe Gemeinde, wir brauchen Segen von Gott, wir brauchen das Zeichen der Freundlichkeit und Güte Gottes.
Segen, was sagt das Zeugnis der Bibel?
Als Gott Abram losschickt „Geh aus deinem Vaterland“, da sagt er auch:
„Und ich will dich zum großen Volk machen und will dich segnen und dir einen großen Namen machen, und du sollst ein Segen sein. Ich will segnen, die dich segnen, und verfluchen, die dich verfluchen; und bin dir sollen gesegnet werden alle Geschlechter auf Erden.“ (1. Mose 12, 2-3) Losgeschickt in einer unkalkulierbare Zukunft gibt Gott Abram „Segen“ mit. Das ist keine Lebensversicherung und Glücksgarantie, aber doch ein Versprechen: Ich lass Dich nicht im Stich! Wenn jemand mir verspricht: Ich lass Dich nicht im Stich! dann ist entscheidend, wer mir das zusagt. Sagt das ein bisher unzuverlässiger Mensch, werde ich nicht viel darauf geben; sagt es ein echter Freund, eine echte Freundin, wird mir die Zusage Mut und Zuversicht geben. Sagt das aber Gott, dann ist das eine feste Burg gegenüber allen Unwägbarkeiten. Darauf werde ich vertrauen!
Segen ist Gottes Zusage: Ich lass Dich nicht im Stich! Dieser Gott aber ist mir kein Trugbild, sondern durch Jesus gewiss. Jesus hat gelehrt, Gott als Vater anzureden. Ich halte mich an Jesus, den Brückenbauer zu Gott. Ich erfahre doch, dass in und bei Jesus mir Gott nahekommt! Ist es nicht so, dass der Abram versprochene Segen zu allen Völkern kommen soll? Ist nicht genau das geschehen durch die Botschaft von Jesus?
Ja, davon bin ich überzeugt und deshalb freue ich mich am Zuspruch des Segens in unserem Abschnitt aus dem vierten Buch Mose- Numeri:
„Der Herr segne dich und behüte dich.“
Der Herr segne dich! Das meint erst einmal, Gott gebe dir all das, was du zum Leben nötig hast. Psalm 65 sagt es so: Du krönst das Jahr mit deinem Gut, und deine Fußtapfen triefen von Segen. (65,12) Der Ertrag der Arbeit, Nachkommen, das Dach über dem Kopf, all das ist Segen, Gutes, das nicht selbstverständlich ist, Gutes, das Gott gibt und erhält.
Und behüte dich! Unsere Welt ist kein sicherer Ort, auch Gottes Segen macht sie nicht dazu. Aber wer unter dem Zeichen des Segens seinen Weg geht, erlebt Gottes Mitgehen. Erlebt, dass er/sie nicht im Stich gelassen ist. Erlebt Bewahrung und Führung. Das alles im Glauben, also in diesem persönlichen Vertrauen auf Gott, dass uns möglich geworden ist durch Jesus. Segen ist kein frommer Wunsch, sondern wird zugesprochen im Auftrag; Gott will segnen. Also, der Herr segne dich und behüte dich, er will es tun!
„Der HERR lasse sein Angesicht leuchten über dir und sei dir gnädig.“
Altertümlich klingt das und ist doch aus dem Miteinander unter Menschen abgeleitet; wer seinen Nächsten freundlich ansieht, verspricht ihm damit Gutes, Güte, Zuwendung. So möge Gott dich freundlich ansehen und dich liebevoll begleiten. In Psalm 4 heißt es: „Viele sagen: »Wer wird uns Gutes sehen lassen? «HERR, lass leuchten über uns das Licht deines Antlitzes! Du erfreust mein Herz, ob jene auch viel Wein und Korn haben.“ (Psalm 4, 7-8) Gottes freundliche Zuwendung ist spürbar, erfahrbar und weit wertvoller als Wein und Korn, sprich Wohlstand oder Reichtum. Sie ist für uns durch Jesus Christus Wirklichkeit geworden. Deshalb lässt Paulus im Epheserbrief der Gemeinde schreiben: „Gelobt sei Gott, der Vater unseres Herrn Jesus Christus, der uns gesegnet hat mit allem geistlichen Segen im Himmel durch Christus. (1, 3)
„Der HERR hebe sein Angesicht über dich und gebe dir Frieden.“
Noch einmal ist die Rede vom Angesicht Gottes; ER wende es dir zu, übersetzt die Gute Nachricht Bibel. Auch das erklärt sich aus dem Umgang miteinander: eine Beziehung ist gestört, wenn Menschen bewusst aneinander vorbeisehen. Wo Freundlichkeit, wo Liebe das Verhältnis bestimmt, da suchen sich die Blicke. Von Jesus erzählt Lukas: „Als Jesus an die Stelle kam, schaute er hinauf und redete ihn an: »Zachäus, komm schnell herunter, ich muss heute dein Gast sein!“ (Lukas 19, 5) Jesus Blick sucht den Zöllner Zachäus oben im Baum; da sitzt er mit Recht, werden manche gedacht haben, wer will mit dem etwas zu tun haben?! Aber Jesus sucht ihn, sucht die Gemeinschaft beim Essen und Gespräch mit ihm, das verändert Zachäus Leben zum Guten. So wird Zachäus ein Gesegneter.
