Was für ein Konzert! Alles dröhnt um mich herum. Und ich sehe vor mir, wie die stuckverzierten Mauern der Kirche Risse bekommen, wie sie zerbröckeln und den Blick auf uralte Mauern freigeben. Mauern mit großen Toren, erhaben, prächtig. Und alles klingt um mich herum. Die zwei Orchester, drei Chöre, fünf Solisten, Posaunen und Pauken, Orgel und Tubaphon, Gong und Glocken. Und ringsum wachsen aus den Mauern des Hamburger Michel die sieben Tore Jerusalems. Und der das alles zaubert, ist der kleine Mann dort in der Mitte, mit Brille, mit weißem Haarkranz und Bart, der so intensiv dirigiert und wie ein kleiner Herrgott aus der Musik Bilder schafft. Ja, Krzysztof Penderecki persönlich dirigiert seine 7. Symphonie „Seven gates of Jerusalem“ und ich bin dabei. Leibhaftig erlebe ich die Musik. Und ich höre und sehe die Mauern und Tore von Jerusalem.
Das ist das eine Jerusalem: Die goldene Friedensstadt, die heilige Stadt dreier Religionen, die mich überwältigt, die mich fasziniert. Das Jerusalem, von dem die Propheten schwärmen und das die Bibel in den buntesten Farben ausmalt. Das Jerusalem, in das Jesus mit seinen Jüngern einzog und über dessen Kopfsteinpflaster ich selbst so gerne einmal laufen würde, um etwas von dem Glanz dieser Stadt zu spüren. Nach diesem goldenen Jerusalem sehne ich mich.
Aber es gibt noch ein zweites Jerusalem, das der Grund dafür ist, warum ich bis heute eben nicht über das Kopfsteinpflaster dort gelaufen bin. Das zweite Jerusalem ist nicht golden, sondern maschinengewehrgrau. Seit ich denken kann, kenne ich Israel und Jerusalem nur als Ort des Streits und vor allem der Gewalt. Seit Jahrzehnten kämpfen Israelis und Palästinenser gegeneinander, kämpfen um Gebiete und Anerkennung. Seit Jahrzehnten suchen Vermittler nach Kompromissen, aber es scheint – gerade auch was Jerusalem betrifft – in diesem Konflikt keinen Kompromiss zu geben, den alle Seiten akzeptieren können. Ich kenne keine andere Stadt, die seit Jahrzehnten so sehr im Unfrieden lebt und bei der ich auch in den nächsten Jahrzehnten keinen Frieden sehe. Jerusalem, die Unfriedensstadt im Maschinengewehrgrau. Das ist die Stadt, vor der ich Angst habe.
Jesaja erzählt vom goldenen Jerusalem, lebt aber in der grauen Stadt. Im Krieg war sie zerstört worden. Die Einwohner vertrieben, verschleppt. Wertvolles noch schnell in die Kleider eingenäht oder vergraben, falls man wiederkommt. Aber es kam keiner wieder. In der Fremde, wo man nur kurz bleiben wollte, wo man in Blicken der Einheimischen den Argwohn sah, da hielten einige die Erinnerung an die alte Heimat hoch: Eines Tages werden wir zurückkehren! Es wird sein wie früher, sogar noch schöner! Goldene Zeiten am fernen Horizont. Die meisten glaubten es nicht. Und doch wurde davon ein Stück wahr. Die Israeliten konnten tatsächlich heimkehren, in ihre Heimat, in ihre geliebte Stadt, beziehungsweise das, was noch von ihr übrig war. Eine Geisterstadt. Ruinen statt Häuser, Staub statt Glanz. Und wieder ist da einer, der tröstet. Jesaja nennt er sich. Wie schon einige zuvor. Er tröstet, er phantasiert und er macht klare Ansagen: „Jerusalem wird Gottes Lobpreis auf Erden sein. Was wir säen, werden wir ernten. Was wir keltern, werden wir trinken. Alle werden satt. Kein Neid, kein Streit. Goldene Zeiten. Also macht eine Bahn, räumt die Steine weg. Ihr Trümmerfrauen Jerusalems, packt an! Am Ende werdet ihr singen!“
Ich sehe ihn vor mir, diesen Jesaja, der das alles zaubert, der kleine Mann dort auf der Ruine der Stadtmauer, mit weißem Haarkranz und Bart, der so intensiv predigt und wie ein kleiner Herrgott aus der Worten Bilder schafft, die trösten und Kraft geben.
