Besser als Abels Blut – Über die Gnade Gottes. Predigt zu Hebräer 12,12-18.22-25a von Maximilian Heßlein
12,12-18.22-25

Besser als Abels Blut – Über die Gnade Gottes. Predigt zu Hebräer 12,12-18.22-25a von Maximilian Heßlein

Besser als Abels Blut – Über die Gnade Gottes

12 Darum stärkt die müden Hände und die wankenden Knie
13 und macht sichere Schritte mit euren Füßen, damit nicht jemand strauchle wie ein Lahmer, sondern vielmehr gesund werde.
14 Jagt dem Frieden nach mit jedermann und der Heiligung, ohne die niemand den Herrn sehen wird,
15 und seht darauf, dass nicht jemand Gottes Gnade versäume; dass nicht etwa eine bittere Wurzel aufwachse und Unfrieden anrichte und viele durch sie unrein werden;
16 dass nicht jemand sei ein Abtrünniger oder Gottloser wie Esau, der um der einen Speise willen seine Erstgeburt verkaufte.
17 Ihr wisst ja, dass er hernach, als er den Segen ererben wollte, verworfen wurde, denn er fand keinen Raum zur Buße, obwohl er sie mit Tränen suchte.
18 Denn ihr seid nicht gekommen zu dem Berg, den man anrühren konnte und der mit Feuer brannte, und nicht in Dunkelheit und Finsternis und Ungewitter
22 Sondern ihr seid gekommen zu dem Berg Zion und zu der Stadt des lebendigen Gottes, dem himmlischen Jerusalem, und zu den vielen tausend Engeln und zu der Versammlung
23 und Gemeinde der Erstgeborenen, die im Himmel aufgeschrieben sind, und zu Gott, dem Richter über alle, und zu den Geistern der vollendeten Gerechten
24 und zu dem Mittler des neuen Bundes, Jesus, und zu dem Blut der Besprengung, das besser redet als Abels Blut.
25 Seht zu, dass ihr den nicht abweist, der da redet.

 

Liebe Gemeinde,

„dass nicht jemand Gottes Gnade versäume.“

Ziemlich wie vom Donner gerührt, saß ich neulich über diesem Text aus dem Hebräerbrief und ließ die Worte des Apostels in meinen Ohren nachklingen. Stand das wirklich da? Ich wiederhole es noch einmal: Seht darauf, dass nicht jemand Gottes Gnade versäume.

Im Blick auf diesen Gottesdienst, unser Anliegen zwei Kinder zu taufen und uns ganz und gar Gott zu verbinden, regte sich bei mir eine gehörige Portion Widerstand gegen diese Auslegung der Gnade Gottes durch den Apostel.

Und meine erste Reaktion war: „Da irrst Du, lieber Apostel, Gottes Gnade kann niemand versäumen, sonst wäre sie keine Gnade.“ Schließlich verband und verbinde ich mit diesem Wort Gnade eine Zuwendung Gottes zu Ihrem Leben und zu meinem Leben, zu mir ganz persönlich ohne jegliches eigenes Zutun meinerseits. Gott tut das, weil er es will, nicht weil ich irgendwas erbracht oder geleistet habe. Dazu ist Christus in die Welt gekommen.

Oder habe ich da immer etwas falsch verstanden? Geht das etwa doch? Kann es sein, dass diese Gnade Gottes einfach an mir vorbeigeht?

Ehrlich gesagt, hat mich diese Einlassung des Apostels gestört. Sie hat mich sogar genervt, weil ich das Gefühl hatte, da will sich einer über mich erheben, will mir weismachen, dass ich dies und jenes zu tun und zu erbringen habe, damit ich auch wirklich ein Kind Gottes bin. Du hast Aufgaben zu erfüllen. Also mach dich daran, damit du ja nicht aus dem Heilsbereich Gottes herausfällst.

Und dann macht er mir auch noch den Esau als Gottlosen und Abtrünnigen madig, der doch von Jakob so sehr überrumpelt wurde, dass er das, was ihm zustand, nicht erhielt. Dabei ist der doch so sehr ein Sinnbild des Lebens. Bin ich doch selbst immer vielmehr Esau als Jakob, kein Held und Kämpfer, sondern wohl bemüht und sicher auch fleißig, aber doch immer wieder scheiternd und verlierend.

Ja, liebe Gemeinde, ich finde, nicht nur da hat der Hebräerbriefapostel die falsche Seite erwählt. Da fühle ich mich dem Reformator Luther sehr verbunden, wenn der in der Vorrede zum Hebräerbrief 1522 schreibt: „Über das bietet er eine große Schwierigkeit dadurch, daß er im 6. und 10. Kapitel die Buße den Sündern nach der Taufe stracks verneinet und versagt und Kap. 12,17 sagt, Esau habe Buße gesucht und doch nicht gefunden, was wider alle Evangelien und Briefe des Paulus ist.“  Und wahrscheinlich hat Martin Luther trotz aller Wertschätzung das ganz richtig gemacht, dass er diesen Brief möglichst weit nach hinten in der Bibel gestellt hat, dann stolpert man auch nicht so oft über ihn beim Durchblättern.