Segen- nur Worte, nur fromme Wünsche?
Entscheidend ist der Auftraggeber, entscheidend ist, dass Gott dahinter steht, entscheidend ist, dass wir durch Jesus in seine Nähe gerückt sind und erfahren könne, wie sein Heiliger Geist an uns wirkt. Strenggenommen brauchen wir Gottes Segen nicht, so wie wir auch Gott nicht „brauchen“. Suchen wir aber im Durcheinander unsres Lebens einen Ort des Friedens, dann werden wir ihn in Gott finden, in dem Gott und Vater von Jesus. Bei ihm ist Leben in Fülle (Johannes 10, 10), er schenkt Segen, der unser Leben reich macht – auch da, wo uns Mangel und Unerfülltheit begleiten.
Segen geschieht mit den Zeichen des Händeaufhebens, das für eine Handauflegung steht und dem Leidens- und Sieges-Zeichen des Kreuzes. Gott verspricht uns: Ich lass Dich nicht im Stich! Das ist ein großes Wort, dass wir immer wieder durchbuchstabieren, ja durchkämpfen müssen. Das Versprechen des Segens ist keine Art religiöser Versicherung, die im Schadensfall eintritt. Gott suchen im Gebet, in seinem Wort, in der Gemeinschaft mit anderen ist „Not-wendig“! Dann kann es so sein, wie der Liederdichter Johann Jakob Schütz formuliert hat:
Ich rief zum Herrn in meiner Not: »Ach Gott, vernimm mein Schreien!«
Da half mein Helfer mir vom Tod und ließ mir Trost gedeihen.
Drum dank, ach Gott, drum dank ich dir; ach danket, danket Gott mit mir!
Gebt unserm Gott die Ehre! (EG 326, 4)
Zuletzt: Wir sind Gesegnete, damit wir einander segnen!
Amen.
1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Am 7. 6. werde ich in einem kleinen Odenwalddorf als Vertreter der Pfarrerin predigen; nur wenige kommen zum Gottesdienst. Gedacht habe ich bei der Predigt aber eher an Menschen, die eine Folie oder Herausforderung für ihre eigene Predigt suchen.
2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Bei jeder Predigt treibt mich der innere Auftrag und der Wunsch, noch nicht betretenes Gelände zu beschreiten.
3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Das weiß ich jetzt gerade nicht! Wenn ich am 7. 6. gepredigt habe - und das heißt für mich – jetzt erst ist die Predigt fertig, ist es mir vielleicht klar. Eine Predigt braucht freie Rede, es reicht nicht, ein Konzept abzulesen!
4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Die Rückmeldung vom Predigtcaoch war hilfreich und führte zu einer Neuausrichtung was die Hörer und Leser betrifft.
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Von Wüsten und Schlangen – Predigt zu 4. Mose 21, 4-9 von Helmut Dopffel
Liebe Gemeinde,
der heutige Predigttext hat eine Vorgeschichte: Das Volk Israel wandert, nach dem gloriosen Auszug aus Ägypten, durch Wüsten. Das ist anstrengend, gefährlich, und vor allem lang. 40 Jahre, damals ein ganzes Menschenleben. Nun endlich stehen sie wenige Kilometer vor dem Ziel, dem Land, in dem Milch und Honig fließen. Aber der Weg ist versperrt, unüberwindbar. Also müssen sie umkehren, zurück, wieder in die Wüste. Die Stimmung ist schlecht, kein Wunder.