Auf der Stadtmauer standen früher die Stadtwächter. Zwei Aufgaben hat der Wächter. Zunächst hält er Ausschau nach draußen. Schaut, was sich der Stadt naht, sei es an Feinden, die mit Streit anrücken, sei es an Freunden, die mit Geschenken kommen. Und dann ruft er nach innen, in die Stadt hinein. Er ruft ihren Bewohnern und dem König zu, was er gesehen hat: „Rüstet Euch für den Ansturm! Bereitet Euch für den Besuch!“ Nach außen schauen, nach innen rufen. Jesaja reicht das aber nicht. Die Wächter sollen noch ein drittes tun: Nach oben beten: „O Jerusalem, ich habe Wächter über deine Mauern bestellt, die den ganzen Tag und die ganze Nacht nicht mehr schweigen sollen. Die ihr den Herrn erinnern sollt, ohne euch Ruhe zu gönnen, lasst ihm keine Ruhe, bis er Jerusalem wieder aufrichte.“
Nach außen schauen, nach innen rufen, nach oben beten; und so Gott an seine eigenen Worte, an seine Versprechen zu erinnern, ihn zu nerven und ihm solange auf den Heiligen Geist zu gehen, bis er endlich etwas tut.
Unsere heutigen Städte haben keine Stadtmauern mehr. Unsere Gesellschaft braucht keine Mauern mehr. Aber wir brauchen immer noch die Wächter. Heute nennen wir sie Journalisten, kritische Geister, Nicht-Regierungs-Organisationen. Wächter und Wächterinnen, die nach außen schauen, was unserer Gesellschaft droht, aber auch was an Gutem auf sie zukommt. Und die nach innen rufen. Sie rufen den Bewohnern, den Kanzlerinnen und Vorstandsvorsitzenden zu, was sie sehen: „Rüstet Euch für den Ansturm! Bereitet Euch für den Besuch!“ Früher sprach man davon, dass auch die Kirchen ein Wächteramt haben, um genau das zu tun: Um zu schauen, zu rufen und vor allem, zu beten.
Manfred Rekowski hat es getan. Er ist der Präses der Evangelischen Kirche im Rheinland und bei der Evangelischen Kirche in Deutschland für das Thema „Migration und Integration“ zuständig. Er ist vor zwei Wochen nach Malta gereist. Um zu schauen. Sich selbst ein Bild zu machen, von der Arbeit der Organisation Seawatch, von den voll besetzten Hilfsschiffen, die nicht auslaufen dürfen. Von dem kleinen Flugzeug Moonbird, das den maltesischen Flugraum nicht mehr verlassen darf. Er schaut und er ruft. Er ruft in Videotagebüchern den Menschen in Deutschland zu, was mit den Flüchtlingen im Mittelmeer passiert. Er gibt Interviews im Fernsehen und in zahlreichen Zeitungen. Und er sagt: So kann es nicht weitergehen. Er schaut und er ruft und er betet. Mit den Helfern und den Helferinnen, für die 24 unbekannten Ertrunkenen, die auf dem Friedhof beigesetzt wurden. Er betet auf dem Friedhof, auf dem Schiff und lässt Gott keine Ruhe.
Im Video sehe ich ihn vor mir, diesen Mann, wie er auf dem Schiffsdeck steht, mit Brille, grauem Haarkranz und Bart, der so intensiv redet und wie ein kleiner Herrgott Worte schafft, die Eindruck machen, die bleiben. Ich wünsche unserer Gesellschaft mehr solche Wächter wie Manfred Rekowski.
Die noch vollständig erhaltene Jerusalemer Altstadtmauer hat eine Länge von 4018 Meter, enthält 34 Wachttürme und sieben prachtvolle historische Tore. Im Norden sind dies das Damaskustor und das Herodestor, im Westen das Jaffator, im Süden das Dungtor und das Zionstor, sowie im Osten das Löwentor und das Goldene Tor. Dieses siebte Tor, das Goldene Tor, das als einziges auf den Tempelberg führt, ist seit vielen Jahrhunderten zugemauert. Nach jüdischer Überlieferung ist durch dieses Tor Gottes Herrlichkeit und Pracht in den Tempel eingezogen, daher der Name „Goldenes Tor“. Nach christlicher Überlieferung ist Christus durch dieses Tor am Palmsonntag in die Stadt eingezogen. Der Legende nach wird es sich am Ende der Zeiten auf wundersame Weise von selbst öffnen, wenn der Friedenskönig kommt.
Seven gates of Jerusalem. Und alles klingt um mich herum. Der letzte, der siebte Satz der siebten Symphonie. Noch einmal alles.
Die zwei Orchester, drei Chöre, fünf Solisten: Magnus Dominus,
Ihr Trümmerfrauen in Syrien: Fasst Mut und packt an!
Posaunen und Pauken: et laudabilis nimis
Ihr Wächter auf dem Leuchtturm von Lampedusa: Haltet Ausschau!
Orgel und Tubaphon: in civitate Dei nostri
Ihr Journalistinnen vor den Palästen und Ministerien: Ruft uns zu, schafft Bilder!
Gong und Glocken: in monte sancte eius
Ihr Menschen überall: Entzündet Kerzen!
Ein großer Herrgott: …ipse reget nos in saecula.
Schaut, ruft, betet!
Und das goldene Tor öffnet sich.
Amen.
Liedvorschläge
EG 147,1.3 Wachet auf
EG 150,1.3.6-7 Jerusalem, du hochgebaute Stadt
freiTöne 139,1.2.3.5 When you will / Wenn du willst
freiTöne 169 We shall overcome