Außerdem nimmt dieser Halbsatz in gewisser Weise eine Urangst des Glaubens auf. Meines Glaubens jedenfalls. Es könnte unter bestimmten Umständen wohl doch sein, dass ich von Gott fallen gelassen werden und er sich meiner nicht mehr erinnert und auch nicht mehr erbarmt, dass er mich also einfach fallen lässt.

Ja, ich habe mich gefragt, kann das denn so sein? Ich sage Ihnen auch, warum mich das so umtreibt. Wir taufen heute zwei Kinder und ich werde nachher sagen: Gott hat dich zu seinem Kind angenommen. Aber heißt das dann nicht auch: Du bleibst sein Kind; du bleibst es über alle Entscheidungen deines Lebens, über alle Höhen und Tiefen hinweg? Kann es sein, dass unsere Kinder – und dann betrifft es jeden getauften Christen und jede getaufte Christin – kann es sein, dass wir an der Gnade Gottes vorbeigehen können und sie nicht erreichen, obwohl sie uns in der Taufe direkt zugesprochen ist.

Es kam mir beim Nachdenken ein bisschen so vor, als wollte da jemand Herrschaft über mein Leben gewinnen, als habe der relativ spät am Ende des ersten Jahrhunderts nach Christus abgefasste Hebräerbrief schon ein Züchtigungsinstrument für die Gemeinde eingebaut.

Und das ist mir klar, liebe Gemeinde, davon will ich nichts wissen. Wenn mir jemand mit Angst und Druck kommt und bedrängenden Verhaltensregeln, dann geht das an meinem evangelischen Urverständnis des Glaubens absolut vorbei. Es gibt keine Leistung, die ich bringen kann. Gottes Sein bei unseren Kindern, bei Ihnen und bei mir und unsere Wahrnehmung dessen ist allein seine Sache. Niemandes sonst.

Ich mache Ihnen das einmal an einem Beispiel deutlich: Not lehrt beten. Den Ausspruch kennen Sie alle, oder? Ich habe ihn zum ersten Mal bewusst wahrgenommen, als ein damals unglaublich besorgter und im Gesicht zerfurchter und erschütterter Helmut Kohl, Sie erinnern sich über lange Jahre Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland, als der am Abend des Attentats auf Wolfgang Schäuble im Herbst 1990 und in Ungewissheit über die weiteren Gang der Dinge – Schäuble rang damals mit dem Tod – in die Kameras sagte: „… Ich hoffe und vertraue auf die Kunst der Ärzte, aber es ist auch eine Stunde, in der man das Beten lernt.“ Sie merken das, es ist lange präsent geblieben wegen der Intensität, mit der Helmut Kohl das damals gesagt hat.

In den Jahren danach habe ich solche oder ähnliche Sätze immer wieder gehört. Und ich habe sie nie als aufgesetzt oder plakativ empfunden, sondern immer mit einer klaren inneren Haltung und Einstellung dazu.

Nun ist kurz vor dem Jahreswechsel der ehemalige Formel-1-Rennfahrer und -Weltmeister Michael Schumacher beim Skifahren verunglückt. Das haben Sie mit Sicherheit alle gelesen. Dem konnte man ja auch kaum entgehen in der etwas nachrichtenarmen Zeit zwischen den Jahren.

Das überströmende Medienecho auf den Unfall hat auch zu einer großen Welle der Anteilnahme geführt, in der viele mehr oder weniger prominente Menschen unserer Zeit versicherten für Michael Schumacher zu beten. „Not lehrt beten!“

Wissen Sie aber, liebe Gemeinde, an dem Medienballyhoo über diesen Unfall, finde ich, kann man manches auszusetzen haben, und es ist sicher ein Problem unserer Zeit, dass solche Dinge hochgejazzt werden bis an die Grenze des Erträglichen. Aber dass andere Menschen sich bereit finden, in Notzeiten für andere zu beten, und dass sie das auch sagen, das hat mich berührt. Das ist nichts, woran ich mich ärgere und stoße. Ich finde, es gibt keinen falschen Zeitpunkt dafür, wenn Menschen nach einem Gebet ist. Und es gibt auch keine falschen Anlässe, wenn jemand sich über eine Sache mit Gott verbinden will.

Anders sah das Peter Hahne, Fernsehjournalist und lange Zeit an vorderster Front des deutschen Politikjournalismus tätig. Der schrieb in einer deutschen Sonntagszeitung unter dem Titel „Wer sich nur in der Not auf Gott besinnt, degradiert ihn“ einen Text, in dem er die prominenten Notbeter, die ihm sonst nie durch Frömmigkeit aufgefallen waren, ziemlich deutlich als des Betens unkundige abtat. Er äußerte in dem Artikel die Sorge, Gott könne als Ablassautomat oder Erfüllungsgehilfe missbraucht werden. Es bedürfe aber einer Lebenshaltung, in die auch der Dank einfließe.