„Da brachen sie auf von dem Berge Hor in Richtung auf das Schilfmeer, um das Land der Edomiter zu umgehen. Und das Volk wurde verdrossen auf dem Wege und redete wider Gott und wider Mose: Warum hast du uns aus Ägypten geführt, dass wir sterben in der Wüste? Denn es ist kein Brot noch Wasser hier und uns ekelt vor der Speise die uns nicht satt macht. Da sandte der Herr feurige Schlangen unter das Volk; die bissen das Volk, dass viele aus Israel starben. Da kamen sie zu Mose und sprachen: Wir haben gesündigt, dass wir wider den Herrn und wider dich geredet haben. Bitte den Herrn, dass er die Schlangen von uns nehme. Und Mose bat für das Volk. Da sprach der Herr zu Mose: Mache dir eine eherne Schlange aus Kupfer und richte sie an einer Stange hoch auf. Wer gebissen ist und sieht sie an, der soll leben. Da machte Mose eine eherne Schlange und richtete sie hoch auf. Und wenn jemanden eine Schlange biss, so sah er die eherne Schlange an und blieb leben.“ (Numeri 21, 4-9).
Die Wüste und die Schlangen. Ich vermute, die allermeisten von Ihnen sind noch nie längere Zeit durch eine Wüste gewandert. Und wie lange ist es her, dass Sie eine Schlange in freier Natur gesehen haben? Und doch: Wüste und Schlangen, wir wissen, wie das ist, haben zumindest eine Vorstellung, Bilder im Kopf und im Herzen. Und Gefühle. Sie stammen vielleicht aus Filmen oder Büchern, aber nicht nur. Tief in uns tragen wir ein Wissen um die Wüste und um Schlangen. Wüste, da ist alles endlos und ortlos und schutzlos, Sand und Fels, gleißend hell am Tage und tiefdunkel in der Nacht, überwölbt von einem kalten Sternenhimmel. Wüste, das ist Freiheit und Abenteuer. Wüste, das ist Treibsand und Sandsturm und Gefahr und Einsamkeit und Durst. Das Leben steht immer auf dem Spiel in der Wüste. Und wir verstehen das so genau, weil wir wissen, was Wüste ist, weil wir alle immer wieder im Leben Wüstenerfahrungen machen. Es gibt die inneren Wüsten, in denen wir leben, einsam, und da ist nichts, das uns nährt. Ich kenne Menschen, die so ihr Leben beschreiben: Ich lebe in einer Eiswüste. Und wir alle verstehen, was das heißt.
Und Schlangen? Stellen Sie sich vor, Sie sind mit dem Hund unterwegs oder im Garten, und der stöbert plötzlich eine Schlange auf. Plötzlich sind beide, Hund und Mensch, auf Alarm. Ja nicht zu nahe drankommen! Schlange bedeutet Gefahr, ganz real falls sie giftig ist, aber auf jeden Fall unheimlich, ungreiflich, plötzlich da aus dem Nichts und dann schon wieder weg. Und dazwischen, wenn‘s böse kommt, der Biss. Ein Alptraum vieler. Und wieder kommt der Alptraum üblicherweise nicht aus einem realen Erleben, sondern steckt tief in uns, durch Geschichten vielleicht, oder noch tiefer. Die Schlange, das ist das, was unser Leben und unsere Welt bedroht. Die Schlange ist das Gift, das uns vergiftet. Die Schlange ist der Tod. So wird es ja bereits ganz am Anfang der Bibel erzählt.