Ich habe mich darüber ziemlich geärgert, liebe Gemeinde, weil ich auch einem bekannten Fernsehjournalisten nicht das Recht einräume, sich über das Beten und damit auch über den Glauben anderer zu erheben und darüber zu richten.

Natürlich ist es eine andere Sache, auch in guten Zeiten das Gebet zu suchen. Natürlich ist es richtig, sich nicht nur mit den abseitigen Dingen des Lebens zu beschäftigen und die vor Gott zu bringen. Und natürlich muss das Beten auch gelernt und gepflegt sein. Aber, und das ist mir das Entscheidende, und da verbindet sich das auch mit der Gnade, von der ich vorhin sprach, über die Annahme des Gebetes und den Ernst, mit dem es im Moment des Betens verrichtet wird, sagt meine sonstige Lebens- und Glaubenshaltung nichts aus.

Gott hört Sie und mich und hört auch unsere Kinder, wenn wir uns ihm zuwenden. Von seiner Seite aus ist der Kanal, etwas salopp formuliert, offen. Er ist bereit zu hören und sich gnädig unser zu erbarmen. Er ist das immer, und er tut es auch. Wie heißt es doch so treffend und lebensnah bei Paulus: Der Geist hilft unserer Schwachheit auf. Denn wir wissen nicht, was wir beten sollen, wie sich’s gebührt; sondern der Geist selbst vertritt uns mit unaussprechlichem Seufzen. Denn er vertritt die Heiligen, wie es Gott gefällt. Johann Sebastian Bach hat daraus übrigens eine wunderbare Motette gemacht.

Und mit dem Geist kommen wir, glaube ich, dann doch auf die richtige Fährte. Was wir nämlich tun können, ist eine ganz andere Sache, und das lerne ich auch gerade aus dem Hebräerbrief. Wir können uns und andere bereit machen, das Erbarmen und die Gnade Gottes zu erkennen.

Woran ich das erkannt habe? Ich habe mal in den Originaltext des Apostelschreibens geschaut und habe da eine Formulierung gefunden, die tatsächlich viel eher dem entspricht, was ich als die Quelle unseres Lebens vor Gott erkenne und entdecke.

In der griechischen Fassung heißt das Versäumen der Gnade, wie es bei Luther steht, viel deutlicher einen Mangel daran leiden oder Not haben. Und das, Ihr Lieben, das ist dann doch etwas ganz anderes. Denn wer die Gnade nicht erfährt, der leidet wirklich Not.

Es ist mein persönliches Ergehen, dass der Apostel da in den Blick nimmt. Es ist das Ergehen der Kinder, Ihres und meines. Und es soll doch keiner sagen, dass wir nicht manchmal in diesem Leben stehen und merken: Hier liegt kein Segen darüber. Da ist kein Gott und auch keine Gnade. Da ist nichts mehr, was mich hält. Ich bin wirklich herausgefallen aus dem Paradies. Ja, das kommt vor. Ich vermute, Sie kennen das alle miteinander, und unsere Kinder werden es noch kennenlernen.

Dann aber hebt er an: „Ihr seid gekommen zu Jesus, dem Mittler des neuen Bundes“, spricht der Apostel. Sein Blut steht über dem Fall der Menschen und dreht die Bewegung gerade herum. „Es redet besser als Abels Blut“, heißt es im Brief. Abels Blut aber schreit von der Erde hinauf zu Gott. Genau diese Bewegung von der Erde zum Himmel aber wird durch Christus abgelöst, indem sich der Höchste tief hinunter auf die Erde neigt. So ist Gott in meiner direkten Nähe. Und wenn etwas so in meine Nähe kommt, dann umschließt es mich ganz und gar, und ich bin sein. Dieser neue Bund ist geschlossen durch Gott selbst, und der wird nicht hinfallen. In seinem Menschsein wendet er sich unserem Leben zu.

Die Erkenntnis, die ich gewonnen habe, heißt also: Ich stehe wohl in der Gnade und bin also von Gott bewahrt und geschützt für mein Leben, genauso wie Sie auch. Aber es kann Zeiten und Stunden geben, da glaube ich das nicht, da bin ich nicht sicher darüber, da zweifle und hadere ich mit meinem Gott, da leide ich Mangel an Gnade. Da bin ich vom Donner gerührt. Da ist große Not. Aber Gottes Leben für mich ist doch da.

Dann aber brauche ich die Menschen, die für mich an und in der Gnade festhalten und mich stützen, die also Glaubenswächter und Glaubenshüter, damit im besten Sinne des Wortes Lebensbewahrer sind. Die führen mich in die Richtung des himmlischen Jerusalem schon hier auf Erden.

Das aber gilt nun gerade auch für unsere Taufkinder. Es ist unsere Verantwortung, liebe Gemeinde, meine, aber auch Ihre, dass die Kinder Erfahrungen mit der Gnade und dem Leben Gottes machen. Auch schon heute und nicht erst am Ende aller Tage, dass wir an ihr keinen Mangel leiden, sondern die Liebe und Sorge unseres Gottes verstehen und wahrnehmen.

Dazu hat uns Christus bereitet. Amen.