Die Wüste und die Schlangen. Das Volk Israel hat genug von der Wüste. Ja, sie sind frei, und sie leben. Aber was zählt das schon gegen alle die Nachteile: Es ist heiß, es ist gefährlich, es gibt wenig zu essen und über Wochen immer das gleiche, „das Essen schmeckt uns nicht“, es ist langweilig, und es geht immer so fort. Das kann kein Mensch aushalten. Sie verlieren ihren Lebensmut. Sie wollen endlich ankommen, in der Heimat. Die Wüste ist keine Heimat. Die neue Heimat kennen sie nicht, denn sie liegt in der Zukunft und sie haben sie noch nie gesehen. Da meldet sich die alte Heimat, Ägypten. Ägypten-Nostalgie macht sich breit. Was ist schon die Freiheit, gegenüber der erwartbaren Sicherheit Ägyptens! Früher, da war es doch besser. Natürlich stimmt das nicht, wie hatten sie gelitten, oder nicht sie, sondern ihre Eltern und Großeltern und die Vorfahren weiter zurück. Nie und nimmer war das Heimat gewesen. Und die Heimat liegt nie in der Vergangenheit. Diese alte Heimat gab es nie, sie ist nur Phantasie, und eine gefährliche dazu. Aber all das ist vergessen, jetzt, in der Wüste. Ägypten-Nostalgie. Fische und Knoblauch statt dem ewig klebrigen Manna. Früher war alles besser. Dahin wollen sie zurück.
Und also murren sie. Heute würden sie demonstrieren: Mose, du Verräter! Gott, du Verräter! Ihr habt uns nur hierhergebracht, damit wir sterben. Ihr wollt uns töten. Wir wollen zurück, in die Heimat, die es nie gab.
Was für ein Vorwurf. Was für eine Lüge.
Und dann geschieht genau das, was sie Gott und Mose vorwerfen. Der Tod kommt, heimlich und schnell gekrochen, aus allen Winkeln, aus dem Sand, aus den Felsen. Schlangen, tödliche Kobras, hunderte, mit einem Biss der brennt wie Feuer und tötet.
Ist das eine Strafe Gottes? Eine Erziehungsmaßnahme? Davon ist in der Geschichte nicht die Rede. Es wird nur nüchtern erzählt, dass Gott das wahr werden lässt was die Menschen ihm unterstellen.
Und das Merkwürdige ist, dass er ihnen damit die Tür zur Zukunft öffnet.
Weil sie nicht mehr weiter wissen, die Menschen in der Wüste und unter Schlangen, kommen sie zu Mose: Wir haben gesündigt! Bitte Gott, dass er uns rettet und die Schlangen wegnimmt.
Die Schlangen nimmt Gott nicht weg. Aber er heilt. So, wie es in den alten Zeiten gar nicht so unüblich war. Heute kommt uns das vor wie ein bisschen Magie und ein bisschen fantasy. Da sollen sie hinschauen, auf diese Kupferschlange am Stab, und wer es tut, der bleibt am Leben. Ich wette, alle haben es getan, ob sie es nun glauben oder nicht, aber es ist die einzige Chance.
Was sehen sie? Was sehen wir?
Mit dem Sehen ist es ja so eine Sache. Man kann so oder so sehen. Ein Gesicht eben, ein paar Augen. Oder wir sehen in die Augen, sehen die Freude in den Augen oder die Angst oder die Liebe, und im Gesicht die Lebensgeschichte eines Menschen. Genau hinschauen, dann sehen wir mehr als das, was sich biometrisch erfassen lässt. Dann sehen wir einen Menschen, und manchmal können wir ihm oder ihr mitten ins Herz schauen. Und wir spüren das ja auch umgekehrt, ob ein Mensch uns sieht oder nur unsere Oberfläche. Genau hinschauen sollen sie, die Menschen in der Wüste, so dass sie die Geschichte hinter der Geschichte sehen, und das Gesicht hinter der Schlange.
Was sehen sie? Was sehen wir? Eine Schlange aus Metall, Kupfer oder Bronze, aufgerichtet an einem Stab, so ähnlich vielleicht wie die Äskulapschlange, die wir von den Apotheken kennen und auf Arzneimitteln, nur dass die Äskulapschlange nicht giftig ist. Ist das nicht seltsam, ja unpassend, dass sich Gott solcher Mittel bedient. Zwischen Magie und fantasy? Es wird im AT erzählt, dass man viel später diese Metallschlange aus dem Jerusalemer Tempel entfernt und vernichtet hat. Sie war zu heidnisch. Aber Gott hat keine solchen Skrupel, er passt sich an, er passt sich uns an, unseren Vorstellungen und unseren Lebenswelten und dem, was uns plausibel erscheint, und wenn er damit uns erreichen kann, dann nutzt er sogar ein bisschen Magie und fantasy. Sonst käme er nie zu uns. Da hat er keine Berührungsängste. Da ist er ganz bei uns. Das ist das erste, die erste Wahrheit und Botschaft hinter der Schlange. Um uns zu heilen, lässt Gott sich ganz tief auf uns ein.
Und das ist auch noch heute so. Gott kommt zu uns auf seine, vor allem aber auf unsere Weise. Er begegnet uns im Alltag und im Gottesdienst, im Äskulapstab der Medizin wie im fröhlichen Kindergeschrei auf dem Spielplatz und in den Tränen aller Traurigen dieser Welt. In den merkwürdigen Begegnungen die wir haben, in den Stimmungen des Tages, in den Klängen der Musik. So berührt er uns, unser Herz. Und wir sehen ihn, wenn wir hinschauen.
Was sehen sie? Was sehen wir? Gott kommt zu uns, um uns zu heilen und zu retten. Nicht wir kommen zu ihm. Gott findet uns wieder, nicht wir ihn. Nicht ihr habet mich erwählt, sondern ich habe euch erwählt, sagt Jesus viel später. Er findet uns – und sei es mit einer Schlange auf einer Metallstange – nicht wir finden ihn. Er kommt zu uns in allen möglichen menschlichen Verkleidungen und Lebensweisen. Wir schauen hin und sehen.
Was sehen sie? Was sehen wir? Gott kommt, er heilt und rettet und orientiert uns. Aber nicht so, wie die Menschen in der Wüste es erwarten und erbitten. Das ist ja fast immer so. Gott erfüllt unsere Bitten selten so, wie wir uns das vorstellen. Er nimmt das Böse, das Übel, das Leiden nicht einfach weg. Aber er heilt. Mitten in der Wüste und mitten unter Schlangen. Wo sind wir schon der falschen Nostalgie erlegen, dem Festhalten an der Vergangenheit, den Lügen über die gute alte Zeit? Wo sind wir nicht bereit, loszulassen und uns auf die Gegenwart und Zukunft einzulassen? Gott nimmt uns die falsche Nostalgie aus den Herzen und die Lügen und die Vorwürfe. Gott beendet die Nostalgie. Die Heimat liegt nicht hinter euch, sondern vor euch. Gott nimmt uns die Angst. Die falsche Nostalgie, und die Lügen und die Vorwürfe kommen doch aus unserer Angst, Angst, dass wir in der Wüste verloren sind und sterben, an Hunger und Durst und Langeweile. Und was hat uns schon alles gebissen und vergiftet auf unserem Lebensweg, und wo haben wir andere gebissen und vergiftet? Die Wunden schmerzen vielleicht immer noch, brennen wie Feuer. Er nimmt uns das Gift aus den Adern, an dem wir kranken und mit dem wir andere infizieren. Er hilft uns aus unseren Krisen. Er heilt durch einen Blick. Denn er nimmt uns die Angst. Auch die Schlangen wirken und beißen und vergiften uns durch unsere Angst, die Angst, dass das Leben für uns zu kurz sein könnte oder zu wenig erfolgreich, dass es andere immer besser haben, dass wir das Beste im Leben verpassen. Er nimmt uns die Angst, denn er schaut uns an. Und wir spüren: er sieht mich. Er sieht mich ganz und gar und liebt mich ganz und gar. Das ist ein langer Weg, für uns und für Gott. Es braucht einen langen Atem. Im Leben, im Glauben, in der Kirche. Wir sind alle gebissen. Aber wir leben. Und wir können heil werden.
Was sehen sie? Was sehen wir? Eine Schlange. Die Schlange, die beißt und tötet. Doch nun soll sie heilen. Wie kann das sein? Wir wissen, nicht erst heute, sondern schon damals: Quantum facit venenum – Die Menge macht das Gift. Und aus Gift kann man Gegengift gewinnen. Doch das gilt noch in ganz anderer Weise. Es ist wie im Spiegel. Die Schlange, das ist ja nicht nur, was uns äußerlich und von außen bedroht. Die Schlange und ihr Gift, das steckt in uns selbst. Und heil werden, oder zumindest auf den Weg der Gesundung zu kommen, das beginnt oft so, dass wir den Mut finden, diese Schlange in uns selbst anschauen. Das ist nicht angenehm. Aber nur so, wenn wir dem Schrecklichen ins Auge sehen, standhalten, die bittere Wahrheit auszusprechen, ja, das bin ich, oder Das bin ich auch - zumindest vor uns selbst, beginnt Heilung. Wir haben gesündigt, jawohl. Rette uns. Und Gott sagt: Schaut die Schlange an. Ohne Angst. Es ist nicht, wie ihr denkt, dass dann alles noch viel schrecklicher wird. Nein, im Gegenteil, so beginnt ihr heil zu werden.
Was sehen sie? Was sehen wir? Leben, wo wir nur den Tod vermuten. Licht, wo wir nur Dunkelheit empfinden. Liebe, wo wir nur Schrecken spüren. Eine Umkehrung, wie sie da geschieht, wo Gott spricht und handelt. Weil Gott Leben aus dem Tod holt, und Licht ins Dunkel, und den Schrecken durch seine Liebe vertreibt. Im Neuen Testament wird diese geistliche Umkehrung auf die Spitze getrieben. Da ist es das Kreuz, das zum Heil wird. Auf das Kreuz schauen in Krisenzeiten, das hat eine lange spirituelle Tradition, etwa im Krankenhaus oder in der Sterbebegleitung. Was sehen wir? Ein Kreuz, ein Folter- und Todesinstrument, einen Menschen, der unter schrecklichen Qualen stirbt. Was sehen wir? Die Herrlichkeit und Gnade und Liebe Gottes. Da verwandelt sich das Kreuz in eine Ikone, und der Blick des Gekreuzigten hält uns fest. Und wir hören die kleinen Dialoge am Kreuz: Vater, vergib ihnen. Heute wirst du mit mir im Paradiese sein. Es ist vollbracht.
Was sehen sie? Was sehen wir? Eine Schlange aus Metall, ein Mensch am Kreuz. Und in all dem begegnet uns Gott und heilt uns und nimmt uns an der Hand. Er liebt uns, und wir erkennen ihn. Amen.
Liedvorschläge:
EG 452 Er weckt mich alle Morgen
EG 548 Kreuz auf das ich schaue
EG 361 Befiehl du deine Wege
EG 170 Bewahre uns Gott
Link zur Online-Bibel
Predigt zu 4. Mose 13 von Margot Runge
Eine pralle Weintraube, da läuft das Wasser im Mund zusammen. Das ist wie ein Traum. Davon erzählt die Bibel.
Er erinnert an die bittere Zeit in Ägypten, jene Zeit voller Tränen und Unterdrückung, als die Israelit_nnen Sklavinnen und Sklaven in Ägypten waren. Sie stöhnten unter der Zwangsarbeit für den Pharao. Gott hörte ihre verzweifelten Klagen. Ich führe euch in die Freiheit, versprach er. Ich bringe euch in ein Land, in dem ihr sicher leben könnt, ein Land, so fruchtbar, daß Milch und Honig darin fließen. Das gelobte Land.
Gott half dem Volk, der Sklaverei zu entrinnen. Mit Mose und Miriam flohen sie vor dem Pharao und zogen trockenen Fußes durchs Schilfmeer.
Die Israelit_nnen waren frei, aber sie hatten noch einen weiten Weg vor sich. Als es nichts zu essen gab, speiste Gott sie mit Wachteln und Manna. Gott ließ Wasser in der Wüste sprudeln. Gott gab ihnen Gebote und Regeln. Doch das Land, von dem sie träumten, lag noch in weiter Ferne. Lange, lange wanderten sie durch die Wüste.
Lesung der Geschichte vom Land der Träume (4. Mose 13)
Endlich kamen sie ganz nah an das Land heran, das Gott ihnen versprochen hatte. Voll Freude hielten sie an, schlugen ihre Zelte auf und schauten sehnsüchtig zu den Bergen hinüber. Hinter diesen Bergen lag das Land Kanaan. Nicht mehr lange, so hofften sie, dann sind wir am Ziel. Dann kommen wir in das Land, „wo Milch und Honig fließt“! ... Ob das Land wirklich so schön war, wie alle sagten? Ob es dort auch genug zu essen gab? Die Israeliten wollten es gerne vorher wissen.
Da rief Mose zwölf Leute zu sich und befahl ihnen: „Geht über die Berge und seht euch heimlich in dem neuen Land um! Schaut euch die Menschen und ihre Städte an! Seht und erkundet, was dort in dem Land wächst! Dann kommt zurück und sagt uns, was ihr gesehen habt!“
Da machten sie sich auf den Weg, zogen über die Berge und blieben lange Zeit weg. Nach vierzig Tagen kehrten sie endlich zurück. Aber wie staunten die Leute, als sie die Heimkehrer sahen! Auf ihren Schultern trugen sie eine Stange, daran hing eine riesige Weintraube. In ihren Händen hielten sie frische Früchte, Granatäpfel und grüne Feigen. „Seht her!“, riefen die zwölf. „So üppige Früchte wachsen in diesem Land. Es ist wirklich ein Land, wo ‚Milch und Honig fließt‘!“ (in Anlehnung an Neukirchener Kinderbibel 86 und Neukirchener Erzählbibel 68 f.)
Ich weiß nicht, wem das Wasser im Mund mehr zusammengelaufen ist, als die Leute mit dieser riesigen Weintraube zurückkamen, den Kindern oder den Erwachsenen. Jedenfalls haben alle glänzende Augen bekommen. Im Grunde waren sie nur ein abgerissener Haufen von Sklavenfamilien, bettelarm, dem Pharao weggelaufen und dem Tode entronnen. Von der langen Wanderung durch die Wüste sahen sie bestimmt ziemlich mitgenommen und staubig aus. Und nun: Weintrauben, Granatäpfel, Feigen. Ein Land, das üppige Früchte hervorbrachte, lag vor ihnen. Es bot genügend Raum zum Leben für alle. Was Gott versprochen hatten, breitete sich überreichlich vor ihnen aus und brachte ihre Gesichter zum Strahlen: Nie mehr Hunger. Kein Pharao. Keine Sklavenarbeit. Freiheit. Genug zu essen in Hülle und Fülle. Ein Traum lag greifbar vor ihnen.
Diese Geschichte ist nicht passiert. Die Menschen haben sie sich trotzdem erzählt und in die Bibel geschrieben. Denn solche Erfahrungen haben sie immer wieder gemacht. Bis heute erleben Völker bittere Not, Unterdrückung und Unfreiheit. Bis heute verlassen Familien ihre Heimat, irren umher wie die Israelit_nnen in der Wüste und suchen Orte, wo sie sich niederlassen können und sicher sind.
Die Bibel will uns erzählen: Genügend Raum zum Leben für alle, ein Land, das üppig Früchte trägt, das bietet die Erde auch heute. Die Erde bringt reichlich hervor, was wir brauchen, nährt Pflanzen, Tiere und Menschen. Es kann es ein gutes Leben für uns geben, für alle Völker. Die Erde soll ein gelobtes Land sein, in dem Milch und Honig fließen und alle ihr Auskommen haben. So will es Gott.
Zum Erntedankfest erinnern wir uns daran. Gott hat uns die Erde anvertraut. Ein Paradies soll sie sein, kein Jammertal. Offene Türen soll dieses Paradies haben, keine Mauern mit Stacheldraht. Flüchtlinge wie die Israelit_nnen damals werden nicht mit Brandbomben beworfen wie Ende August in der Asylbewerberunterkunft. Sondern sie können hereinkommen, sich ausruhen und eine Existenz aufbauen. Keine Angst, es ist wirklich genug für alle da!
Erntedank erinnert uns daran, wie Gott sich die Erde ausgedacht hat und wie schön sie werden kann, wenn wir dabei mit Hand anlegen. Wir können behutsam mit ihr umgehen, sie bewahren, der Gerechtigkeit zum Recht verhelfen. Wir selbst werden schön, unsere Gesichter beginnen zu strahlen, unsere Würde leuchtet auf, wenn wir dabei mitmachen. Wir können das Paradies zum Blühen bringen und miteinander das gute Leben teilen. Die Weinranken an den Pfeilern erinnern uns jeden Sonntag daran.
Doch heute, zum Erntedankfest, sehen wir die Trauben greifbar vor uns. Das Wasser läuft uns im Mund zusammen. Beim Altarumgang freuen wir uns über die vielen Erntegaben für die Sangerhäuser Tafel, und wir spenden für Brot für die Welt. Wenn wir um den Altar ziehen, ist es ein bißchen wie bei den Kundschaftern damals. Wir dürfen ruhig schon mal einen Blick darauf werfen und träumen von diesem gelobten Land.